Der politische Einfluss evangelikaler Christen in Brasilien

Gottes Geld und Teufels Beitrag

Evangelikale Christen werden in Brasilien immer mächtiger. Sie rufen zur Missionierung auf und greifen auch immer häufiger in die Politik des Landes ein. Schon jetzt kommt keine Regierung mehr ohne sie aus.

Zuletzt gingen sie wieder Ende Juli in São Paulo auf die Straßen. Es waren vor allem junge Brasilianer. Eine knappe Million laut Polizei, fünf Milli­onen laut Veranstalter Estevam Hernandes, der die Presse wissen ließ: »Der Ärger vieler von uns hat sich an den Sozialkürzungen der Regierung entzündet. Wir stimmen mit den Protesten in ganz Brasilien überein.«
Doch die Demonstrierenden waren keine Angehörige der heterogenen sozialen Protestbewegung, die sich in Brasilien im vergangenen Sommer formiert hatte. Hernandes ist Bischof der »Igreja Renascer em Cristo«, der evangelikalen Kirche, die seit 1993 die jährlichen Marcha para Jesus organisiert. Der Marketingexperte gründete 1986 zusammen mit seiner Ehefrau die Pfingstkirche, die rasch in ganz Brasilien populär wurde und heute etwa zwei Millionen Anhänger hat. Die Erfahrungen seines vorherigen Berufs macht sich Hernandes auch bei der Führung seiner Kirche zunutze. In schrillen Tönen berichtet er von Wunderheilungen und der »Erweckung der Menschen«, er selbst bezeichnet sich als »Apostel«. Die Angaben zur Zahl der Teilnehmer am »Jesusmarsch« sind auch offenbar völlig überzogen: Bereits seit Jahren sprechen die Veranstalter von fünf Millionen Teilnehmern, können aber maximal die Hälfte mobilisieren.
Dieses Jahr sprachen diverse Zeitungen von weniger als 500 000 Teilnehmern, was vor allem dem allgemeinen Popularitätsverlust dieser Kirche geschuldet sein dürfte. Die Gläubigen laufen der Kirche davon, seit das Ehepaar Hernandes 2007 in den USA zu fünf Monaten Haft wegen illegaler Deviseneinfuhr verurteilt wurde. Teile des Geldes hatten sie stilecht in einer Bibel versteckt. Auch in Brasilien kam es zu Ermittlungen wegen Geldwäsche und Betrugs. Letztendlich verließ sogar der Fußballstar Kaká, ein wichtiger Geldgeber und das prominenteste Gemeindemitglied, die Kirche. Viele der Tempel im Land sind mittlerweile wieder geschlossen, der Haupttempel in São Paulo stürzte ein. Doch wäre es falsch, diesen Niedergang als Sinnbild für die Zukunft der Evangelikalen in Brasilien zu verstehen. Die zahlreichen Freikirchen, die Mehrheit davon Pfingstler, sind die am schnellsten wachsende Religionsgemeinschaft und werden längst wie moderne Wirtschaftsunternehmen geführt.
Auch regelmäßige Anklagen der selbsternannten Bischöfe und Apostel durch die Staatsanwaltschaften wegen Betrugs und Geldwäscherei, bis hin zur Verstrickung in die organisierte Krimi­nalität, können ihnen nur selten etwas anhaben. Der gigantische Reichtum der Sektengurus, die meist auch als Buchautoren und Gospelsänger auftreten, nährt keinen Zweifel, sondern wird als Bestätigung des gottgefälligen Handelns angesehen.
Die »Igreja Universal do Reino de Deus«, eine weitere Pfingstkirche, lässt in São Paulo gerade eine riesige Replika des antiken Tempels von Salomon erbauen. Zwecks größerer Authentizität werden Tonnen von Steinen aus Israel importiert. Der Tempel soll 10 000 Leuten Platz bieten. Die Zeit der kleinen Hinterhofgemeinden ist längst vorbei.

Cotijuba war einmal das Alcatraz des Amazonas. Auf der Insel im Mündungsbereich des Stroms brachte man ab den dreißiger Jahren jugendliche Straftäter unter. Die Militärdiktatur hielt dort politische Gefangene fest, heute steht von der Anlage nur noch ein verfallendes Gebäudegerippe. Jedes Wochenende strömen Bewohner des nahen Ballungsraums Belém an der Ruine am Hafen vorbei und zerstreuen sich auf Maultierkarren zu den verschiedenen Stränden. Der Tourismus ist eine der Haupteinnahmequellen der Insel, die außer tropischen Stränden kaum etwas zu bieten hat. Die Infrastruktur ist schlecht, allein eine kleine Gesundheitsstation bietet eine medizinische Grundversorgung an.
Um die religiöse Infrastruktur muss sich allerdings niemand sorgen, scheinbar jede christliche Splittergruppe unterhält hier eine Gemeinde. Die Mehrheit ist neocharismatisch-pfingstlerisch, aber selbst die Zeugen Jehovas haben am Ama­zonas ihre Anhänger. Bereits bei der einstündigen Bootsfahrt nach Cotijuba erspäht man gelegentlich selbst in nur aus wenigen Hütten bestehenden Siedlungen evangelikale Gemeindehäuser. Eine Beobachtung, die sich in ganz Brasilien wiederholt. Besonders wer in den Städten flaniert, wird schnell auf Einrichtungen von Evangelikalen stoßen – solange man dies nicht in gehobenen Wohnvierteln versucht.
Meine Sitznachbarin, die das Schaukeln des kleinen Boots im hohen Wellengang der Bucht von Guajará stoisch erträgt, bemerkt mein Interesse an all den Baracken Gottes. »Sie sind überall, aber sie haben keine wahren Seelsorger«, womit ihrer Meinung nach alles gesagt zu sein scheint. Natürlich sei sie Katholikin, lässt sie sich noch entlocken, und starrt dann wieder angestrengt auf die Gischt. Die aufgepeitschten Wellen setzen ihr stärker zu, als sie sich anmerken lassen will.
In Brasilien ist es nicht mehr selbstverständlich, katholisch zu sein. Bereits über 20 Prozent der Bevölkerung hängen einer evangelikalen Lehre an. Die römisch-katholische Kirche versammelt nur noch 65 Prozent der Brasilianer unter ihrem Dach, die wenigsten sind praktizierende Gläubige. Das Monopol der katholischen Kirche ist in ganz Lateinamerika Vergangenheit. Seit den siebziger Jahren gewinnen die Evangelikalen immer mehr Anhänger, ihre angeblich näher an den Bedürfnissen der armen Bevölkerung orientierte Seelsorge gilt dabei als Erfolgsrezept. Die katholische Kirche hat hingegen mit fehlendem Pastorennachwuchs zu kämpfen und verfügt in ländlichen Gebieten daher nur über Pfarrereien, zu denen zu gelangen oft Tagesreisen unternommen werden müssen. In den Städten erreicht sie die Menschen ebenfalls nicht mehr, das Zurückdrängen der Befreiungstheologie und die Skandale der letzten Jahrzehnte haben dazu ihren Beitrag geleistet. Während der Militärdiktatur erhielten die Freikirchen zudem finanzielle Unterstützung aus den USA, als Gegengewicht zur meist oppositionell eingestellten katholischen Kirche.
Die Pfingstler setzen auf Laienpriester und erreichen damit auch die letzten Winkel des Landes sowie die Armenviertel. Ihre vielfach gelobte Nähe zu den Menschen am Rande der Gesellschaft besteht vornehmlich darin, die »Theologie der Prosperität« zu propagieren. Deren Botschaft ist simpel: Richte dein Leben nach der Bibel aus, lasse vom Teufel ab und dir wird Wohlstand zuteil. Besonders Fußballer dienen dabei als prominente Aushängeschilder, seit etlichen Jahren sind immer eine Handvoll Spieler der brasilianischen Seleção bereitwillige Botschafter der Evangelikalen. Die »Theologie der Prosperität« passt zum neoliberalen Zeitgeist, modernisiert das religiöse Heilsversprechen und verlegt es ins irdische Leben. So wie Armut immer mehr als individuelles Problem begriffen wird, das Resultat persönlichen Versagens sei, individualisiert sich bei den Pfingstlern auch die Zuwendung Gottes und kann für jeden sichtbar am wirtschaftlichen Erfolg bemessen werden. Wem der versprochene soziale Aufstieg trotzdem nicht gelingt, der hat den Teufel nicht konsequent genug aus seinem Leben verbannt. Die obligatorische Spende von zumeist zehn Prozent des Einkommens ist eine Anzahlung auf das irdische Paradies, die sich später vielfach rentieren wird. Sie sichert aber vor allem den Kirchenchefs ihren Reichtum und bildet die Grund­lage ihrer weitverzweigten Wirtschaftsunternehmen. Manche Kirchen haben sich Medienimperien aufgebaut, zu denen Hunderte regionale und nationale Radio- und Fernsehstationen gehören. Nicht alle strahlen durchgängig explizit christliche Programme aus. Die älteste Sendeanstalt Brasi­liens, Rede Record, ist bereits seit Jahrzehnten in der Hand des evangelikalen Bischofs Edir Macedo. Vor dem Aufbau seiner Pfingstkirche war er Lotterieverkäufer, heute ist er einer der reichsten Männer Lateinamerikas und expandiert erfolgreich im lusophonen Afrika.
Aufgrund ihrer geballten Medienmacht gelingt es den Evangelikalen immer wieder, gegen kritische Berichterstattung vorzugehen, notfalls auch indem man die Konkurrenz mit Klagen überzieht. Trotz ihrer Zersplitterung sind die Evangelikalen in Brasilien eine meinungsbildende Bewegung.

Leilla spricht ruhig, aber begeistert von ihrer Konversion. Gemeinsam mit einigen Freundinnen verbringt sie ein Wochenende auf Cotijuba. Obwohl die Insel keineswegs hochklassige Unterkünfte bietet und von Belém aus günstig zu erreichen ist, wäre der Ausflug ohne die finanzielle Unterstützung ihrer Gemeinde nicht möglich gewesen. Alle Teilnehmenden haben einen ähnlichen sozialen Hintergrund: in Armenvierteln lebend und von den Sozialprogrammen der Regierung nur marginal erfasst. Doch gefühlt geht ihr Weg nach oben, fast alle sind zudem Studentinnen. Ihr Übertritt sei vor allem aufgrund der Verlogenheit der katholischen Kirche erfolgt, deren Lehre sei hohl. Leilla amüsiert sich auch über die katholische Heiligenverehrung: »Wer betet denn schon zu einer kleinen Holzpuppe?« Sie spielt damit auf den »Círio de Nazaré« in Belém an, eine der größten katholischen Prozessionen. Jedes Jahr wird eine Marienfigur durch die Stadt getragen, die 1700 im Urwald gefunden worden sein soll. Heute steht dort eine Basilika und der Regenwald hat längst der Stadt Platz gemacht. Zwei Millionen Gläubige wollen sie berühren und harren eng zusammenstehend über Stunden in der äqua­torialen Hitze aus. Da nicht alle den Schrein erreichen können, hängt ihr wie ein riesiger Schwanz ein Hunderte Meter langes Seil an – die segnende Wirkung soll dieselbe sein. Der Menschenauflauf ist eine befremdliche Mischung aus religiöser Verzückung, sich anbahnender Massenpanik und latenter Aggressivität. Immer wieder werden bewusstlose Menschen aus der Menge gezogen. Es fällt nicht schwer, Leillas Befremden nachzuvollziehen. Aber sind evangelikale Zungenreden, Teufelsaustreibungen, plötzliche Heilungen von Krebskranken und Blinden nicht ebenso als Scharlatanerie zu bezeichnen? Und werden Messen in den Pfingstgemeinden nicht auch als Massen­events und euphorisierendes Spektakel zelebriert? Diese Einwände lösen jedoch nur verständnisloses Kopfschütteln aus. Ich habe das segensreiche Wirken des Heiligen Geistes offenbar nicht begriffen.

Am Abend verabredet man sich in einer Bar, ausgerechnet am Partystrand. Entgegen meiner Erwartungen ist die Gruppe um Leillas Freundinnen kein prüder, pietistischer Fremdkörper unter den feiernden Jugendlichen. Sie halten sich zwar von Drogen jeder Art fern und lehnen mehrheitlich auch Sex vor der Ehe ab – aber den Eindruck, lebensfremd, allein dem Glauben zugewandt zu sein, wie er viele streng Gläubige umgibt, hinterlassen sie nicht. Zu später Stunde geht es plötzlich um die sozialen Unterschiede in Brasilien, die Landverteilung und um Hoffnungen, die man einmal mit der Machtergreifung der Partido dos Trabalhadores (PT) des ehemaligen Präsidenten Lula verband. Ihre Kirche mag für die soziale Frage nur vereinfachende, individualisierende Antworten anbieten – sie aber analysieren weltlich und differenziert, betrachten Armut als und gesellschaftliches Problem.
Immer wieder berufen sie sich auf den in Brasilien populären Pädagogen Paulo Freire, der auch stark die Befreiungstheologie beeinflusste. Viele ihrer Aussagen könnte man auch auf einer Demonstration der sozialen Proteste hören. Je länger man ihnen zuhört, umso unverständ­licher wird ihre Zugehörigkeit zu Pfingstgemeinden. Dieser Eindruck verstärkt sich am folgenden Wochenende. Noch auf Cotijuba hat Rozelane, eine weitere Teilnehmerin am Ausflug, zum churrasco eingeladen, dem sonntäglichen, meist im Familienkreis stattfindenden Grillen. Vorher wird aber noch sichtlich stolz der Tempel der »Assem­bléia de Deus« vorgeführt. Die »Gottesversammlung« ist eine der ältesten, und mit acht Millionen Mitgliedern die größte Pfingstgemeinde Brasiliens und wurde bereits 1911 hier in Belém von zwei schwedisch-amerikanischen Einwanderern begründet. Das Gebäude könnte mit seiner verglasten Front auch als Bürokomplex durchgehen. Auch nach dem Betreten wirkt die Architektur wenig sakral, aber ein riesiger »Jesus der Messias«-Schriftzug thront über dem Altar. An einer anderen Wand hängen die Fahnen des Bundesstaates, Brasiliens und Israels. Wie bei nordamerikanischen Pfingstlern steht man hier aus religiösen Gründen an der Seite Israels.
Der Gottesdienst ist gerade zu Ende gegangen, der Tempel hat sich bereits wieder geleert, aber vielleicht hat man noch die Chance, eine Wunderheilung zu erleben. Auf die verpasste Messe angesprochen, wiegelt Rozelane ab: »Ich wollte heute gar nicht hingehen.« Und das am heiligen Sonntag. Eine gar nicht fundamentalistische Stimmung herrscht dann auch beim Grillen. Ein Teil der Familie ist weiterhin katholisch, frönt bereits ausgiebig dem Alkohol und versucht ihre Verwandtschaft mit dem Hinweis aufzuziehen, dass echte Brasilianer Katholiken seien. Solch toleranter Umgang herrscht nicht immer, Pfingstler haben in Brasilien auch schon katholische Kirchen gestürmt, Besucher geschlagen und Heiligenfiguren zertrümmert. Manche Prediger hetzen aggressiv gegen Katholiken, Lutheraner und afrobrasilianische Kulte, sie seien Ungläubige. Juden werden als Jesusmörder diffamiert.
Der gegenwärtig umstrittenste Evangelikale ist wie Rozelane Mitglied der »Assembléia de Deus«. Marco Feliciano wurde Anfang des Jahres zum Vorsitzenden der Kommission für Menschenrechte und Minderheiten ernannt. Als Abgeordneter einer christlichen Splitterpartei widmete er sich zuvor dem Kampf gegen Feminismus und das, was er »Homosexualisierung der Gesellschaft« nennt. Menschenrechte für Sexualstraftäter sind ihm ein Graus, zum Schutz der Gesellschaft empfahl er deren chemische Kastration. Auf seine Ernennung folgten landesweit wütende Proteste, die der international beachteten Protestwelle unmittelbar vorausgingen. Das Thema blieb auch in diesen Demonstrationen aktuell, viele Brasilianer fürchten um den säkularen Charakter des Staates. Evangelikale stellen sich bei Themen wie Homoehe und Liberalisierung des Abtreibungsrechts erfolgreich quer. Im Nationalkongress haben sich Evangelikale verschiedener Parteien zur bancada evangélica zusammengeschlossen, stimmen bei Vorhaben, die ihrer wörtlichen Auslegung der Bibel widersprechen, gemeinsam ab und stellen dann die drittgrößte Kraft. Gerade die PT-Regierungen haben Evangelikale als Koalitionspartner stark eingebunden und mit Posten hoch bis zum Vizepräsidenten bedacht. Politischen haben sie sich längst etabliert.
Ihr gewachsenes Selbstbewusstsein verkörpern Politiker wie Marco Feliciano, der gerne über das Wirken des Teufels doziert und zuletzt einen Vorstoß zur Legalisierung von »Schwulenheilungen« unternahm. Beim »Marsch für Jesus« wurde er frenetisch gefeiert, am Rande der Veranstaltung wurde aber auch gegen ihn und die Evangelikalen Stellung bezogen. Die Gegendemonstranten reklamieren ebenfalls, Teil der sozialen Protestbewegung zu sein, was zutreffender ist als die durchsichtigen Bemühungen des Bischofs Hernandes, Anschluss an diese zu finden.
Der Erfolg der Evangelikalen scheint noch nicht beendet. Ihr Wachstum findet weiterhin mehrheitlich in den Elendsvierteln statt, wenn auch etwas langsamer als noch vor einigen Jahren. Aber der Widerstand wird heftiger und ist vielfältig. Als Feliciano Anfang August von Mitreisenden auf einem Inlandsflug entdeckt wurde, sangen sie ihm in der Luft ein Ständchen. Intoniert wurde »Robocop Gay« von Mamonas Assassinas, der populären Band, die 1996 bei einem Flugzeugabsturz, laut Feliciano von Gott verursacht, ums Leben kam. Sein Flugzeug landete hingegen trotzdem sicher in São Paulo.