Über die Notwendigkeit einer alternativen Ordnung der Gesellschaft

Für eine radikale Realpolitik

Die Erschütterung von Machstrukturen ist für radikale Veränderungen notwendig. Das Chaos der Freiheit kann aber nicht endlos andauern.

Der Besuch des größten Parkforums im Abbasaga-Park im Istanbuler Stadtteil Besiktas war eine Art déja-vu. Sofort fühlte man sich dort an die asam­bleas vor zwei Jahren in Madrid erinnert. Die Kommunikationsformen und die Gruppendynamik dieses Forums ähnelten den ersten großen »Ratschlägen« von Attac Deutschland: Die Debatte ist konsensorientiert, jeder spricht für sich und nicht für eine Gruppe. Diese Autonomie wird durch ein neues, nicht klar definiertes »Wir« gebunden, das sich über die unmittelbar gelebte Solidarität definiert. Immer wieder brechen Konflikte aus, die, statt gelöst, wegmoderiert werden, das Forum ist für alle zugänglich, und ein geradezu naiver Utopismus bestimmt den Ton der Debatte. Diese Eigenschaften ließen sich auch bei den Platzbesetzungen von Kairo bis zur »Occupy«-Bewegung wiederfinden. Solche äußerliche Ähnlichkeit von Bewegungen, deren Akteure teilweise nichts voneinander wissen, weist auf die Entstehung einer neuen rebellischen Subjektivität hin, die bereits mit der globalisierungskritischen Bewegung ihren Anfang nahm.

Um das zu verstehen, müssen wir nochmal zum Ausgangspunkt zurück, zur Zäsur von 1989, zum sogenannten Ende der Geschichte. Die Globalisierungskritik war auch eine Revolte gegen dieses Ende. »Eine andere Welt ist möglich« – das war ein identitätsbildender Ruf, das Utopische sollte wieder denkbar und einlösbar sein. Allerdings geschah dies auf der Grundlage des Eingeständnisses einer Niederlage. »Fragend schreiten wir voran«, das war das ehrliche Eingeständnis der diskursiven Avantgarde der Globalisierungskritiker, der Zapatisten aus Chiapas, was ungefähr der Aussage »Wir haben keinen klaren Plan für die neue Welt« entsprach. Die bisherigen Konzepte der Rebellionen enthielten für uns kein fertiges programmatisches Repertoire, es galt, vom Nullpunkt an neu zu beginnen. Geschichtslosigkeit und Theorieferne kennzeichneten die neue Generation von Aktivisten, Sachbücher waren angesagt, theoretische Werke blieben jedoch Einzel­erscheinungen. Die Krise der Repräsentation resultierte nicht nur aus der Ablehnung der Logik politischer Stellvertretung, sondern auch aus der Abwesenheit einer übergeordneten, vereinheit­lichenden Idee, in deren Namen man sich selbst definiert. So befand man sich in einer Suchbewegung, und ob hier Elemente einer neuen, großen Erzählung produziert würden oder ob die Suchbewegung als nicht zu beendender Prozess Selbstzweck sein würde, blieb eine offene Frage.
Die vielen Erfahrungen, etwa die gemeinschaftliche Selbstverwaltung der Indigenen in Chiapas oder die solidarischen Nachbarschaftsversammlungen in Argentinien nach dem Staatsbankrott, fanden im Weltsozialforum einen institutionellen Rahmen. In dieser gemeinsamen Suche galt es für die Teilnehmer der Bewegung, sich global zu organisieren.
Diese Gemeinsamkeit verbindet die Globalisierungskritik mit den Revolten der »Arabellion«, den indignados und der »Occupy«-Bewegung, sodass man von einem langen Protestzyklus reden kann.
Das direktdemokratische Prinzip von Autonomie und Kooperation, Konsens und Pluralismus, und ein weniger konzeptioneller als normativer Utopismus bildeten den Rahmen des Weltsozialforums, aber auch des besetzten Tahrir-Platzes, der Plaza del Sol in Madrid und des Taksim-Platzes in Istanbul. Das Weltsozialforum war die Trockenübung: In Kairo, Madrid und Istanbul ist das Forum zum Instrument des Kampfes geworden. Der Tahrir-Platz war der Ort, an dem die rebel­lische Subjektivität Teile des politischen Systems durchbrach, während sie sich noch formte.
Die Erfolgsstrategie der globalisierungskritischen Bewegung beruhte auf drei Prinzipien: diskursive Veränderung, Veränderung im Alltag und Hegemoniekämpfe um politische Insti­tutionen.
Auf der diskursiven Ebene folgte auf »Eine andere Welt ist möglich« die Trias der arabischen Aufstände: »Brot, Freiheit und Würde«. Diese Einheit der sozialen und demokratischen Frage und der Wunsch nach einem solidarischen Zusammenleben bilden auch den Rahmen der »Occupy«-Bewegung. Das Ende der Geschichte ist vorbei, der diskursive Antagonismus zu den globalen Verhältnissen ist nicht mehr zu leugnen.
Bei den Veränderungen im Alltag ist das Bild widersprüchlicher. Es gibt viele hoffnungsvolle Erfahrungen von Selbstorganisation an verschiedenen Orten der globalen Revolte. Die Politisierung des Alltags und die Teilnahme eines relevanten Teils der Bevölkerung am politischen Geschehen war bei den asambleas von Madrid und den Foren von Istanbul eine Veränderung, die diese Gesellschaften prägen wird. Problematisch ist das Übergreifen dieser Formen der politischen Selbstermächtigung auf die Kontrolle über die gesellschaftlichen Reichtümer. Die Versuche der Selbstverwaltung von Fabriken, sowohl vor zehn Jahren in Argentinien als auch heute in Griechenland, finden in den Ruinen kapitalistischer Betriebe statt. Die verlassenen kapitalistischen Produktionsstätten können aber bei aller Wachs­tums­kritik nicht allein die Basis für die Utopie einer neuen Welt sein.

Die deutlichste Schwäche in dieser Hinsicht sehen wir in der ägyptischen Revolution. So machtvoll die Bewegung für den Sturz des autoritären Regimes war, so schwach war sie bei der Veränderung der sozialen Verhältnisse, die den Alltag prägen. Trotz revolutionärer Veränderungen im Massenbewusstsein bildeten sich im Alltag kaum Formen alternativer Organisation. Bei knappen Ressourcen und großer Abhängigkeit von außen konnte die Armee als letzter Garant für die Sicherung dieser Ressourcen nicht in Frage gestellt werden, an die Übernahme der Ressourcen wird hier nicht einmal gedacht.
Der lange Protestzyklus seit der globalisierungskritischen Bewegung ist von einem Wiederauf­leben von antiautoritären und anarchistischen Tendenzen gekennzeichnet. Bei der Verarbeitung des Scheiterns der »staatssozialistischen« Projekte im Osten ist die historische Spur dieser Strömungen ein notwendiges Korrektiv. Für die antiautoritäre Tradition der Linken sind die Foren der hoffnungsvollste Ausdruck einer neuen rebellischen Subjektivität und der Kern eines progressiven Transformationsprojektes. Allerdings rauben uns eine verkürzte Staatskritik und die Ablehnung jeglicher Beteiligung auf der Bühne des etablierten politischen Systems die Sieges­optionen.

Auch hierfür ist die ägyptische Erfahrung lehrreich. Erschütterungen von Machtstrukturen sind notwendig für die Emanzipation. Aber das Chaos kann nicht endlos andauern, ohne dass neue Strukturen Verbesserungen im Alltag sicherstellen. Das Chaos der neuen Freiheit hat in Ägypten auf unterschiedliche Weise auch das Überleben erschwert. Das Fehlen einer neuen Ordnungsinstanz führt zu einem Erlahmen der Rebellion und ermöglicht die Dominanz übrig­gebliebener Herrschaftsinstitutionen wie jetzt die der Armee. Die kollektive Ermächtigung und Selbsthilfe kann weiterhelfen, eine alternative Ordnung der Gesellschaft aber nicht ersetzen.
Ließe sich dann etwa mit »Alle Macht den Foren« dieser Mangel beheben? Ja und nein. Die Foren als Orte der kollektiven und solidarischen Selbstermächtigung sind die Basisform einer emanzipatorischen Transformation. Während der progressive liberale Zugang diese der formal­demokratischen parlamentarischen Repräsentation unterordnet, muss eine radikale Kapitalismuskritik sie ins Zentrum einer neuen Ordnung stellen. Allerdings sind die modernen ausdifferenzierten Gesellschaften nicht allein über Formen der direkten Demokratie zu organisieren. In den indigenen Gemeinden in Chiapas ist das vielleicht möglich, aber nicht überall. Man wird um viele Elemente der heutigen Verwaltung und der staatlichen Institutionen nicht herumkommen, die durch Hegemoniekämpfe zu erobern sind.
Eine radikale Realpolitik ist gefragt, die die Emanzipation von unten ins Zentrum stellt und der institutionellen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften entspricht.