Der Film »Blau ist eine warme Farbe«

Wieder nur das Andere

»Blau ist eine warme Farbe« gewann den Hauptpreis der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes. Dabei verzichtet der Film nicht auf Elemente des Mainstream-Pornos und untergräbt streckenweise das von ihm selbst behauptete Selbstverständnis gleichgeschlechtlicher Beziehungen.

Adèle gilt als »gefräßig« – das zumindest sagt ihr Emma, ihre Geliebte, einmal. Und tatsächlich zeigt Adèle einen gesteigerten Appetit: Beim Essen von Spaghetti gibt sie laut schmatzende Geräusche von sich und schleckt dazwischen genüsslich ihr Besteck ab. Sie mag auch die Fettschicht beim Schinken. Und als sie einmal in Tränen ausbricht, zieht sie umgehend unter dem Bett eine Kiste mit Süßigkeiten hervor, um sich mit einem Schokoladenriegel zu trösten. Es gibt in »Blau ist eine warme Farbe« einen ziemlich nahtlosen Übergang von kulinarischem Genuss zu sexuellem Begehren, wobei die Adèle zugeschriebene Gefräßigkeit auch eine Eigenschaft des Films ist. Denn der französisch-tunesische Regisseur Abdellatif Kechiche nähert sich seiner Hauptfigur bevorzugt in hemmungslos in Besitz nehmenden Einstellungen und Close-ups, die sie fast verschlingen. Besonders ihr Mund hat es Kechiche angetan: Adèles offen stehender, staunender und lächelnder, ihr schmatzender, mampfender, küssender, saugender und schluchzender Mund.
»La vie d’Adèle. Chapitre 1 & 2«, wie der Film im französischen Original heißt, ist die Verfilmung von Julie Marohs Graphic Novel »Le bleu est une couleur chaude«. Es ist die Geschichte einer ersten, erschütternd heftigen Liebe, eines sexuellen Erwachens. Zu Beginn des Films ist Adèle ein 15jähriger Teenager und geht noch zur Schule. Im Französischunterricht wird eine Textstelle aus »La vie de Marianne« von Pierre Carlet de Mariveaux besprochen, es geht um den coup de foudre, um die Liebe auf den ersten Blick – etwas, das sie kurz darauf selbst erfährt, als sie auf der Straße im Vorbeigehen einer Frau mit kurzen, blau gefärbten Haaren begegnet. Nach einem glücklosen Zwischenspiel mit einem Jungen aus ihrer Schule und der Verwirrung, die der Kuss einer Mitschülerin auslöst, trifft sie Emma wieder. Die beiden werden ein Paar, ziehen zusammen, einige Jahre später trennen sie sich.
»Blau ist eine warme Farbe« ist sensualistisches Erlebniskino der anderen Art, authentizistisch bis zum Anschlag, mitreißend und toll in vielen Momenten – so toll sogar, dass man die Probleme, die der Film eben auch hat, lieber ignorieren würde. In exzessiver Weise lässt der Film an Adèles Erfahrungen und Emotionen teilhaben, an ihrer Traurigkeit und Freude, ihrer Sehnsucht, ihrer Verwirrung und Lust. Sich dem gleichermaßen feinsinnigen wie wuchtigen Spiel von Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux zu entziehen, ist schlicht unmöglich. Ganz zu Recht hat die Jury des diesjährigen Filmfestivals in Cannes den Hauptpreis nicht nur dem Regisseur, sondern ebenso den beiden Schauspielerinnen überreicht. Selten hat man im Kino Figuren bei alltäglichen und weniger alltäglichen Dingen so genau beobachten können: wie jemand schaut, geht, rennt, schläft, isst, errötet, küsst, sich die Haare aus dem Gesicht streicht, Rotz und Wasser heult. Am Überzeugendsten aber ist der Film dann, wenn Kechiche es gar nicht so offensichtlich auf Intensität anlegt, sondern nicht viel mehr tut, als eine Stimmung einzufangen. Eine der schönsten Szenen des Films zeigt Adèles Geburtstagsparty im Garten ihrer Eltern. Die Erzählung tritt zurück und macht Platz für den bloßen Augenblick: Adèle tanzt, die Kamera hält ein wenig Abstand und zeigt sie in ihrer Umgebung – in der Verbindung zu dieser und wie sie zwischendrin in sich selbst zurückfällt, für sich ist.
Wesentlich expliziter geht Kechiche vor, wenn es um Klassenzugehörigkeit und Sex beziehungsweise Körperlichkeit geht. Schon bei der ersten richtigen Begegnung zwischen Adèle, die eine Ausbildung als Lehrerin machen wird, und der einige Jahre älteren Kunststudentin Emma tut sich ein tiefes Bildungsgefälle auf, an dem die Beziehung schließlich auch scheitert. Kechiche findet dafür allerdings eher schematische Szenen, wenn er etwa das erste gemeinsame Essen (Austern) bei Emmas Mutter und deren rotweinkennerhaften Partner mit einem Abendessen bei Adèles Eltern kontrastiert (Spaghetti Bolognese), die der Freundin mit den blauen Haaren ihre kleinbürgerlichen Ansichten über die Notwendigkeit eines soliden Berufs unterbreiten. Adèle bleibt bis zuletzt ein Gast in Emmas Welt – die Freunde reden ständig über Egon Schiele und Gustav Klimt (warum eigentlich nie über zeitgenössische Kunst?), bleiben aber eigentümlich stumm, wenn sie von ihrer Lehrerinnenausbildung erzählt. Auch die stockkonservative Rollenverteilung innerhalb der Beziehung schlägt irgendwann auf die Frauen zurück: Während Emma versucht, ihre Karriere als Malerin voranzubringen, steht Adèle in der Küche oder posiert der Künstlerfreundin als Modell. Kechiche entwirft sie recht gedankenlos als die klassische (heterosexuelle) Muse.
Interessanterweise hat das Thema unversöhnlicher Klassenzugehörigkeiten nun auch außerhalb des Films seine Fortsetzung gefunden. Nach dem Zerwürfnis des Regisseurs mit Seydoux – Anlass war ein Interview mit den beiden Schauspielerinnen, in dem vor allem Seydoux Kechiche autoritär, tyrannisch und manipulativ nannte und die Dreharbeiten (750 Stunden Material!) als eine einzige Tortur beschrieb – betonte dieser immer wieder seine migrantische, sozial niedere Herkunft und stellte sie in Opposition zu dem bourgeoisen Hintergrund seines verwöhnten Stars: Seydoux kommt aus einer Filmdynastie, sie ist die Enkeltochter des ehemaligen Präsidenten der Filmproduktionsgesellschaft Pathé sowie Großnichte des Geschäftsführers von Gaumont, des ältesten Filmproduktionsunternehmens der Welt.
Ziemlich unüberlegt behandelt Kechiche die Repräsentation des weiblichen Körpers. Um es kurz zu sagen: Ja, die Sexzenen sind pornographisch (aber nicht nur), schon allein deshalb, weil sie sich einiger Konventionen des Mainstream-Pornos bedienen (Nahaufnahmen, fragmentierte Körper). Man muss nicht so weit gehen wie Julie Maroh, die die Sexszenen in ihrer insgesamt doch sehr respektvollen Replik auf den Film eine »brutale und chirurgische, überbordende und kalte Zurschaustellung von sogenanntem lesbischen Sex« nannte, aber sie sind sicherlich nicht an ein lesbisches Pub­likum gerichtet. Und sie sind für sich genommen auch nicht transgressiv, auch wenn ihre Extensivität innerhalb eines Erzählfilms natürlich unkonventionell ist. Kechiches Überlegungen dazu sind auf jeden Fall überaus traditionell: »Als wir diese Szenen drehten, war mir vor allem daran gelegen, das zu zeigen, was mir selbst als schön erschien. Also haben wir sie so gedreht, als hätten wir es in Wahrheit mit Gemälden oder Skulpturen zu tun.«
Das eigentliche Problem ist jedoch nicht der Ästhetizismus, sondern mit welch essentialis­tischen Untertönen Kechiche von der lesbischen Liebe erzählt. Bei einer Party schwafelt ein Galerist völlig widerspruchsfrei von der Einzigartigkeit der weiblichen Sexualität und der Mystik des weiblichen Orgasmus – »Eure Augen schauen ins Jenseits«, sagt er. Das Selbstverständnis gleichgeschlechtlicher Beziehungen, das der Film die ganze Zeit behauptet, wird in diesen Momenten untergraben. Irgendwie ist die Frau hier doch wieder ganz klassisch das »Andere«, ein großes Geheimnis.

»Blau ist eine warme Farbe«. Regie: Abdellatif Kechiche. Darsteller: Léa Seydoux, Adèle Exarchopoulos. Kinostart: 19. Dezember