»Gefahrengebiete« und gezielte Eskalation

Bürsten, Bullen und Bambule

Die politische Eskalation in Hamburg war von Anfang an gewollt. Eines hat das inzwischen aufgehobene »Gefahrengebiet« sicher nicht gebracht, nämlich Ruhe und Ordnung.

Sie sollten »besonders in der Nähe von großen Versammlungen, Protesten oder Demonstrationen« Vorsicht walten lassen, konnten US-Bürger Anfang Januar in einer E-Mail ihrer Botschaft lesen. Auch sollten sie ihren Pass stets dabeihaben, da die Polizei in bestimmten Gebieten ohne Anlass Personenkontrollen durchführen und Menschen, die sich nicht ausweisen können, ohne weitere Begründung festhalten dürfe. Zudem habe die Polizei die Befugnis, Personen anzuhalten oder ihnen den Aufenthalt in bestimmten Stadtteilen zu verbieten.

Diese Warnung richtete sich nicht etwa an US-Amerikaner in Kairo oder Kiew, sondern an Besucher der laut gut informierten Kreisen »schönsten Stadt der Welt«, nämlich Hamburg. Dort hatten Innenbehörde und Polizei kurz zuvor große Teile der Stadt zu einem sogenannten Gefahrengebiet erklärt, in dem der Exekutive weitreichende Befugnisse eingeräumt wurden, ohne dass dies auch nur durch ein Gericht genehmigt sein musste (siehe auch Jungle World 02/14). Derartige Polizeistaatszonen kennt man in Hamburg schon länger; sie gehen auf die Initiative des früheren Innensenators Ronald Schill zurück und werden in unschöner Regelmäßigkeit dort eingerichtet, wo die Polizei meint, mal wieder so richtig aufräumen zu müssen – im vergangenen Jahr beispielsweise im Schanzenviertel, wo die »Gefahr« nach Meinung der Behörden vom Handel mit Cannabisprodukten ausging.
Neu ist die Dimension der Maßnahme, und das in jeder Hinsicht. Das »Gefahrengebiet«, ausgerufen auf unbefristete Zeit, erstreckte sich anfangs von der Schanze über St. Pauli bis nach Altona und war damit das bisher größte seiner Art. Mit den rund 50 000 Einwohnern, die so unter Generalverdacht gestellt wurden, ließen sich ein bis zwei Kleinstädte bevölkern. Auch das Auftreten der Polizei setzte neue Maßstäbe: Mit Mannschaftswagen und behelmten Einheiten an praktisch jeder Straßenecke wurde ein Belagerungszustand geschaffen, Anwohner berichten von Durchsuchungen ihrer Einkaufstüten, Polizeibegleitung beim Müllrausbringen und Kontrollen »verdächtiger Menschenansammlungen« – an einer Bushaltestelle.
Innensenator Michael Neumann (SPD) hält dieses Vorgehen für »ebenso selbstverständlich wie Alkoholkontrollen im Straßenverkehr«, wie er in einer Sitzung des Innenausschusses zur von der Polizei verhinderten Demonstration vom 21. Dezember und den Folgen erklärte. Dass der angebliche Angriff auf die Davidwache, der als Anlass für die Einrichtung des »Gefahrengebiets« herhalten muss, nach übereinstimmenden Zeugenaussagen offenbar nie stattgefunden hat, ficht Neumann nicht an. Auch betonte er: Politische Probleme gebe es in Hamburg nicht. Offenbar hat die Innenpolitik das altbekannte Autonomen-Motto für sich entdeckt: »Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt.«
Soviel Wurschtigkeit erstaunt selbst langjährige Kenner der nicht selten kafkaesken Hamburger Politik. Dass die Mieter der »Esso-Häuser« an der Reeperbahn kurz vor Weihnachten mitten in der Nacht ihre Wohnungen räumen mussten, weil der Eigentümer unter den Augen des Senats die Gebäude in Spekulationsabsicht so lange hatte herunterkommen lassen, bis akute Einsturzgefahr bestand – das ist also kein politisches Problem. Ebenso wenig die weiterhin ungeklärte Situation der Lampedusa-Flüchtlinge oder die Frage nach der Zukunft der von der Räumung bedrohten Roten Flora. Da fragt man sich, wozu die Stadt überhaupt einen Innensenator braucht, wenn doch alles so schön in Butter ist. Ach so, klar: zur Befehligung der Polizeitruppen. Denn anders als etwa die Taz vermutet, ist die Eskalation nicht allein darauf zurückzuführen, dass in der Polizeiführung noch immer Hardliner sitzen, die unter Schill zu Amt und Würden gekommen sind und nun die Politik vor sich hertreiben, sondern sie war von Anfang an politisch gewollt; das immerhin hat der bizarre Auftritt Neumanns im Innen­auschuss noch einmal deutlich gemacht.

Wie die Machtprobe ausgehen wird, ist allerdings offen, denn eines hat das »Gefahrengebiet« ganz sicher nicht gebracht, nämlich Ruhe und Ordnung. Vielmehr hat es seit seiner Ausrufung in der Stadt keinen ruhigen Tag gegeben. Neben der klassischen Aktionsform ständiger Spontandemonstrationen – bereits im vergangenen Herbst ein probates Mittel, um die Polizei schon allein aus Personalknappheit zur Aufgabe ihrer Kontrollen der Lampedusa-Refugees zu zwingen – ließen sich die Anwohner einiges einfallen, um die Einsatzkräfte an den Rand ihrer Kapazitäten (auch der nervlichen) zu bringen und die Absurdität des »Ausnahmezustands light« aufzuzeigen.
So riefen die Blogger von »Schlecky Silberstein« (früher »Spiegel offline«) zum »Real Life Game Dangerzone« auf: »Man macht einen Spaziergang durch die Gefahrenzone und trägt dabei möglichst auffällige Klamotten, um eine Polizeikontrolle herbeizuzaubern. Ebenso wird empfohlen, Backpulver und Oregano in kleinen Plastikpäckchen mitzuführen. Denn es geht um Punkte. Einchecken in die Zone: fünf Punkte; Polizeikontrolle: fünf Punkte; Aufenthaltsverbot: zehn Punkte; Platzverweis: 15 Punkte; Mitgenommen werden auf die Wache: 20 Punkte; Twitter-Pic aus der Gefahrenzone: zehn Punkte« – und so weiter.
Nach dieser Wertung steht der Sieger bereits fest: ein anonymes junges Genie, dem die Beamten vor laufender Kamera eine Klobürste aus dem Hosenbund zogen. Seit diese Szene im ARD-Nachtmagazin ausgestrahlt wurde, hat das oftmals verkannte Haushaltsutensil eine rasante Karriere als Protestsymbol gemacht, sei es als kleidsames Aktionsaccessoire, Demoparole (»Klo, Klo-, Klobürsteneinsatz!«), Graffiti oder Internet-Mem. Und neben der Toilettenbürsten- dürfte sich auch die Bettfedernindustrie freuen, denn nach einer Kissenschlacht mit mehreren Hundert Teilnehmern vor den geräumten »Esso-Häusern« waren sicherlich etliche Neuanschaffungen fällig.
Einen ersten Erfolg konnte die Klamaukguerilla verzeichnen, als nach einigen action-reichen Tagen und Nächten das »Gefahrengebiet« auf drei »Gefahreninseln« rund um die Polizeiwachen des Areals verkleinert wurde. Diese umfassten allerdings noch immer große Bereiche des ursprünglichen Gebiets, zudem behielt sich die Polizei vor, ihre Kontrollen auch außerhalb der »Inseln« fortzuführen. Jedoch zeigte dieser Schritt, dass die Kräfte der Staatsmacht nicht unbegrenzt sind. Schließlich wurden auch diese aufgehoben ein Fortbestand der Gefahrengebiete sei »nicht mehr erfoderlich und daher deren Aufhebung auch juristisch geboten«, hieß es in einer Pressemitteilung der Hamburger Polizei am Montag. Selbst für die Hamburger Morgenpost, die in den vergangenen Wochen als inoffizielles Zentralorgan der Deutschen Polizeigewerkschaft fungiert hatte, schrieb, hatte sich das »Gefahrengebiet« zur Blamage entwickelt. Auch der Tourismusverband war gar nicht glücklich, schließlich sind mit der Schanze und der Reeperbahn die beiden größten Partymeilen der Stadt betroffen.

So fröhlich – oder vielleicht besser: galgenhumorig – der Protest sich nun auch präsentiert, so ernst ist der Anlass. Und zwar nicht nur, was die Auswirkungen auf die unmittelbar Betroffenen angeht – für Menschen ohne Aufenthaltspapiere etwa kommt das »Gefahrengebiet« einer Ausgangssperre gleich –, sondern auch als gravierender Schritt in der fortschreitenden innenpolitischen Aufrüstung. Dass eine halbe Stadt einfach so zum rechtsfreien Raum erklärt werden kann, sollte selbst an allerhand Polizeiwillkür gewohnte Routinezyniker erschrecken. Dabei ist Hamburg kein Einzelfall: In Berlin heißen die »gefährliche Orte«, und auch dort hat die Polizei weitreichende Sonderbefugnisse, die sie etwa bei Razzien gegen mutmaßliche Dealer regelmäßig wahrnimmt. Eines hat Hamburg Berlin allerdings voraus, nämlich den Ruf einer liberalen, weltoffenen Stadt, und dieses Selbstbild lassen sich ihre Bewohner nur ungern ruinieren. Entsprechend groß ist das Unverständnis für das Auftreten der Polizei auch außerhalb des linksradikalen Milieus. Mit dieser Stimmung und einem langen Atem könnte es den Aktivisten gelingen, dem Senat eine schwere politische Niederlage zu bescheren und so auch über die Stadtgrenzen hinaus zu beweisen, dass sich soziale Konflikte nicht mit dem Polizeiknüppel lösen lassen. Und dann hätte Hamburg den Ehrentitel der schönsten Stadt der Welt tatsächlich wieder verdient.