Denkmalschutz von unten in einer tunesischen Stadt

Eine Uhr, die die Zukunft zeigt

In Tunesien verfallen archäologische Stätten, weder vor noch nach dem Sturz von Zine al-Abidine Ben Ali hat sich der Staat ausreichend um den Erhalt wichtiger Baudenkmäler gekümmert. Dass sich dies ändern kann, zeigt eine Initiative in der nordtunesische Stadt Testour.

Abdullah Mehdi* ist ein vielbeschäftigter Rentner. Er läuft auf dem Platz vor der Großen Moschee zwischen den Tischen des von Zitronenbäumen gesäumten Cafés hin und her. Gegenüber, am anderen Ende des Platzes, stehen bärtige Männer vor der Ziegelsteinmauer der Moschee und schauen neugierig herüber. »Salamaleikum«, begrüßt Mehdi zwei ältere Herren am Nebentisch, die Karten spielen. Er deutet auf den Herrn in braunem Bournous-Mantel, der mühsam in die Sonne blinzelt. »Das ist ein Lehrer hier in der Stadt, ein ehemaliger Kollege, ein sehr gebildeter Mann.« Auch Mehdi war früher als Lehrer in Testour tätig. In der 12 000 Einwohner zählenden Stadt im Nordwesten Tunesiens kennt jeder jeden.
Das Besondere an der rund eine Autostunde von Tunis entfernten Stadt ist, dass sie im 17. Jahrhundert von muslimischen und jüdischen Mauren gebaut wurde, die sich nach ihrer Vertreibung aus Spanien hier auf dem Hügel über dem Fluss Medjerda ansiedelten. Die türkischen Herrscher des Gebiets, Othman und später Youssuf Dey, begünstigten die Ansiedlung der als tatkräftig und gebildet geltenden Mauren.
Nach ihrer Islamisierung durch die Araber bezeichnete man all jene aus Nordafrika stammenden Berber als Mauren, die die Araber bei der Eroberung der Iberischen Halbinsel als kämpfende Truppe unterstützten. Nachdem Boabdil, der Herrscher der letzten muslimischen Provinz, Granada, 1492 von den Truppen des vereinigten christlichen Spanien besiegt worden war, mussten alle verbliebenen Muslime und spanischen Juden das Land verlassen oder zum Christentum konvertieren. In den südspanischen Regionen Aragón, Valencia und in Andalusien bildeten sie einen wichtigen Teil der bäuerlichen Bevölkerung, bis der Herzog von Lerma zwischen 1609 und 1615 sie von dort vertrieb. Die meisten wanderten nach Nordafrika aus, einige ließen sich im Osmanischen Reich nieder, wieder andere zogen als Musikanten, Akrobaten und Moriskentänzer durch Europa. Die fruchtbare Region um Testour bot den Flüchtenden eine ideale Grundlage, um Landwirtschaft zu betreiben. Sie bauten Häuser sowie zahlreiche Moscheen und Mausoleen aus selbsthergestellten Lehmziegeln in der traditionellen andalusischen Bauweise.
»In Testour gibt es nur noch einen Menschen, der die Technik des Herstellens von Lehmziegeln beherrscht, Mohammed Menai«, erzählt Mehdi, der sich den Erhalt des kulturellen Erbes der andalusischen Flüchtlinge und ihrer Bauwerke sowie deren Nutzung mit seinem Verein für den Erhalt der Altstadt von Testour (ASM) zum Ziel gesetzt hat. Die Andalusier beeinflussten auch die klassische arabische Musik. Aus der Synthese zwischen andalusischer, türkischer und arabischer klassischer Musik entstand so der Malouf. »Dabei wird ein im tunesischen Dialekt singender Sänger von einem Orchester aus Flöten, Trommeln, einem Dudelsack, und ganz wichtig, der oud, der Laute, begleitet«, erklärt Manai Saber, Koordinator der Maison des Jeunes in Testour, des staatlichen Jugendzentrums, in dem eine jugendliche Malouf-Gruppe zweimal in der Woche probt.

Vom Jugendzentrum ist es nicht weit zur Altstadt und zur Großen Moschee, die um 1609 von dem Andalusier Mohammed Tagarino erbaut wurde. Mehdi zeigt auf das Minarett: Auf zwei Seiten des Turmes sind jeweils ein jüdisches und ein muslimisches Hexagramm eingemeißelt. »Juden und Muslime haben hier gemeinsam gebetet«, sagt er. Der breite achteckige Turm aus Ziegelsteinen ist sehr ungewöhnlich für ein Minarett. Das Sonderbarste an der Moschee ist jedoch die Uhr mit dem vergilbten Zifferblatt, dessen Ziffern von rechts nach links verlaufen. Oben befindet sich statt der 12 eine 21, dann nehmen die Zahlen von links nach rechts gesehen ab: 11, 10, 9 usw. Die Zeiger fehlen. »Die Uhr funktioniert schon seit langem nicht mehr«, sagt Mehdi. »Aber einige Bewohner erzählen, dass deren Zeiger aus Holz waren und sich von rechts nach links bewegten. Einige Bewohner sagen, die Uhr habe funktioniert, bis das Institut National du Patrimoine (INP, das staatliche tunesische Institut für das nationale Kulturerbe) hier in den dreißiger Jahren Bauarbeiten durchführte.« Das INP, das immer noch von Funktionären des Ben-Ali-Regimes geführt wird, ist in Tunesien für seine Untätigkeit bekannt. Zahlreiche archäologische Stätten verfallen, sie sind weder abgesichert noch restauriert. So können sie auch nicht von Touristen besucht werden. Der Leiter der Abteilung für den Erhalt von Denkmälern der Behörde habe erklärt, die Uhr habe noch nie funktioniert, doch Mehdi ist anderer Meinung: »Ich bin mir sicher, dass sie funktioniert hat. Es gibt Bewohner, die sich noch daran erinnern.«
Vergangenes Jahr kam ein Ingenieur aus Tunis, Abdel Halim Koundi, mehrmals nach Testour. Er interessierte sich für die Stadt, aus der seine andalusischen Vorfahren stammten. Sein Urgroßvater war Imam in der Großen Moschee gewesen. Koundi bestieg mehrere Male das Minarett, erkundete die Uhr und freundete sich mit den Salafisten an, die die Moschee seit dem Sturz von Ben Ali im Jahr 2011 kontrollieren. Koundi fand heraus, dass ein neues Uhrwerk, eine Achse aus Metall zum Anbringen der Zeiger und Zeiger aus Metall nur rund 6 000 Dinar (ca. 2 000 Euro) kosten würden. »Ich entwarf einen Plan für die Reparatur, der das Einsetzen einer Achse zum Anbringen der Zeiger, eines Uhrwerks und eines neues Zifferblattes vorsieht. Ich schickte den Entwurf an das Institut National du Patrimoine, indem ich meinen Vorschlag unterbreitete«, erzählt der Ingenieur. »Ich habe nie eine Antwort erhalten.«
Bei einem Besuch einer deutsch-tunesischen Expertengruppe aus Archäologen, Architekten und Designern von Universitäten und Behörden im Rahmen des Projektes »Architektonisches Erbe in Tunesien« in Testour wurde auch das Goethe-Institut auf die Uhr aufmerksam. Abdullah Mehdi und der von der islamistischen Partei al-Nahda 2011 ins Amt berufene Bürgermeister der Stadt, der hier nicht namentlich genannt werden möchte, gehörten der Projektgruppe »Me3marouNA« (»Unser architektonisches Erbe«) an. Diese hatte sich den touristisch noch wenig erschlossenen Nordosten Tunesiens ausgesucht, um am Beispiel der Baudenkmäler von Testour und der archäologischen Stätten Musti und Aïn Tounga Konzepte zu erarbeiten, um den Erhalt, die Verwaltung und die Nutzung des architektonisches Erbes Tunesiens in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung zu verbessern. Während der Besichtigung der Moschee erzählte der Bürgermeister der Direktorin des Goethe-Instituts, Christiane Bohrer, von Koundis Entwurf und von der Berechnung, wonach sich die Kosten für die Reparatur nur auf ca. 2 000 Euro belaufen würden. Daraufhin hatte Bohrer eine Idee. »Ich dachte, wenn jeder Bewohner von Testour einen Dinar spendet, haben wir das Geld für die Reparatur schnell zusammen«, erzählt sie. So könne auch das Bewusstsein der lokalen Bevölkerung für ihr architektonisches Erbe und ihre Identifikation mit den Denkmälern ihrer Stadt gefördert werden. Im November organisierte der Verein ASM dann gemeinsam mit dem Goethe-Institut eine Feier für die Uhr von Testour. Über 300 Personen, Bewohner der Stadt und der Umgebung, aber auch Studenten aus Tunis, nahmen daran teil. Einige Jugendliche waren von der ungewöhnlichen musikalischen Performance der Tänzerin Imen Smaoui und des experimentellen Musikers Mounir Troudi fasziniert, die bei dem Fest auftraten. »Wir haben das Konzert genossen. Es gibt hier in Testour nur wenige kulturelle Angebote, wenige Freizeitmöglichkeiten«, sagte der 17jährige Mohammed. Für die Uhr wurden bei dem Fest 1 000 Dinar eingesammelt. Ingenieur Koundi hielt einen Vortrag, in dem er die These vorstellte, die Zeiger der Uhr hätten sich einst von rechts nach links bewegt, weil sie an der Sonnenuhr im Innenhof der Moschee ausgerichtet seien.

Nach dem Fest ging der Verein ging von Tür zu Tür und sammelte Geld. Doch der Bürgermeister war skeptisch. »Die Spenden müssen auf eine glaubwürdige Art gesammelt werden, mit Spendenquittung«, erklärte er. Aber er machte mit und organisierte gemeinsam mit dem Verein ASM eine weitere Sammelaktion auf dem Souk, dem Wochenmarkt. »In dieser Stadt ist lange nichts passiert, wir müssen etwas tun für den Erhalt unserer Bauwerke und für den Tourismus«, erklärte er den Bewohnern.
Dass die tunesischen Medien immer mehr von der Spendenaktion des Vereins ASM berichten, störte den al-Nahda nahestehenden »Verein für architektonisches Erbe und Entwicklung«, der nach der Revolution 2011 ins Leben gerufen worden war. Im Zuge des beginnenden Wahlkampfs wollte dieser sich die Aktion ebenfalls auf die Fahnen schreiben. Der Bürgermeister wurde von seiner Partei unter Druck gesetzt.
»Mehdi ist bei einigen als Anhänger der Partei von Ben Ali, der RCD, verschrien«, erzählt der Bürgermeister an eine Mauer gelehnt, während er beobachtet, wie eine Besuchergruppe aus Tunis aus dem Bus steigt. Der Ausflug wird vom Radiosender IFM organisiert. Die Besucher strömen auf den Platz. Die Wintersonne scheint auf die gedeckten Tische des Cafés, die der Verein ASM für die Besucher vorbereitet hat. Der Bürgermeister wirft einen skeptischen Blick auf den Tisch, an dem die Vereinsmitglieder nun beginnen, Spenden für die Uhr zu sammeln. Der ältere Herr, der am Spendentisch sitzt, rückt seine Brille zurecht und blättert in den Listen der bisherigen Spender. Der Redakteur von Radio IFM begrüßt die Besucher: »Bonjour, Testour. Wir möchten Eure Stadt kennenlernen und haben Künstler mitgebracht, wir wollen Geld für die Uhr sammeln.« Dicht neben ihm steht Ingenieur Koundi in grauem Jackett.
Anfangs habe er mit dem Verein nichts zu tun haben wollen, erzählt der Bürgermeister weiter. Doch dann habe er Mehdi bei der gemeinsamen Studienreise nach Deutschland im Rahmen des Projektes »Architektonisches Erbe« des Goethe-Instituts näher kennengelernt, bei so manchem alkoholfreiem Bier. Sie hätten viel diskutiert.

Auf der anderen Seite des Platzes stehen mehrere Männer am Eingang der Moschee. Wenig später nehmen sie an einem der Cafétische Platz und lauschen dem Künstler, der Witze macht und gerade Ben Ali in Tunis-Dialekt imitiert. Eine junge Touristin aus Tunis betritt den Eingang der Moschee. Sie hat ein grünes Tuch lose um ihren Kopf gebunden, die brauen, langen Haare schauen heraus. »Binden Sie es enger«, ermahnt sie ein hagerer Bärtiger. Die Frau echauffiert sich: »Ach kommen Sie, das ist doch lächerlich.« »Entweder Sie respektieren diese Regeln oder Sie können nicht reingehen«, mahnt der Bärtige. Die Frau schwingt ihr Bein über die Türschwelle und läuft rasch in den von einem Säulengang gesäumten Innenhof der Moschee. Der Bärtige blickt hinüber zu Mehdi, zu dem sich jetzt einige Freunde des Vereins gesellt haben, seine Miene verfinstert sich: »Mit ihm möchte ich nichts zu tun haben«, sagt er verächtlich. »Ich bin einer seiner ehemaligen Schüler. Er hat meinen Bruder als Islamisten denunziert. Daraufhin wurde er verhaftet und musste viele Jahre im Gefängnis verbringen«, sagt er. Seine Glaubensgenossen schauen sich die Broschüre des Goethe-Instituts über die Bauwerke von Testour an. »Was ist das denn?« fragte einer. »Das ist doch das Mausoleum Nasr Garouachi, kennst du das nicht?« lacht ihn sein Kumpel aus. Die Kampagne zur Reparatur der Uhr der Moschee fände er gut. Sie funktioniere nicht mehr, weil ihre Zeiger von französischen Generälen geklaut worden seien. »Aber wir wollen kein GPS.« Seine Kameraden nicken energisch.
Am Spendentisch werfen die Touristen fleißig Münzen und Scheine in die Kasse. Am Ende sind 4 000 Dinar beisammen. Viele ältere Männer sitzen auf dem Platz, schauen dem Spektakel zu und werfen einen Blick in die Broschüre über die Baudenkmäler ihrer Stadt.
Die Aktion mit der Uhr sei nur ein Beispiel für den Versuch, den Zustand der Wohnhäuser, der Moscheen und Mausoleen zu verbessern, die bereits an einigen Stellen verfallen sind und dringend restauriert werden müssen, meint der Schatzmeister des Vereins ASM, der der angesehenen Familie Sbiss angehört. Die Entscheidung des INP, ob die Uhr der Großen Moschee repariert werden darf, steht noch aus.
Aber die Bewohner von Testour sind über die Kampagne miteinander in Kontakt gekommen. Kulturtourismus könnte mehr Arbeitsmöglichkeiten in Testour schaffen, vor allem für die jungen Leute, die die Stadt meist schnell verlassen. »Seit der Revolution kommen wesentlich weniger Touristen«, erzählt ein Fahrer aus Tunis, der Besucher mit dem Taxi nach Testour bringt. »Früher kamen bis zu 15 Schiffe pro Woche am Hafen von La Goulette an. Heute sind es nur noch zwei bis vier.« Er hoffte, dass bald eine Regierung gewählt wird, die nicht nur an Gott, sondern auch an die Bevölkerung denkt.

* Name von der Redaktion geändert