Eine Graphic Novel nach Musils »Mann ohne Eigenschaften«

Minimal Musil

Der Zeichner Nicolas Mahler hat nach Motiven aus Robert Musils großem Romanfragment »Der Mann ohne Eigenschaften« eine humoristische Graphic Novel gezeichnet.

Der österreichische Schriftsteller Robert Musil machte sich unsterblich, indem er einen Roman schrieb, den wahrscheinlich nicht einmal er hätte vollenden können. »Der Mann ohne Eigenschaften«, dessen erster Teilband 1930 erschien, geht auf Vorarbeiten zurück, die bis ins Jahr 1898 reichen. Musil starb 1942; die bis dahin entstandenen Kapitel und Skizzen lassen vermuten, dass der Autor noch nicht einmal die Hälfte seines Stoffes verarbeitet hatte. Über den von ihm geplanten Handlungsverlauf kann nur spekuliert werden. Musil hatte über seinen Roman gesagt, dass er »kein Bekenntnis, sondern eine Satire« sei, ein anderes Mal hatte er erklärt: »Es ist keine Satire, sondern eine positive Konstruktion.«
Man erfährt im ersten Kapitel des Romans, wann die Handlung einsetzt: »Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.« Und man weiß, dass sie ziemlich genau ein Jahr später, mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, hätte enden sollen. Für die mehr als ein Dutzend Hauptfiguren hat Musil Geschichten geschrieben, er hat den Figuren jeweils bestimmte Ideen und soziale Rollen zugeordnet, an denen er, so darf man annehmen, auch kaum mehr etwas ändern wollte.
Ein wesentlicher Teil der Handlung beschäftigt sich mit der »Zwillingsschwester« Agathe, der der Protagonist Ulrich, ein Mathematiker, in einer Art Seelenliebe mehr und mehr verfällt. Ein weiterer wesentlicher Teil dreht sich um die sogenannte Parallelaktion, die fleißige österreichische Patrioten planen. Sie bereiten Feierlichkeiten zum 70. Thronjubiläum Kaiser Franz Josefs im Jahr 1918 vor und konkurrieren damit gegen deutsche Patrioten, die im selben Jahr das 30. Thronjubiläum Wilhelms II. begehen wollen. Das satirische Potential ergibt sich schon allein daraus, dass das Jubiläum im Jahr 1918 stattfinden soll, dem Jahr, das für den Untergang zweier Monarchien steht und das letzte Jahr des bis dahin schrecklichsten Krieges war.
Doch trotz dieses dramaturgischen Gerüsts hat Musil sein Material kaum mehr beherrschen können. Und dies liegt nicht allein daran, dass sich die Weltlage nach dem Erscheinen des zweiten Teilbandes radikal verändet hatte. Der Nationalsozialismus hatte obsiegt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 und dem Anschluss Österreichs 1938 war die gesellschaftliche Verfassung, die zum Ersten Weltkrieg geführt hatte, endgültig zusammengebrochen. Im Zweiten Weltkrieg dann galten Herrenreiter und edle Damen nicht einmal mehr als etwas Besonderes.
Musil aber ging es nicht einfach um eine Gesellschaftssatire, sein Roman war vor allem als ein Gedankenspiel angelegt. Über die Arbeit an seinem Buch sagte er: »Es stellte sich als Hauptschwierigkeit heraus, das im Laufe der Arbeit wachsende und, wie es in der Natur des Denkens liegt, auseinanderstrebende Ideenmaterial formal wieder einzufassen, und durch lange Zeit kamen solche Manuskripte (es gibt ungefähr 20 davon) nicht über einige hundert Seiten hinaus und brachen dann auseinander. Da sich aber bei diesem Vorgang gleichzeitig das Innere der Erzählung verdichtete, entstand sozusagen eine Folge von Stufen, die von verschiedenen Treppen herrührten und zu ­einer neuen Gestalt bearbeitet werden mussten.« Die »verschiedenen Treppen« wurden dem Autor selbst zum Problem, sie zu bewältigen, bereitet den Leserinnen und Lesern jedoch auch großes Vergnügen. Aus dem Konstruktionsfehler heraus entstand ein Romanfragment von atemberaubender Kompexität, das gleichzeitig unglaublich erheiternd ist.
Mit diesem Fragment nun setzt sich der Wiener Zeichner Nicolas Mahler auseinander, der zuvor bereits Werke von Thomas Bernhard verbildlicht und Texte von Lewis Carroll und H. C. Artmann kunstvoll miteinander verbunden hat. Seine Graphic Novel »Der Mann ohne Eigenschaften«, deren Plot er »nach Robert Musil« entworfen hat, reiht sich ein in diese gelungenen Adaptionen. So wie eine Romanverfilmung notwendigerweise auf einige Nebenhandlungen, die sich in der Vorlage finden, verzichten muss, um gelingen zu können, konzentriert sich Mahler auf das Wesentliche und lässt auch scheinbar Unverzichtbares einfach weg.
Weder die Schwester Agathe noch der geistvolle Preuße Paul Arnheim spielen eine Rolle in Mahlers Bildgeschichte, der berühmte Unfall im ersten Kapitel wird ebenso beiläufig in die Geschichte eingewoben wie das »geniale« Rennpferd. Wer den Roman nicht kennt, wird diese Bilder zur Kenntnis nehmen, ohne die Anspielung verstehen zu können, sie gehören hier nurmehr zum Setting.
Der Mädchenmörder Moosbrugger spielt neben Ulrich eine Hauptrolle, ebenso die »Pa­rallelaktion«, Graf Leinsdorf und Diotima aber bleiben Randfiguren ohne eigene Geschichte. Unvermeidlich war es für Mahler, die Figur des General Sturm von Bordwehr genauer zu beschreiben; niemand, der den »Mann ohne Eigenschaften« gelesen hat, mag diese Figur missen. Andere Figuren, das Dienstmädchen Rachel etwa, werden auf ihre Funktion reduziert.
Ulrich treibt Sport, schaut aus dem Fenster, beobachtet die Menschen auf der Straße und trifft sich mit seiner Geliebten. Über Moosbrugger schriebt Musil: »Er war ersichtlich krank; aber wenn auch offenbar seine krankhafte Natur den Grund für sein Verhalten abgab, die ihn von den anderen Menschen absonderte, ihm kam das wie ein stärkeres und höheres Gefühl von seinem Ich vor. Sein ganzes Leben war ein zum Lachen und Entsetzen unbeholfener Kampf, um Geltung dafür zu erzwingen.« Mahlers Moosbrugger reduziert alle Frauen auf ihre Geschlechtsmerkmale, erst hinter Gittern kommt er, soweit möglich, zur Ruhe.
Fenster, Türen und Gitter sind im Comic die Embleme des bürgerlichen Wien. Fast zeitlos antiquiert erscheint die Kleidermode. Mahler benutzt einige wenige Originalformulierungen von Musil, doch die Bilder sind sein wichtigstes Medium. Sein Strich ist reduziert und erinnert an den einer Karikatur. So erfindet der Zeichner seinen eigenen »Mann ohne Eigenschaften«. Da er sich auf Ulrich und Moosbrugger als gegensätzliches Paar konzentriert, das er am Ende sogar zusammenführt, kann Mahler in seiner Geschichte sogar auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verzichten. Das Ende seines »MoE« ist geradezu genial. Und das Kapitel mit dem Musilschen Titel »Ein Kapitel, das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat« ist von fast schon unfassbarem Bildwitz.
Fraglich bleibt bei all dem allerdings, was diejenigen von diesem Buch haben, die den Roman nicht gelesen haben. Ihnen bleibt der Sinn der Anspielungen verborgen, für sie haben die Figuren keinen Namen, ihr Distinktionsgewinn ist verhältnismäßig gering. Und dennoch werden auch sie am Ende einen »Mann ohne Eigenschaften« gelesen haben, einen eigenen, einen ersten.

Nicolas Mahler: Der Mann ohne Eigenschaften.
Nach Robert Musil. Graphic Novel. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2013, 18,99 Euro