Die brasilianische Regierung verspricht der Protestbewegung nichts Neues

Warten auf einen Dialog

Die Proteste in Brasilien gehen weiter. Bisher weicht die Regierung unbequemen Forderungen aus und versucht, mit eigenen Vorschlägen Zustimmung zu gewinnen.

Ein Sturm zieht sich über Rio de Janeiros Stadtstrand Leblon zusammen. Es ist später Abend. Surfer überqueren barfuß die mehrspurige Straße hinter der Promenade, um schnell nach Hause zu kommen. Einige Straßenhändler erreichen gerade noch einen Bus, der nun Kurs auf die flimmernden Lichter der Favela Vidigal nimmt. Denn hier in Leblon, wo der Quadratmeter im vergangenen Jahr mit 7 500 Euro gehandelt wurde, wohnt niemand von denen, die mit dem Verkauf von gekühltem Matetee oder Badetüchern ihren Lebensunterhalt verdienen. Vor knapp zwei Wochen allerdings enterte ein Dutzend atypischer Gäste diese Bastion des Jetset: Schiffskellner, Lehrerinnen aus den Vororten, Portiers und Kulturprekäre. Gemeinsam organisieren sie vor dem Haus des konservativen Gouverneurs von Rio de Janeiro, Sérgio Cabral Filho, das wohl pittoreskeste Protestcamp des »brasilianischen Frühlings«.
»Gemütlich ging es hier in den vergangenen Tagen keineswegs zu«, erzählt der Geschichtsstudent Bruno, der im Nieselregen gerade eine schwarze Plastikplane aufspannt. »Zuerst tauchte eine Nazi-Motorradgang mit Totenkopfmasken auf, einen Tag später Spezialeinheiten der Polizei, dann mischten sich Saboteure und Spalter unter die Gruppe, die vor der Presse verkündeten, der Gouverneur habe sich angeblich mit uns geeinigt, um der Militärpolizei die Räumung zu erleichtern. Wir haben inzwischen dementiert.« Viele andere Treffen zwischen Vertretern sozialer Bewegungen und der Regierung fanden in der vergangenen Woche tatsächlich statt. Vor allem Präsidentin Dilma Rousseff ließ keine Gelegenheit aus, zu zeigen, wie ernst sie ihre »Pflicht, die Stimmen der Straße zu hören und mit allen gesellschaftlichen Sektoren in Dialog zu treten«, nehme. Doch geladene Oppositionspolitiker und Vertreterinnen und Vertreter der Bewegung für einen kostenlosen Fahrschein (MPL) empfanden sich bei den Treffen gleichermaßen als »Statisten« für ein Gruppenfoto. Der MPL kritisierte Rousseff anschließend vor der Presse »nicht vorbereitet gewesen« zu sein. Sie habe keinen einzigen konkreten Lösungsvorschlag gemacht, um den prekären Zustand des Nahverkehrssystems im Land zu verbessern.
»Die Präsidentin hat auf die Agenda der Straße mit einem Parteiprogramm geantwortet, eigene Initiativen formuliert und zugleich zentrale Forderungen der Demonstrierenden relativiert«, sagt der Sozialwissenschaftler Pablo Ortellado von der Universität São Paulo. »Freifahrten soll es nur für Schüler und Studierende geben. Forderungen nach der Abschaffung der Militärpolizei, wie sie nach den repressiven Einsätzen gegen Demonstrierende aufkamen, oder die Bildung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu Amtsmissbrauch und Veruntreuung öffentlicher Gelder für die sportlichen Mega­events blieben unbeantwortet.«

Die von der Regierung als »Fünf Pakte« beworbenen Reformen setzen die von der Arbeiterpartei (PT) begründete Tradition einer Umverteilung von oben fort, die es allen recht machen will: mehr Geld, Personal und Steuervergünstigungen, um die »urbane Mobilität«, das Gesundheits- und Bildungswesen zu stärken. Darüber hinaus wird versucht, mit dem Schlagwort »fiskale Verantwortung« die von der politischen Rechten instrumentalisierte Kritik an der steigenden Inflation zu besänftigen. Vorgesehen sind außerdem ein Referendum über eine Reform des Wahlgesetzes und eine härtere Bekämpfung politischer Korruption.
Opposition und konservative Presse geißelten das Referendum als antidemokratisches Projekt und warnten vor einer »Venezualisierung« Brasiliens. Seit Umfragen eine Zustimmung von knapp 70 Prozent zu dem Referendum prognostizieren, halten sie sich mit derlei Aussagen allerdings zurück. Ungebrochen wird dafür ständig neue Kritik an dem Fünferpakt laut. Nicht fehlende, sondern aus bürokratischen Gründen ungenutzte 2,5 Milliarden Euro verzögerten den Ausbau im Transportwesen, heißt es nun etwa. Ähnliches könnte mit den angekündigten Ausgaben von weiteren 17 Milliarden geschehen. Auch der Plan, 75 Prozent der Royalties (Lizenzgebühren) aus der Erdölförderung für Bildungszwecke zu verwenden, hört sich zunächst gut an, dennoch bestehen Zweifel, ob damit tatsächlich eine Verdopplung des bisherigen Etats erreicht wird.
Dass die Präsidentin mit politischen Schnellschüssen ihre Umfragewerte wieder verbessern kann, hält Ortellado für unwahrscheinlich. Organisationen wie der MPL seien nicht an raschen Kompromissen interessiert. »Es ist das erste Mal, dass Tarifsenkungen direkt auf der Straße erkämpft wurden. Der MPL hat eine politische Kerbe geschlagen und will diese nun weiter vertiefen«, meint er und fügt hinzu: »Auf der Straße artikulieren sich abseits dieser spezifischen Debatten auch Forderungen, die nur schwer in konkrete politische Ziele zu übersetzen sind. Das allgemeine Narrativ der Proteste ist hart umkämpft, links wie rechts.«

Die institutionelle Linke tut sich schwer, die Diskurshoheit zurückzugewinnen. Die der PT nahestehende nationale Studierendenvereinigung UNE musste am Dienstag vorvergangener Woche auf einem universitären Forum in Rio froh sein, überhaupt als Redner zugelassen zu werden. »Die Rote Welle«, mit der regierungstreue Gewerkschaften und Parteigänger längst »die Straße zurückerobern« wollten, wurde auf Mitte Juli vertagt. Und in den Ministerien, deren Zahl beim Versuch, die Interessen aller Koalitionspartner zu befriedigen, auf 39 angewachsen ist, fehlt es an zündenden Ideen.
Die Aktionen auf der Straße gehen daher weiter. Täglich informieren Live-Ticker in Nachrichtenportalen und Medienaktivisten in sozialen Netzwerken über Proteste. Jedes Spiel des Confederations Cup war Anlass für eine Demonstration (siehe Dschungel-Seiten 16/17). Zugenommen haben auch Straßenblockaden in den Vororten und Kleinstädten, mit denen Anwohnerinnen und Anwohner ärmerer Viertel auf lokale Missstände aufmerksam machen.
»Dieselbe Polizei, die mit Gummigeschossen auf Protestierende schießt, tötet in den Favelas« – solche und ähnliche Transparente sind vermehrt auf Demonstrationen zu sehen, seit am Dienstag der vergangenen Woche bei einer Vergeltungsaktion der Spezialeinheit BOPE zehn Bewohner des Stadtviertels Maré in Rio de Janeiro ums Leben kamen. Bereits vorher hatten Anwohner der Favelas Rocinha und Vidigal einen Protestzug organisiert. Neben einem Ende der Polizeigewalt forderten sie auch den Stopp umstrittener Infrastrukturprojekte. »Wir brauchen und wollen keine Seilbahn in Rocinha«, sagte Ocimar Santos, einer der Organisatoren. »Öffentliche Mittel sind willkommen, aber wir wollen selbst entscheiden, was damit geschieht.«
Doch den Empörten so viel Mitspracherecht zuzugestehen, geht der Regierung zu weit. »Mehr direkte Demokratie ist ein Querschnittsthema, egal ob es um eine gerechtere Stadtentwicklung oder eine partizipative Nutzung der Radio- und TV-Frequenzen geht«, meint Ortellado. »Und dennoch bleiben diese brisanten Forderungen bisher ungehört.«
An der Strandpromenade in Leblon hängen nach dem starken Regenguss einige der politischen Camper eine Brasilien-Flagge zum Trocknen auf. »Man muss eben Geduld haben mit der Bewegung«, scherzt Bruno. Und das ausstehende Gespräche mit Gouverneur Cabral? »Nun, wir haben seinen Unterhändlern klargemacht, dass Punkt eins auf unserer Verhandlungsagenda die Forderungen der Favelas sind. Denn die warten seit mehr als sieben Jahrzehnten auf Antworten und nicht wie wir erst seit sieben Tagen«, sagt Bruno. »Doch bisher hat er nicht zurückgerufen.«