Rassistische Gewalt ist Realität

Es ist schlimmer als in den Neunzigern

Dass die offizielle Politik in Deutschland weniger rassistisch erscheint, liegt auch daran, dass ein Großteil der Migrationsabwehr heute an den europäischen Außengrenzen stattfindet. Zu behaupten, die Zustände hätten sich gegenüber den neunziger Jahren insgesamt verbessert, ist daher vermessen.

Mit dem Jungle World-Schwerpunkt zu »deutschen Dörfern« (45/13) wurde eine Debatte über die Praxis linker Intervention angesichts zunehmender rassistischer Hetze und Verfolgung begonnen. Mehrere Autoren argumentierten, dass die Reaktion überspitzt und die Analysen unzureichend seien. Bundesweite Aufrufe, in abgehängte Ostnester wie Greiz oder Schneeberg zu fahren, wurden als linke Kompensationsleistung gedeutet, die nachholen solle, was in den Neunzigern versäumt worden sei. Dem Versuch Felix Fiedlers, die Notwendigkeit antirassistischer Interventionen zu verdeutlichen (49/13), wurde mit dem Vergleich eines SED-Parteitages geantwortet. Diese Debattenbeiträge wurden auf der Facebook-Seite der Jungle World dankbar bejubelt, mit dem Hinweis, dass nun endlich dem linken Herbeihalluzinieren eines rassistischen Konsenses entgegengewirkt werde. Felix Schilk und Tim Zeidler gaben in ihrem Beitrag (48/13) zu Papier, dass gerade die sächsische CDU verdeutliche, dass es keinen rassistischen Konsens gäbe. Die von Andrej Reisin (46/13), Schilk und Zeidler als Appell zur Reflexion verstandenen Beiträge werten notwendige antirassistische Interventionen als Überreaktion ab. Der ständige Vergleich mit den Pogromen von Hoyerswerda und Lichtenhagen sowie den Brandanschlägen von Mölln und Solingen seien Verbalradikalismus. Reisin bringt es prägnant mit einem »Das sind nicht die Neunziger, Baby« auf den Punkt.
Andrej Reisin stellt den Ereignissen von Schneeberg und Greiz einen Ausflug in die Hamburger Innenstadt entgegen, in der es eines Novembertages geschah, dass tatsächlich mal 10 000 Menschen für die Rechte von Geflüchteten auf die Straße gingen und eines anderen Novembertags sich Bürgerinnen und Bürger eindeutig für das Bleiberecht der Lampedusa-Gruppe einsetzten. Anhand einzelner Solidaritätsaktionen nachweisen zu wollen, der gesellschaftliche Diskurs habe sich seit den neunziger Jahren grundsätzlich entschärft, ist eine Überinterpretation. Auch auf das Hinterwäldlertum der Schneeberger zu verweisen, ist nicht nur sehr kurz gegriffen, sondern reproduziert ein bürgerliches Verständnis von Rassismus, das Fremdenfeindlichkeit mit sozialer Deklassierung erklärt.
Doch auch wenn sich die Diskurse verändert haben, ist die Lage nicht besser geworden. Das zeigen die gerade in diesem Jahr erneut hochgeschnellten Zahlen von Bränden in von Migranten freiwillig oder unfreiwillig bewohnten Unterkünften. Diese Gewalt ist Realität. Auch wenn Politiker heute nicht mehr wie in den Neunzigern leichtfertig den Rassismus schüren, so sind rassistische Positionen allerorts doch deutlich zu erkennen. Genau deshalb muss die Linke endlich ein Verständnis dafür entwickeln, wie eine diskursive Formierung gesellschaftlicher Hegemonien funktioniert.
Es war in den Beiträgen hier davon die Rede, dass es heute keinen rassistischen Konsens gebe. Dem liegt die Auffassung zu Grunde, dass soziale Gegebenheiten nur beschreibbar sind, wenn sie eindeutig sind. Da es keine auszumachende Einigung auf rassistische Praktiken der Staatsapparate gibt und auch in der Bevölkerung unterschiedliche Positionen auszumachen sind, liege folglich kein gesellschaftlicher rassistischer Konsens vor. Das mag stimmen, wenn man nur über Konsens, als eine von allen gemeinsam getroffenen und getragenen Entscheidung spricht. Was damit jedoch nicht reflektiert wird, ist die stattfindende Konsensualisierung. In den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen wird durchaus versucht, Konsense zu schaffen. Deshalb ist es nicht zwingend notwendig, dass es eine gemeinsame Entscheidung für eine antimigrantische Praxis gibt. Selbst nivellierende oder gar konträre Positionen ändern nichts daran, dass insgesamt versucht wird, einen Konsens gegen Migranten zu konstruieren.
Was hier jedoch zustande gebracht wird, sind Hegemonien. Allerdings wird – und das ist eben der entscheidende Unterschied zu den Neunzigern – heute viel mehr an das Humanitäre apelliert. So ist ja gerade der Schutz von Freizügigkeit und Asylrecht die Argumentationsgrundlage für CDU wie SPD, einen Einreisestopp für Migranten aus Rumänien und Bulgarien zu fordern oder restriktiv den Kampf gegen irregulär eingereiste Syrierinnen und Syrer zu verfolgen. Das hier nun ausgerechnet die beiden Asylkompromiss-Parteien im Namen des Asylrechts argumentieren, ist keinesfalls Ausdruck veränderter politischer Positionen.
Für den Staat stellt es heute keinen Widerspruch dar, »Multikulti« für gescheitert zu erklären (Angela Merkel) und sich wenig später in Mitleidsbekundungen für die NSU-Opfer zu üben. Beides dient der Aufrechterhaltung des Glaubens an den funktionierenden Staat und seine innere Sicherheit. Bedient wird hier sowohl der Angstdeutsche, der sich vom Staat im Angesicht »zunehmender Überfremdung« im Stich gelassen fühlt, als auch der staatstreue Humanist, dessen Glaube an die Sicherheitsorgane durch die NSU-Morde erschüttert wurde.

Der Inszenierung der Aufnahme von gerade mal 5 000 syrischen Flüchtlingen geht man hier auf den Leim und redet sich so ein, die Verhältnisse seien beruhigt. Dass diese Flüchtlinge eigens ausgewählt werden, damit sie auch zweifelsfrei die Anforderungen des Paragraphen 25 AsylG erfüllen, dass sie sowohl im Herkunftscamp als auch in den BRD-Lagern mehrfach geheimdienstlich ausgefragt und kontrolliert werden, scheint dabei irrelevant zu sein.
Gleichzeitig entfachen Forderungen nach einer Einschränkung der Freizügigkeit oder der Visavergabe für den südosteuropäischen Raum in kürzester Zeit eine enorme Massenwirkung. Dies zeigt, dass es eben doch eine solide Grundlage für Hetze gegen Migration gibt. Und dass, obwohl selbst die vom ehemaligen Innenminister Hans-Peter Friedrich erhobenen Forderungen alles andere als eine Radikalisierung sind. Sie bleiben hinter der strukturellen Ämterschikane von Rumänen und Bulgaren zurück. Während Anfang des Jahres die CSU den Plan verkündete, sogenannte Armutsmigranten biometrisch zu erfassen, wurden bereits vergangenen November in München alle sich im Bahnhofsviertel aufhaltenden Bulgarinnen und Bulgaren vom Zoll in einen Hinterhof gedrängt, kontrolliert und mit grünen Armbändern markiert. Man erzählte ihnen, sie dürften bis Jahresende keiner Arbeit mehr nachgehen. Wer sich mit Menschen aus Rumänien oder Bulgarien zusammensetzt, wird von einer Vielzahl von Sonderbehandlungen auf allen Ebenen hören. Dabei handelt es sich hier um EU-Bürger, deren Lage noch um einiges besser ist, als die von Migrantinnen und Migranten aus Drittstaaten.
So sähe das hier in der Debatte ebenfalls als positives Beispiel angeführte Szenario von Wandsbeck sicherlich ganz anders aus, hätte es sich dort um eine Gruppe prekär lebender rumänischer Roma gehandelt. Doch argumentieren die bisherigen Diskutanten nur innerhalb des staatlich bestimmten Flüchtlingsbegriffs und gehen keinen Schritt darüber hinaus, obwohl durch mittlerweile über 45 mögliche Aufenthaltstitel von Staatsseite eine enorme Zahl von Rechtssubjektivierungen entstanden ist.
Für die staatliche Seite besteht eben auch keine Notwendigkeit mehr, auf einen rassistischen Kurs zu setzen – zumindest nicht innerhalb der BRD. Denn die Gewalt wurde mit der Expansion der EU immer weiter an die Außengrenzen verschoben. Hierzulande kann man sich kaum mehr die Situation in den Lagern an den Grenzen vorstellen und noch viel weniger die Gewaltvor der die Menschen fliehen. Insofern ist die Art und Weise, wie hier die Debatte geführt wird, vermessen. Die konfrontative Auseinandersetzung mit der eigenen politischen Szene wird fetischisiert, während man sich mit den neuen Formen des Rassismus, dem europäischen Grenzregime und mit den antimigrantischen Debatten gar nicht beschäftigt.
So wird verständlich, warum in den hier kritisierten antirassistischen Protesten so oft auf die Neunziger angespielt wird: Weil zum einen die Bürger darauf hingewiesen werden müssen, dass sie erneut zu Tätern werden. Und weil die Linke einfach zu geschichtsvergessen ist. Am Vorwurf verkürzter Analyse erfreut man sich, und das Komplettversagen in den Neunzigern wird ad acta gelegt. Exakt wie es die Geschichtsschreibung von oben in Hoyerswerda oder Lichtenhagen auch praktiziert.
Es ist nicht so schlimm wie in den Neunzigern. Es ist wesentlich schlimmer.

Der Autor arbeitet für Kritnet und die Kampagne »Rassismus tötet!«