Diskriminierung von Schwarzen durch Polizei und Justiz

Verdächtige Bewegungen

Die Diskriminierung von Schwarzen und Latinos in den USA hat System. Und oft hat sie tödliche Folgen.

Als am Abend des 13. Juli das Urteil gegen George Zimmerman nach dem Tod von Trayvon Martin verkündet wird, sitzt Amerika vor dem Fernseher In einem kleinen karibischen Diner im Herzen der Bronx wird der Fernseher lautgestellt. Die Spannung ist mit Händen zu greifen, als Richterin Debra Nelson die Jury auffordert, das Urteil zu verlesen. CNN überträgt live. Gebannt starren Kunden und Kassiererinnen auf den Bildschirm in der Ecke des Lokals. Die Mienen sind versteinert, als das Bürgerwehrmitglied Zimmerman sowohl vom Vorwurf des Mordes als auch des Totschlags freigesprochen wird. »Ich hoffe, jemand bringt ihn um«, murmelt die junge schwarze Verkäuferin wütend und verbittert. Doch die meisten Kunden reagieren wenig überrascht. »Ich habe nichts anderes erwartet«, kommentiert eine ältere schwarze Frau resigniert, als sie den Laden verlässt.
Fälle wie der von Trayvon Martin – junge schwarze Männer, erschossen von Möchtegerncops wie Zimmerman oder von Polizisten – kennen sie hier. Wochen später bestätigte sich dann, welch tiefer Graben Schwarze und Weiße in Amerika trennt. Am 7. August hob ein Berufungsgericht in New York die Verurteilung des weißen Polizisten Richard Haste wegen Totschlags auf. »Das Justizsystem hat uns im Stich gelassen, genauso wie die Familie von Trayvon Martin«, so Constance Malcolm, die Mutter von Ramarley Graham, nach dem Urteil.
Ramarley Graham wurde im Februar 2012 von einem Polizisten einer New Yorker Antidrogeneinheit erschossen. Zwei Polizisten hatten den schwarzen Teenager zu seinem Haus und bis in sein Badezimmer verfolgt. Kurz danach lag der 18jährige tot am Boden, erschossen mit der SIG Saur 9 mm des NYPD-Officer Richard Haste. Der Fall Ramarley Graham ist weniger bekannt als der von Trayvon Martin, aber auch er ist exemplarisch dafür, wie zerrüttet das Verhältnis zwischen Polizei und Justizsystem und der schwarzen Community auch 50 Jahre nach dem Marsch auf Washington noch ist. Nicht nur im Süden, sondern auch im vermeintlich progressiven New York.

Ein vor kurzem bekannt gewordenes Überwachungsvideo von der Kreuzung unweit des Hauses der Familie Graham zeigt die letzten Momente in Grahams Leben: wie er die Straße mit einem Freund hinunterläuft, wie beide im Vorbeilaufen zwei Freunde abklatschen, die vor einem Laden stehen. Die Kleidung der jungen Männer: tiefhängende Baggypants und weite, schwarze Hoodies. Wie der schwarze Hoodie von Trayvon Martin, der für die Furcht vor Kriminalität und die Angst vor schwarzen Männern in den USA zum Symbol geworden ist. Wenige Meter weiter greift sich Graham an die Hose, justiert seinen Gürtel nach. Es ist diese »verdächtige Bewegung«, die Graham zum Verhängnis wird. Die beobachtenden Polizisten der Antidrogeneinheit entscheiden, Graham anzuhalten und zu durchsuchen. Er läuft weg, die Polizisten hinterher.
»Schwarze Männer in Amerika müssen ständig gegen einen Generalverdacht ankämpfen«, schrieb die Bundesrichterin Shira Scheindlin vorige Woche in ihrem Urteil im Prozess Floyd vs. City of New York. In dem umfangreichen Prozess urteilte Scheindlin, das gesamte Stop and frisk-Programm (»anhalten und durchsuchen«) der New Yorker Polizei (Jungle World 04/13), die gezielte Kontrolle von überwiegend Schwarzen und Latinos, sei verfassungswidrig. Ein vages Kriterium, die »verdächtige Bewegung«, die die Polizisten bei Ramarley Graham wahrgenommen haben wollten, sei kein ausreichender Anhaltspunkt, um Personen zu kontrollieren. Das NYPD betreibe zudem systematisch racial profiling.
Ramarley Graham sei nur das neueste Opfer des New Yorker Kreuzzugs gegen Marihuana, schrieb Tony Newman, Pressedirektor der Drug Policy Alliance, nach Grahams Tod. 47 Prozent der Marihuanakonsumenten in New York sind Schwarze und Latinos, 42 Prozent sind weiß. Weniger gleich verteilt ist die Zahl der Festnahmen wegen Marihuanabesitzes. 86 Prozent der Festgenommenen sind Schwarze oder Latinos. Bevor Graham erschossen wurde, hatte er versucht, einen kleinen Beutel Marihuana die Toilette hinunterzuspülen. Er war schon zweimal vorher wegen Marihuanas und einmal wegen Diebstahls festgenommen worden.
Die Polizisten, die die Tür des Apartments der Familie Graham in der 229. Straße eintraten, hatten keinen Durchsuchungsbefehl. »Niemand verdient es, in seinem Haus niedergeschossen zu werden«, klagt Grahams Mutter Malcolm. Er habe »keine Wahl gehabt«, sagte Officer Haste im Prozess. Er habe »Polizei, Polizei« und »Zeig mir deine Hände« gerufen. Nach einem kurzen Gerangel habe er geschossen, als Graham an seine »Hüfte« gegriffen habe, weil er den Teenager im Besitz einer Waffe wähnte. Doch die Polizei fand keine Waffe bei ihm. Es habe kein Gerangel geben, Haste habe fast sofort geschossen, sagten dagegen Familienmitglieder, die anwesend waren, als Haste ins Apartment der Familie stürmte. Die Verurteilung von NYPD-Officer Haste wegen Totschlags wurde in der Berufung wegen Verfahrensfehlern aufgehoben.

Es sind die Freisprüche für die Zimmermans und Hastes, deretwegen eine deutliche Mehrheit von 68 Prozent der schwarzen US-Amerikaner überzeugt ist, das Justizsystem des Landes diskriminiere Schwarze. Wie gespalten Amerika ist, zeigt, dass nur 25 Prozent der befragten Weißen das so sehen. Dieser Unterschied in der Wahrnehmung sei seit den neunziger Jahren größer geworden, berichten die Demoskopen von Gallup. Diese Polarisierung zeigte sich auch Mitte August vor dem Bezirksgericht in der Bronx: Polizisten applaudierten, als der freigesprochene Haste aus dem Gerichtsgebäude trat, Demonstranten riefen »NYPD, KKK – how many kids did you kill today?«
»Erst schießen, dann fragen«, so beschreibt ein Nachbar Grahams die aggressive Vorgehensweise der Polizei. 21 Menschen hat die New Yorker Polizei allein im vorigen Jahr erschossen. 90 Prozent von ihnen waren der »22. Oktober-Koalition gegen Polizeigewalt« zufolge Schwarze oder Latinos. Nach dem Freispruch von Haste teilte das Büro der Bundesstaatsanwaltschaft im Bezirk New York mit, die Bundesbehörden würden den Fall untersuchen. Im Urteil zu stop and frisk vorige Woche hat Bundesrichterin Scheindlin dem NYPD einen unabhängigen Aufseher sowie Modellversuche verordnet, in deren Rahmen New Yorker Polizisten in ausgewählten Polizeibezirken Kameras tragen sollen.
Das Urteil war eine Ohrfeige für den im September nach zwölf Jahren aus dem Amt scheidenden New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg, der die Zero-tolerance-Politik seines Vorgängers Rudolph Giuliani fortgesetzt hat. Ohne stop and frisk werde die Kriminalität zurückkehren, der verordnete Aufseher werde den Polizeiapparat lähmen, schimpfte Bloomberg, der das 40 000 Personen starke New York Police Department auch schon »meine Armee« nannte.
Geändert hat sich seit Giulianis Amtszeit nicht viel. Vor kurzem tauchten Fotos einer Eliteeinheit des NYPD mit einem Hemingway-Zitat von 1936 als T-Shirt-Spruch auf: »Keine Jagd ist wie die auf Menschen.« Die »Warrant Squad« ist die Nachfolgeeinheit der »Street Crimes Unit«, einer 300 Mann starken Eliteeinheit des NYPD, die nicht nur mit einer hohen Zahl von Verhaftungen für Schlagzeilen sorgte, sondern auch mit ihrer Aggressivität. Die Einheit wurde 2002 aufgelöst, nachdem vier Mitglieder den afrikanischen Migranten Amadou Diallo 1999 in der Bronx mit 41 Schüssen vor seinem Haus niedergeschossen hatten. Er war dabei, sein Portemonnaie aus der Tasche zu ziehen, um sich auszuweisen. Die Polizisten behaupteten, sie hätten den Eindruck gehabt, Diallo würde eine Waffe ziehen. Die Wut entlud sich wochenlang in Demonstrationen, bei denen 1 700 Menschen festgenommen wurden.
Auch nach Ramarley Grahams Tod im vorigen Jahr und im Zuge des Freispruchs von Haste gab es Demonstrationen. Grahams Mutter will weiter um Gerechtigkeit für ihren Sohn kämpfen: »So lange noch Atem in meinem Körper ist«.