16.01.2014
Hamburg, eine Inszenierung

Hamburg, ein Wintermusical

Wie ist es dazu gekommen, dass sich die Jets und die Sharks in der Hansestadt so krass bekämpfen? Und wie wird das Stück ausgehen? Eine North Side Story.

»I’ll crack the top of your skulls if you punks don’t stop when I whistle.« Officer Krupke, West Side Story

In den vergangenen Jahren war es ja so, dass man Berlinern diese Stadt ganz einfach erklären konnte: Hamburg, das ist da, wo eure Eltern mit L’Tur-Städtereisen hinfahren, um nach dem Musical-Besuch auf der »sündigen Meile« mal richtig einen draufzumachen, sich ganz nebenbei ein wenig über die umfallenden Säufer zu gruseln und sich von Sex-Shops an die eigene Libido erinnern zu lassen. Da, wo Busladungen rüstiger, geistig jung gebliebener Best-Ager auf der Reeperbahn ausgekippt werden, um Udo-Jürgens-Hits singend in die »Ritze« zu ziehen und Likörchen runterzukippen. Im Gelächter vergisst man dann auch, dass sich ein Stockwerk unter dem Tresen, an dem man gerade noch ein Bier bestellt, die ehemalige Kiezgröße Stefan Hentschel an der Boxsackaufhängung aufgeknüpft hat.
Oder auch: Hamburg, das ist da, wo reiche Pfeffersäcke die ach so urdemokratische Volksabstimmung für ihre Zwecke benutzen können, um zu verhindern, dass ihre Statthalter mit ganz normalen Kindern die Schulbank drücken müssen. Es ist eine Stadt, der es nie peinlich war, dass sie alles für Touristen macht und nichts für ihre Bürger. Wer Gerhard Schröder vorwirft, in seiner Zeit als Kanzler der beste Neoliberale seit der Erfindung der SPD gewesen zu sein, der kennt die Hamburger Sozialdemokraten nicht. Denn die fast neun Jahre währende CDU-Herrschaft unter Ole von Beust ist rückblickend betrachtet auch nicht besser oder schlechter gewesen als die derzeitige Regierung des Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz (SPD).
Doch seit die Demonstration am 21. Dezember vollends eskalierte und in der Errichtung eines riesigen »Gefahrengebiets« mündete, hat die Entwicklung Hamburgs eine neue Dimension erreicht: Die Freie Hansestadt hat es geschafft, mehr zu sein als die Musical-Stadt Deutschlands; vielmehr ist sie selbst zum Musical geworden – samt einem einfach gestrickten Plot, in dem das Gute und das Böse holzschnittartig charakterisiert werden. Die Choreographie aller Darsteller ist atemberaubend, die Musik eingängig. Das Bühnenbild, ein Areal zwischen Elbe und der Villenallee Rothenbaumchaussee, wurde unter der Anleitung des umtriebigen von Beust einzigartig gestaltet: hier das Reichenghetto Hafen-City, das mit seiner Atmosphäre ein wenig an die Innenstadt aus »Clockwork Orange« erinnert, dort das florierende Vergnügungsviertel mit Glitzerlichtern rund um die Reeperbahn, eingerahmt von einer schicken Altbauzone mit Szeneläden und großstadttypischer Patina aus Graffiti und linken Insignien in der Schanze.
Das Stück wird überregional beachtet – wobei die Kritiken von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bis zur Tageszeitung sehr unterschiedlich ausfallen. Sogar die US-Botschaft lieferte eine Rezension, in der sie davor warnte, Stadteile wie St. Pauli und das Schanzenviertel zu besuchen. Hamburg 2014: Das ist die Open-Air-Aufführung einer modernen Version der »West Side Story« auf 755 Quadratkilometern. Und wie bei Musicals üblich, ist die Aufführung ein Kassenschlager – vor allem bei der jüngeren Zielgruppe, die gespannt auf den nächsten Akt wartet. Insbesondere die Polizei konnte mit ihrer Performance, einer Mischung aus bad cop und sad cop, viele überraschen und inspirieren, an dem Stück selbst mitzuwirken. In der Provinz wird man als Hamburger daher hofiert wie Helene Fischer von der ARD und mit leuchtenden Augen gefragt: »Warst du auch dabei? Hammer, was da abgeht! Muss bestimmt krass sein, da zu wohnen.«

Daher nun ein Ausriss aus dem Programmheft:

Prolog und erster Akt: Die Jets (gespielt von der Polizei) und die Sharks (gespielt von dem Demonstranten) sind seit Jahren verfeindet. Es geht darum, wer im Barrio das Sagen hat. Seit 2001 versuchen die Jets, angestachelt von ihren Anführern, Ronald Schill und Udo Nagel, die Sharks endgültig zu schlagen. Bis auf ein paar Scharmützel und eine neue Grenzziehung in den betroffenen Blocks tröpfelt die Geschichte ein wenig vor sich hin. Denn die alten Kriege sind ausgefochten, die große Liebe der beiden – die Flora – ist mit einem Investor zusammen und kommt immer mehr im Establishment an. Ihr Charme verblasst und im Viertel wird sie nur noch neben Edelaltbauten und schicken Cafés für Models und Werbemenschen gesehen. Kurzum: Sie wird langweilig. Und da die Hamburger SPD als gutmütige Tante alle anderen Streitpunkte, wie die offene Coffeeshop-Szene, vorsorglich verschwinden ließ, ist noch weniger los in der Schanze und auf St. Pauli. Der Höhepunkt in diesen Jahren ist die Räumung des Bauwagenplatzes Bambule.
Zwischendurch darf jeder mal einen Schmachtfetzen anstimmen und so für die eigentümliche Folklore dieser Stadt sorgen. Die Jets singen zusammen im Chor mit den beiden Polizeigewerkschaften: »Against the Sharks we need every man we got.« Dann schenkt ihnen ihr Anführer Schill neue Uniformen und sie fühlen sich überlegen: »Oh, when the Jets fall in at the cornball dance, we’ll be the sweetest dressin’ gang in pants! And when the chicks dig us in our Jet black ties, they’re gonna flip, gonna flop, gonna drop like flies!«

Zweiter Akt: Doch Schill verträgt diese Stille nicht. Er wird drogensüchtig (Koks), verliert seinen Verstand und wird mit einem pfenniggroßen Lippenherpes aus der Stadt gejagt. Sein Kompagnon Nagel versucht ab 2004 als Innensenator seine Truppe bei Laune zu halten, scheitert aber trotz unmenschlicher Abschiebungen, in denen er seine Männlichkeit unter Beweis stellt, kläglich und wird vier Jahre später ebenfalls verjagt und durch den fleischgesichtigen Christoph Alhaus ersetzt. Fortan hängen die Jets mit den Grünen rum und werden immer unruhiger: Sie haben neue Uniformen, eine geile Pferdestaffel, abgefahrene Wasserwerfer, aber es gibt keine Partys mehr für sie.
Doch auch bei den Sharks grummelt es: Sie finden immer weniger Plätze, um sich zu treffen. Nach dem Schock über die krasse Zustimmung der meisten Hamburger für die Jets erkennen sie, wie spießig Hamburg doch außerhalb ihres Viertels ist und wie verloren sie sind. Statt rumhängen zu können, müssen sie jetzt hart schuften, um die Kohle für ihre abgeranzten Wohnungen zu beschaffen. Sie eröffnen selbst Szeneläden, neue Clubs, in denen sie ihre Subkultur und Gangsigns an Touristen und Hipster verhökern. Sie werden erwachsen und geradlinig. Sie haben nicht mehr die Zeit, sich den ganzen Tag mit ihrer Garderobe zu beschäftigten oder die Renaissance des Hippies einzuläuten, wie es den Berlinern vergönnt ist. Das macht sie zwar sehr erfolgreich, aber sie spüren, dass dies eine Sackgasse ist – denn die Jets wetzen die Messer und provozieren immer häufiger.
Und dann gibt es plötzlich Gerüchte, dass der Investor seine Flora betrügt. Die neuen Liebschaften namens Riverkasematten und Brandshof fressen Klaus-Martin Kretschmars Vermögen auf. Die Flora wird misstrauisch – und als Kretschmar droht, sie zu verlassen, und sie sogar an eine Bande Immobilienhaie verkaufen will, erinnern sich die Jets und Sharks an die Schlachten, die sie einst ihretwegen schlugen. Die letzten Getreuen Schills in der Polizeiführung namens Peter Born und Hartmut Dudde, die immer noch viel Macht bei den Jets haben, hoffen, dass sie jetzt endlich den Plan vollenden können, die Flora zu dem zu machen, was sie immer schon wollten, bevor die Sharks ihnen die Party vermiesten: Sie wollen ihr alles Subversive austreiben und sie in die bürgerliche Mitte führen.
Beide Banden wittern jetzt ihre Chance, das Viertel endlich zu regieren und mit der Flora eine lebenslange, unbeschattete Romanze einzugehen. Und so stimmen beide ein: »We’re gonna rock it tonight, we’re gonna jazz it up and have us a ball! They’re gonna get it tonight; the more they turn it on, the harder they fall!« Sie singen das Lied bei jeder Gelegenheit: bei den Demos für die Lampedusa-Flüchtlinge, bei den Protesten gegen den Abriss der Esso-Häuser und auch nachts, wenn sie ohne Anlass durch die Straßen ziehen, um sich gegenseitig ein wenig aufzumischen.

Finale: Doch die Sharks werden von Born und Dudde gezwungen, dreckig und ohne Rücksicht auf Verluste zu kämpfen. Sie schlagen im finalen Kampf alles kurz und klein, was ihnen in den Weg kommt. Plötzlich geht es nicht mehr um die Flora oder andere Probleme. Beide Seiten rüsten auf und verlaufen sich in wahnsinnigen Attacken. ENDE