Die internationale Bedeutung der Entwicklung in Ägypten

Zu spät für den Frühling

Die Niederlage der Muslimbrüder in Ägypten zeigt, dass durch Wahlen gegen den Willen eines bedeutenden Teils der Bevölkerung kein islamischer Staat errichtet werden kann. Über die Situation in Ägypten und ihre geopolitische Bedeutung für die Konflikte im Nahen Osten.

Das Ende war dem Vernehmen nach so trostlos wie unheroisch. Die Wachen des ägyptischen Präsident Mohammed Mursi gingen vergangene Woche einfach nach Hause, kurz bevor die Soldaten vorfuhren, um ihn zu verhaften. Das eigentlich Überraschende an Mursis Abgang war die Ideen- und Tatenlosigkeit, mit der sich der angeblich so mächtige Apparat der Muslimbruderschaft in den entscheidenden Tagen in das Schicksal seines Präsidenten fügte. Den unzähligen Demonstrationen für seine Absetzung, hatten sie nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen, als selbst die Polizei sich weigerte, ihre Parteizentralen zu schützen. Nicht nur der Moloch des ägyptischen Staates steht kurz vor dem Kollaps, auch die seit über 80 Jahren von Mythen umwitterte Muslimbruderschaft wirkt nur noch gebrechlich. Seit Mursis Amtsantritt im vergangenen Jahr hatte sie getan, was jeder in der Region traditionell von korrupten und unfähigen politischen Eliten erwartet: Posten an Anhänger zu verteilen und alle anderen politischen Kräfte zu marginalisieren.
Die verspätete Mobilisierung ihrer Getreuen beweist nur das hilflose Zurückbleiben der Muslimbrüder hinter den Ereignissen. Die Absetzung Mursis ist sicher nicht, wie eilfertig kolportiert, das Ende des politischen Islamismus, weist aber doch auf die Grenzen eines politischen Lagers hin, aus dem sich in Zukunft möglicherweise mit viel Glück einmal konservative Parteien entwickeln könnten. Nun aber werden mit Sicherheit erst einmal viele den destruktiven Weg zurück zu sinnlosem Terror und Bandenbildung einschlagen.

Die Hoffnung jedenfalls, daß sich mit Hilfe »moderat« gewendeter islamistischer Parteien komplexe moderne Staaten dauerhaft regieren lassen, ist zerschlagen. Sie basierte zuletzt auf der Annahme, mit Hilfe von Wahlen, aber gegen den Willen eines bedeutenden Teiles der Bevölkerung könne man einen islamischen Staat errichten. Die Ägypter, jedenfalls die für den Staats- und Wirtschaftsbetrieb entscheidenden städtisch geprägten Schichten, haben mit überwältigender Mehrheit deutlich gemacht, dass sie keineswegs gewillt sind, den absehbaren Wandel dieses vermeintlich modernisierten und weichgespülten Islamismus zu einem neuen Autokratismus islamischer Prägung mitzutragen.
Was nun auf dem Tahrir-Platz freudig gefeiert wurde, ist eine herbe Niederlage für diejenigen, die auf angeblich eingeborene Kultur, den Islam und damit die mentale Beschränktheit der ägyptischen Bevölkerung gesetzt haben. Dem deutschen Außenminister Guido Westerwelle fielen in seinem Entsetzen sogar einmal nicht nur die inhaltsleeren Worte ein, die er sonst unaufhaltsam äußert, sondern auch eine klare Aussage: »Das ist ein schwerer Rückschlag für die Demokratie in Ägypten.« Er forderte, »dass Ägypten schnellstmöglich zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückkehrt«. Sätze, die mit der Realität so viel zu tun haben wie Westerwelle mit Außenpolitik, denn weder gibt es in Ägypten eine funktionierende Demokratie noch eine Verfassung, die diesen Namen verdiente, und allen Hoffnungen auf einen »demokratischen Übergang« stand ja nicht zuletzt der Muslimbruder Mursi entgegen. Westerwelle war mit seiner Enttäuschung und der Verurteilung der Vorgänge in Ägypten keineswegs allein, ähnlich äußerten sich ein paar Taliban, die islamistische al-Nahda-Partei in Tunesien und vor allem die türkische AKP, für die die Niederlage der Muslimbrüder nicht zuletzt eine unangenehme Erinnerung ist, dass auch in der Türkei eine virulente Protestbewegung und das Militär einer weiteren forcierten Islamisierung entgegenstehen. Die US-amerikanische Regierung schwieg dagegen lieber erst einmal tagelang und gab dann eine nichtssagende Stellungnahme ab.

Das Scheitern des Muslimbruders Mursi stellt einen weiteren Rückschlag für Obamas ohnehin desolate Nahost-Politik dar. Die USA haben pragmatisch Mursi gestützt, solange er eben da war. Eine Idee, was man mit diesem Ägypten anfangen oder wie eine kohärente Nahost-Strategie aussehen könnte, hat die Obama-Regierung nicht. Wenn die Außenpolitik einer Weltmacht an diesem Punkt angelangt ist, wird es gefährlich, denn dann eröffnen sich Möglichkeiten für überambitionierte Regionalmächte.
Wenig überraschend erwiesen sich daher die Regierungen Saudi-Arabiens und der arabischen Emirate als begeisterte Unterstützer der Entfernung Mursis durch das ägyptische Militär. Ihre Glückwünsche kamen als erste in Kairo an. Und dass nun auch die ägyptischen Salafisten von der al-Nour-Partei auf der Seite der neuen Regierung zu stehen scheinen, ist nur folgerichtig.
Die Niederlage der Muslimbrüder ist von regionaler Bedeutung, denn mit ihrem Modell des politischen Islam sind diese die verhassten Konkurrenten der wahhabitischen Potentaten am Golf und eine unmittelbare Bedrohung für deren Herrschaftskonzept. Unterstützt von Katar und vom Sender al-Jazeera, waren die Muslimbrüder bisher ein Gegner der Saudis im eigenen sunnitischen Lager, ob in Form der Hamas, mit ihrem Einfluss in der syrischen Opposition oder eben mit dem Versuch der Machtergreifung in Ägypten. Die Ereignisse in Ägypten hatten Vorboten sowie unmittelbare Folgen: In den Emiraten sind gerade Mitglieder der lokalen Muslimbruderschaft zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden, während in Katar der Emir abdankte, auch sein Ministerpräsident, von dem die katarischen regionalen Machtambitionen der vergangenen Jahre maßgeblich ausgegangen waren, musste gehen. Der wacklige Zusammenschluss der syrischen Opposition (SNC) wählte nun plötzlich einen den Saudis nahestehenden Vorsitzenden, noch im Mai hatten die syrischen Muslimbrüder und Katar genau das verhindert.
Saudi-Arabien positioniert sich Zug um Zug für die kommenden Auseinandersetzungen im Nahen Osten, die die bisherigen Erschütterungen vermutlich noch weit übertreffen werden. Es geht um die Konfrontation mit der Islamischen Republik Iran, Syrien ist dabei das Schlachtfeld. Das offizielle Eingreifen der schiitischen Hizbollah auf Seiten Bashar al-Assads hat die Saudis endgültig in Zugzwang gebracht, während die Passivität der Amerikaner ihnen potentiell verheerende Handlungsspielräume eröffnet. Saudi-Arabien dürfte Ägypten jetzt finanzieren. Das Land steht am Rande des Staatsbankrotts und nur neue Milliardenkredite werden es ermöglichen, weiter subventionierte Nahrungsmittel an Millionen unter der Armutsgrenze lebenden Ägypterinnen und Ägyptern zu verteilen.

Die Änhänger der Tamarod-Bewegung interessieren die Saudis nicht sonderlich, sie stellen derzeit auch keine Gefahr für sie dar. Im Gegenteil: In Riad dürfte dem Königshaus mittlerweile klar geworden sein, dass es allein mit islamistischen Freischärlerbewungen wie in Afghanistan weder politisch noch militärisch gegen den Iran reüssieren wird. Wo immer dieser Tage Jihadisten beginnen, ihre Sharia-Diktatur zu errichten, wie in einigen von ihnen kontrollierten Gebieten Nordsyriens, machen Demonstranten deutlich, dass sie keineswegs gewillt sind, passiv einer Zukunft unter dem schwarzen Banner von al-Qaida entgegenzudämmern. Mit einem vom Militär kontrollierten und finanziell von ihnen abhängigen »zivilen Staat« in Ägypten, in dem die Salafisten über gehörigen Einfluss verfügen, können die Saudis jedoch vorerst bestens leben.
Die leicht bizarre Äußerung Assads, der, vom Iran und der Hizbollah unterstützt, den Abgang Mursis als einen »Schlag gegen den politischen Islam« begrüßte, ist zumindest doppeldeutig. Kurzfristig bringt ihm der Sturz Mursis Vorteile, die syrischen Muslimbrüder werden geschwächt und im Schatten der Ereignisse in Ägypten konnte er die von Rebellen gehaltenen Viertel der Großstadt Homs praktisch unbemerkt bombardieren. Die mediale Aufmerksamkeitsökonomie bringt es mit sich, daß ein toter Ägypter zur Zeit so viel zählt wie mindestens 100 tote Syrer. Allerdings haben die Saudis in Syrien nun den Rücken frei und dürften die Koalition ihrer Geld- und Waffenempfänger deutlich erweitern. Selbstredend spielen in dieser seltsamen Allianz die Träume der ägyptischen oder anderer Aktivisten in der Region von Demokratie und erträglichen Lebensverhältnissen keine Rolle. Es bleibt die Hoffnung, dass letztlich nicht die schlechte Geopolitik, sondern das Verlangen der Menschen nach einem grundlegenden Wandel das Schicksal des Nahen Ostens bestimmen wird: nach Veränderungen in Gesellschaft und Geschlechterverhältnis, in Religion und Staatsaufbau, deren Alternative nichts als eine Region voller failed states ist.
Demokratie und Islam gehen jedenfalls nicht, wie so gerne in letzter Zeit in Washington und Europa behauptet wird, einfach zusammen. Bis tatsächlich einmal in ferner Zukunft säkulare Parteien in der Region mit einigermaßen tragfähigen Ideen aufwarten werden, wie ein nicht von Religion dominierter Staat eigentlich aussehen könnte, wird das beste, was zu haben ist, jener »zivile Staat« sein, auf den man sich in Ägypten geeinigt hat. Inwiefern der allerdings eine Zukunft haben wird, hängt nun von Transferzahlungen ausgerechnet aus Ländern wie Saudi-Arabien sowie von der Frage ab, ob zumindest Teile der Muslimbrüder die neuen Spielregeln akzeptieren werden. Der sogenannte arabische Früling, soviel jedenfalls dürfte inzwischen klar geworden sein, ist keineswegs und allen Unkenrufen zum Trotz zu einem islamischen Winter geworden. Die Muslimbrüder jedenfalls reihen sich seit vergangener Woche in die große Gruppe von Verlieren im Nahen Osten ein. Nur, wer am Ende zu den Gewinnern gehören wird, das bleibt weiter die offene Frage.