Über den Roman »Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf«

Heimliche Helden

In seinem Roman »Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf« beschäftigt sich der argentinische Autor Patricio Pron mit der Geschichte seiner Familie während der Militärdiktatur.

Ein junger Mann reist von Deutschland nach Argentinien, um dort seinen sterbenskranken Vater im Hospital zu besuchen. Er fliegt ­zurück an den Ort seiner Kindheit und Jugend, dem er vor acht Jahren den Rücken gekehrt hat. Seine Rückkehr hat für ihn etwas Surreales: Der bei der Einreise vorgezeigte Pass wirkt wie »eine tote Pflanze, für die jede Hilfe zu spät kam«. Das von einem Mädchen im Minirock angebotene Gebäck scheint aus Staub zu bestehen. Als ein Passant vorbeihastet, glaubt der junge Mann die Karikatur eines prominenten Fußballspielers vor sich zu sehen, der auf seinem T-Shirt ein verzerrtes Selbstporträt aus glanzvolleren Zeiten zur Schau stellt. Als der junge Mann sein leeres Elternhaus betritt, hat er das Gefühl, eine Puppenstube mit Möbeln für Zwerge zu betreten.
Was ist los mit dem Erzähler, der durch seine alte Heimat stolpert, als sei das Land der Fußballheroen die Kulisse für einen David-Lynch-Film? Schnell verstehen wir, dass er in einer tiefen Krise steckt. Vor acht Jahren hat er sein Zuhause in Argentinien verlassen, um nach Deutschland zu gehen. In Göttingen hat er an der Universität gearbeitet und viele Stunden bei einem Psychiater verbracht. Der Spezialist hat ihm nicht helfen können, aber fleißig Rezepte ausgestellt. Nun konsumiert der junge Mann große Mengen Psychopharmaka und schaut zu, wie ihm seine Erinnerungen entgleiten. Auch seine Emotionen kommen ihm abhanden: »Vielleicht besteht die einzige Wirkung der Medikamente darin, zu verhindern, dass einer sich vollkommen glücklich oder traurig fühlt; so als würde man in einem Schwimmbecken treiben, ohne je den Grund zu sehen.«
Seine Reise nach Argentinien wird zu einer Reise in die eigene Vergangenheit. Der junge Mann blättert hingebungsvoll in vergilbten Fotoalben, weiht die Geschwister in seine Albträume von durchsichtigen Fischen ein und lässt sich von der Mutter ein Rezept für Hackbraten diktieren. Die größte Herausforderung stellt die Kontaktaufnahme mit dem Vater dar, der im Krankenbett an einem Netz von Kabeln hängt und kaum ansprechbar ist. Bald widmet sich der Erzähler einer Mappe mit Zeitungsausschnitten, die der Vater, einst ein begabter Journalist, in jüngster Zeit gesammelt hat. Der Sohn ahnt beim Studium der Akte noch nicht, dass er die Büchse der Pandora geöffnet hat. Die hier versammelten Dokumente eröffnen den Blick in den Abgrund der argentinischen Geschichte.
Offenbar galt das Interesse des Vaters zuletzt vor allem dem Verschwinden eines Mannes namens Alberto Burdisso. Polizeiliche Ermittlungen hatten ergeben, dass der Mann 2008 von seiner habgierigen Geliebten und ihren Freunden ermordet und in einen Brunnen geworfen wurde. Doch was, fragt sich der Sohn, hat den Vater an der grausamen Tat derart fasziniert, dass er eine so umfangreiche Mappe angelegt hat? Die Antwort dämmert ihm, als er auf eine über 30 Jahre alte Fotografie stößt, die die Schwester des Toten gemeinsam mit dem Vater zeigt. Alicia Burdisso war nicht nur eine gute Freundin des Vaters, sondern auch dessen Kampfgefährtin. Die Eltern des Erzählers gehörten einer linksperonistischen Jugendorganisation an; und die Frau auf dem Foto ist eine »Verschwundene« aus der Zeit der Militärdiktatur. Der Vater war es, der Alicia für die Mitarbeit in der Organisation angeworben hat, nun gibt er sich die Schuld an ihrem Verschwinden.
Der von Jorge Luis Borges und Roberto Bolaño beeinflusste Autor verzichtet an dieser Stelle darauf, seine Erzählung nach Art eines Kriminalromans zu entfalten. Fast lieblos handelt der 1975 in Buenos Aires geborene Patricio Pron die authentische Geschichte Alberto Burdissos in vielen journalistischen Schnipseln ab. Dies hat zur Folge, dass Alicia ein bloßer Name bleibt und den Lesern nicht wirklich nahekommt. Pron ist freilich klug genug, seinen trockenen Umgang mit den Fakten ästhetisch zu nobilitieren: Die Geschichte der argentinischen desaparecidos passe nicht in das konventionelle Korsett des Kriminalromans. Anders als im Krimi sei im Mordfall Alicia kein Sinn zu stiften und die Bestrafung der Verbrecher bleibe aus.
Das Drama wird an einen anderen Ort verlagert. Als die Schwester des jungen Mannes ihn an gemeinsame Erlebnisse aus der Zeit der Diktatur erinnert, findet der Mann ohne Gedächtnis gleichsam die verlorene Zeit wieder. Jäh stellt sich die alte Angst wieder ein, das Gefühl der Verunsicherung, wenn die Eltern ihren Kindern einschärfen, keine Freunde mit nach Hause zu bringen und keinem Fremden zu vertrauen. Allmählich kann der junge Argentinier die verdrängte Erinnerung zulassen. Auch beschließt er, keine Psychopharmaka mehr zu schlucken: »Während sich die Tabletten langsam im Wasser der Kloschüssel auflösten und ihre Botschaft grundloser Freude zu den Fischen trugen, (…) dachte ich, ich müsste mit meinem Vater sprechen, wenn das eines Tages möglich wäre.«
»Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf« ist die dichte Beschreibung der Ohnmacht, die für viele Kinder verfolgter argentinischer Aktivisten prägend geworden ist. Pron vergleicht seine Generation mit Angehörigen eines »vor Zeiten besiegten Heers, an dessen Schlachten wir uns nicht einmal mehr erinnern können und die genauer unter die Lupe zu nehmen unsere Eltern sich bis heute nicht getrauen«. Gleichzeitig ist der autobiographisch geprägte Roman eine Hommage an eine Elterngeneration, die in Argentinien für jene Freiheiten gekämpft hat, die den Nachkommen selbstverständlich erscheinen. Der Vater des Schriftstellers, Chacho Pron, hat diese Geste verstanden und im Blog seines Sohnes persönliche Anmerkungen zum Roman veröffentlicht.
2010 wurde der heute in Madrid lebende Patricio Pron von der Literaturzeitschrift Granta zu den besten spanischsprachigen Schriftstellern unter 35 Jahren gezählt. Nun hat Pron seinen ersten Roman auf Deutsch vorgelegt – einen Text, der so überzeugend mit einer Poetik der Erinnerungslücken arbeitet, dass die verblüffende Feierlichkeit der Aufmachung nachträglich plausibel ist.

Patricio Pron: Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf. Aus dem Spanischen übersetzt von Christian Hansen. Rowohlt, Reinbek 2013, 220 Seiten, 18,95 Euro