Über unterschiedliche Statistiken zu Todesopfern von Neonazis

Schuld war nur der Alkohol

Wenn es um die Zahl der von Neonazis getöteten Personen geht, unterscheiden sich die staatlichen Statistiken erheblich von nichtstaatlichen. Etliche Landesregierungen weigern sich, strittige Todesfälle erneut zu untersuchen.

Vier oder neun Todesopfer – der Unterschied ist für die Bewertung neonazistischer und rassistischer Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern seit der Wiedervereinigung durchaus bedeutsam. Dennoch lehnte die Mehrheit aus SPD und CDU vor zwei Wochen einen gemeinsamen Antrag der Grünen und der Linkspartei im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern ab. Ob ein Arbeits­loser, zwei Obdachlose, ein vermeintlicher Sexualstraftäter und ein Asylbewerber in der Zeit zwischen 1996 und 2001 aus rechtsextremen Motiven ermordet wurden, soll nicht neu untersucht werden.

Nach Recherchen des Tagesspiegel und der Zeit kamen in der Bundesrepublik zwischen 1990 und 2013 mindestens 152 Menschen durch rechtsmotivierte Gewalt zu Tode. In der Statistik der Bundesregierung über Todesopfer rechter Gewalt tauchen bisher aber nur 63 Fälle auf. Aus diesem Grund gab es in einigen Bundesländern in den vergangenen Monaten Anträge, die strittigen Fälle einer erneuten Prüfung zu unterziehen.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, Heinz Müller, argumentierte in einer Parlamentsdebatte zum Thema, dass ein Neonazi, der beispielsweise einen Asylbewerber oder Obdachlosen töte, dies nicht zwingend wegen seiner Gesinnung tue. Müller sagte: »Auch ein Rechtsextremist kann aus Habgier morden oder aus an­deren niederen Beweggründen einen Menschen töten.« Der Generalstaatsanwalt des Bundeslands, Helmut Trost, verschärfte den Ton noch, indem er im Innenausschuss ergänzte, dass die Recherchen des Tagesspiegel und der Zeit »größtenteils einseitig, tendenziell gefärbt und lückenhaft« seien.
Für Tim Bleis von Lobbi e. V., der Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern, ist klar, warum der Antrag auf eine erneute Untersuchung der strittigen Fälle abgelehnt wurde. Im Gespräch mit der Jungle World sagt er, dass eine mögliche Neubewertung von Todesfällen ein Eingeständnis der Strafverfolgungsbehörden wäre, Fehler begangen zu haben. Nachfragen des Abgeordneten Peter Ritter (»Die Linke«) im Innenausschuss des Bundeslands, wer an welcher Stelle der Ermittlungskette anhand welcher Kriterien prüfe, ob eine Straftat als rechtsextrem einzuordnen sei, wurden nach Ansicht der Oppositionsparteien nicht zufriedenstellend beantwortet. Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier (CDU) beruft sich auf die rechtskräftigen Gerichtsurteile. Bei den Mordfällen stellten Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte nach Aussage des Innenministers keine rassistischen oder neonazistischen Motive als ausschlaggebend für die Taten fest. Bleis hält dieser Argumentation des Innenministers entgegen: »Wenn man bei einem Ermittlungsverfahren und einer Gerichtsverhandlung nicht untersucht, ob eine rechte Tatmotivation für einen Mord vorliegen könnte, dann stellt man diese natürlich auch nicht fest.«

Dem kann sich Christoph Kopke, Politologe am Moses-Mendelssohn-Zentrum (MMZ) der Universität Potsdam, nur anschließen. Das Institut wurde vom Brandenburger Innenministerium als unabhängige wissenschaftliche Einrichtung damit beauftragt, mehr als 30 Todesfälle aus den vergangenen 23 Jahren in Brandenburg auf eine mögliche rechtsextreme Tatmotivation zu untersuchen. Bei der Bewertung solcher Fälle nur auf die Erkenntnisse staatlicher Ermittlungsbehörden zu vertrauen, ist Kopkes Ansicht nach »eine sehr kurzsichtige Vorgehensweise«. Vor der Einführung des Erfassungskriteriums der »politisch motivierten Kriminalität« (PMK) im Jahr 2001 wurde Gewalt von Ermittlungsbehörden und Gerichten in der Regel nur dann als politisch eingestuft, wenn sie sich gegen den Staat richtete. Oft wurden rechtsextreme Gesinnungen oder Motive in Prozessen zwar zur Kenntnis genommen, aber im späteren Urteil nicht als tragend bewertet. Die Sicherheitsbehörden mussten Kopke zufolge in den neunziger Jahren erst lernen, mit der neuen Erscheinung von hemmungsloser neonazistischer und rassistischer Gewalt umzugehen. Auch das neue Erfassungskriterium PMK musste sich erst in der Praxis bewähren und müsse noch weiter geschärft werden. Um die Todesfälle tatsächlich objektiv bewerten zu können, sollten neben sämtlichen Unterlagen der Ermittlungs- und Strafverfahren auch die da­maligen Mediendarstellungen und Angaben von ortsansässigen Orga­nisationen und Initiativen einbezogen werden, die die Taten und deren Aufarbeitung zum Teil sehr detailliert dokumen­­tiert haben. Das MMZ will Mitte 2015 seine Forschungsergebnisse präsentieren. Sollten politische Motive für Tötungsdelikte deutlich werden, dann rechnet Kopke damit, dass die Taten durch das brandenburgische Innenministerium rückwirkend neu bewertet und statistisch anders erfasst werden.
Das Land Brandenburg steht mit dieser Aufarbeitung der strittigen Todesfälle in der Bundesrepublik derzeit allein da. In Sachsen und Sachsen-Anhalt wurden nach dem Bekanntwerden des NSU-Netzwerks zumindest einzelne Todesopfer rückwirkend staatlich anerkannt und in die Statistiken aufgenommen. Eine umfassende Untersuchung durch vom Staat unabhängige Fachleute blieb aber aus. Der überwiegende Teil der Innenministerien der Bundesländer beruft sich wie in Mecklenburg-Vorpommern auf die Urteile der abgeschlossenen Gerichtsverfahren und schließt eine rechtsextreme Motivation aus, wenn eine solche im Urteil nicht erwähnt wurde. Es bleibt bei wohlklingenden Absichtserklärungen von SPD und CDU, angesichts des NSU-Terrors alle strittigen Fälle einer erneuten Prüfung zu unterziehen.

Thüringens Innenminister Jörg Geibert (CDU) beruft sich in der Antwort auf Anfragen der Fraktion der Linkspartei im Landtag darauf, dass bei einzelnen strittigen Fällen tödlicher rassistischer und neonazistischer Gewalt die Gesinnung der Täter »wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle« gespielt habe und häufig der Alkoholkonsum der Täter ausschlaggebend für die Taten gewesen sei. Ähnlich lesen sich die Antworten des Berliner Innensenators Frank Henkel (CDU) auf entsprechende Anfragen. Helga Seyb von der Opferberatung Reach­ Out Berlin kommt deshalb zu dem Schluss, dass von einem ehrlichen Interesse, die strittigen Fälle neu zu überprüfen, keine Rede sein könne.
Tim Bleis betont, dass es bei der rückwirkenden staatlichen Anerkennung in Frage kommender Tötungsdelikte nicht in erster Linie darum gehe, staatliches Fehlverhalten aufzudecken. »Für das erweiterte soziale Umfeld der Betroffenen ist es in der Bewältigung des Verlustes sehr wichtig, die Gewissheit zu haben, dass ihre Freunde und Angehörigen keine Schuld an ihrem Tod haben«, sagt er. Die Aufnahme der Todes­opfer in die offiziellen staatlichen Statistiken wäre aus Sicht der Beratungsstellen für Betroffene rechtsextremer Gewalt dabei in vielen Fällen eine enorme Unterstützung.