Gute Seiten, schlechte Seiten

Mein Buchhändler zu sein, stelle ich mir im Großen und Ganzen sehr angenehm vor. Jeder kennt den kleinen runden Mann und seine Frau und – was eigentlich viel erstaunlicher ist – auch die beiden kennen alle. Sie müssen riesige geheime Kapazitäten in ihren Gehirnen haben, sie merken sich alle, die hier leben – und damit meine ich, dass sie mindestens etwas Persönliches über sie wissen und im richtigen Moment abrufen können. Mir ist völlig unbegreiflich, wie sie sich das merken können, denn sie kennen zusätzlich auch noch alle Bücher. Na gut, das ist übertrieben, aber nur wenig. Sie kennen fast alle Inhalte der Bücher, die sich in ihrem Laden bis unter die Decke stapeln. Und sie sind immer dazu aufgelegt, über diese Bücher zu sprechen. Über den Autor: »Ach, von dem habe ich noch dies und das und jenes, hast du das gelesen? Mir gefiel dies besser als das, aber toll ist jenes.« Und über Verlage: »Bei Tralala ist ja Derundder weg und dafür Dieunddie gekommen, bin gespannt, ob man das am kommenden Programm merken wird.« Sie mögen, wie alle, die Frankfurter Buchmesse nicht und die Leipziger sehr wohl und Gespräche mit der Buchhändlerin sind immer ganz besonders interessant, weil ihr Deutsch sehr eigen ist und viel Spielraum für Interpretationen des Gesagten lässt.
Im Laden, der – das einzige Manko dieser Zauberwelt – so klein ist, dass man nichts selber suchen kann, steht immer eine Schale mit Süßigkeiten, eine kleine, aber effektvolle Kundenbindung, die andere Einzelhändler in der Straße längst nachahmen. Wenn ich möchte, kann ich mich so von Buch zu Blume zu Spielwaren durchfuttern.
Nur selten hält sich nur ein Kunde im Geschäft auf, meistens drängeln sich zwei oder drei auf der winzigen Fläche, im Sommer wartet man lieber draußen, bis man an der Reihe ist, und das kann dauern, denn jeder Kunde wird gleichermaßen gut und ausführlich beraten. Man braucht also Zeit, um hier Bücher zu kaufen, aber während man so vor sich hin wartet, kann man der halbstarken Spatzen-Gang beim Kirschenklauen zusehen und schämt sich währenddessen zu Recht für jedes einzelne Buch, das man im Versand bestellt hat, statt es hier zu kaufen. Es scheint also ein perfekter Job, dieses besondere Buchhändlerpaar zu sein. Zumindest solange man vergisst, wie viele schlechte und furchtbar langweilige Bücher die beiden neben den wenigen schönen und wichtigen verkaufen und zumindest querlesen müssen. Und dass sie beim Gespräch darüber nicht schmerzverzerrt aufschreien und abraten, sondern so tun, als ob jedes gewünschte Buch lesenswert sei. Glaubhaft. Das ist die hohe Kunst des Buchhändlerpaares und ich vermute, sie kompensieren das mit sehr, sehr eigenartigen Albträumen von Daniel Kehlmann als verliebtem Vampir. Voll Grusel!