Kanza Kassimi im Gespräch über ein Foto, das drei marokkanische Minderjährige hinter Gitter brachte

»Sie haben das Recht eingefordert, sie selbst zu sein«

Eine 14jährige küsste ihren Liebsten (15) vergangenen Oktober vor dem Gebäude ihrer Schule im nordmarokkanischen Nador, ein Freund fotografierte sie dabei. Sie stellte das Foto auf ihr Facebook-Profil. Als das Foto im Netz verbreitet und in einer lokalen Tageszeitung als ein Beispiel unanständigen Verhaltens angeprangert wurde, initiierten selbsternannte Sittenwächter eine öffentliche Kampagne und erwirkten eine Strafanzeige gegen die drei Minderjährigen. Deren anschließende Verhaftung wurde wiederum von weiten Teilen der marokkanischen Jugend mit Protesten beantwortet. Zahlreiche Pärchen posteten solidarische Selfies beim Knutschen, Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Kiss-in vor dem Parlament in Rabat wurden teils gewalttätig angegriffen. Das Hacker-Kollektiv »Anonymous« griff unter dem Motto »We give kisses – arrest us« die Netzwerke einiger marokkanischer Ministerien an und drohte, diese Angriffe auszuweiten, sollten die drei nicht freigelassen werden. Am 6. Dezember wurden die Jugendlichen schließlich freigesprochen. Der Fall weist auf die unterschiedlichen Moralvorstellungen in der marokkanischen Gesellschaft hin. Die Jungle World sprach darüber mit der marokkanischen Soziologin Kanza Kas­simi. Sie ist Professorin an der Unversität Agadir und hat mit ihren Studierenden eine Umfrage zu dem Fall durchgeführt.

Wie genau kam es zu der heftigen gesellschaftlichen und staatlichen Reaktion auf das Foto eines harmlosen Kusses?
Zunächst begann alles mit Gerüchten. Die Bevölkerung Nadors ist sehr konservativ, im Gegensatz zu anderen Orten in Marokko, das im arabischen Vergleich recht liberal ist. Der Fall erreichte eine juristische Ebene, als Faysal al-Morssi, der junge Vorsitzender einer lokalen NGO, die paradoxerweise vorgibt, sich für die Menschenrechte und öffentliche Freiheit einzusetzen, Klage vor Gericht einreichte: Entsprechend der öffentlichen Meinung sei das Küssen eine Sittenwidrigkeit und eine Bedrohung der vorherrschenden Werte in der Stadt. Mit Berufung auf die Rechtsverordnung 483, die jede Sittenwidrigkeit in der Öffentlichkeit als Straftat einstuft, wurden die beiden Jugendlichen dann verhaftet. Ihnen drohten zwei Jahre Gefängnis. Etwas später, nach öffentlichen Protesten, wurden sie zunächst vorläufig freigelassen. Von da an entwickelte sich die Geschichte des Kusses zu einer Angelegenheit öffentlichen Interesses, die eine breite nationale und internationale Debatte nach sich zog.
Nador demonstrierte eine einstimmige Haltung: vson den Eltern der anderen Schüler, die forderten, das Pärchen der Schule zu verweisen, bis zu den Lehrern und dem Schuldirektor, der kurz davor war, der Forderung zu folgen. Bei Medienumfragen betonten alle, Junge wie Alte, ihre Ablehnung dieses Kusses – eine Frau sagte sogar, sie würde ihrer Tochter die Kehle durchschneiden, wenn diese so etwas täte. Der Junge auf dem Foto zeigte sich in einem Interview zutiefst erschüttert: Die Leute würden ihn anspucken, in der Schule würde niemand mehr mit ihm reden, die Eltern hätten Angst um ihre Töchter. Bei der Inhaftierung im Zentralkommissariat sei er mit 70 Leuten in eine Zelle gesteckt worden, die alle Drogen konsumierten. Am Ende des Interviews bat er die Menschen dann um Vergebung; sein Leben sei dahin, weil das niemand jemals vergessen werde.
Was ist das Ergebnis der Umfrage, die Sie mit ihren Studierenden durchgeführt haben?
Wir haben verschiedene Gruppen im Alter zwischen 16 und 61 Jahren befragt: Gymnasiasten, Studierende, Grundschullehrer, Unversitätsprofessoren, Arbeiterinnen und Arbeiter und Hausfrauen. Ein Ergebnis war, dass 70 Prozent der Befragten einen solchen Kuss in der Öffentlichkeit ablehnen. Gleichzeitig bejahten jedoch ausnahmslos alle die Frage, ob sie glaubten, dass ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger Gewohnheiten haben, die sie heimlich praktizieren, um nicht von Religion, Recht oder Gesellschaft verurteilt zu werden. Und das gibt doch zu denken.
Trotz dieser ablehnenden Reaktion gab es in vielen Teilen Marokkos und international auch positive Reaktionen und Solidarität.
Außerhalb Nadors war die öffentliche Meinung gespalten, es entspann sich eine heftige Debatte über dieses weiterhin tabuisierte Thema. Die öffentlichkeitswirksamste und revolutionärste Aktion war die jener Jugendlichen, die ihre Solidarität mit einem öffentlichen Kiss-in vor dem Parlament von Rabat ausdrückten. Die Debatten in den marokkanischen Medien erschöpften sich meist in Beschreibungen, Vergleichen oder pädagogischen Ratschlägen, etwa der Forderung nach pädagogischer Bestrafung statt juristischer Verfolgung. Andere stellten die Interpretationsmacht des Gerichts in Frage oder forderten, man solle sich lieber auf die Strafverfolgung in Korruptionsfällen konzentrieren, anstatt auf diese Jugend­lichen einzuschlagen. Im Radio sagte ein Journalist in einem Interview mit dem Justizminister, dass ein »gestohlener Kuss« ein Grund zur Verhaftung sei, doch wer öffentliche Gelder veruntreue, der verfüge auch weiterhin über alle Freiheiten. Was die vergleichende Perspektive betrifft, so war die überraschendste Reaktion die eines jungen Amateurunterhalters und Youtube-Bloggers, der behauptete, dem Thema werde zu viel Aufmerksamkeit geschenkt – er machte stattdessen eine Dokumentation über Obdachlose und forderte von der Jugend Marokkos, sich mit diesen solidarisch zu zeigen, statt mit ihren küssenden Altersgenossen, bis das Problem der Obdachlosigkeit gelöst sei.
In westlichen Medien wurde die Angelegenheit eher mit Erstaunen, teils mit Belustigung, teils mit Unverständnis aufgenommen – die vorherrschende Meinung war, der arabische Frühling habe die Mentalität hier nicht verändert.
Viele im Westen sehen sich in ihren Vorurteilen bestätigt und sprechen nun sogar von einem »arabischen Winter«.
In der marokkanischen Gesellschaft gibt es tiefgreifende, doch eher stille Veränderungsprozesse, was an dem meist nicht artikulierten, doch von allen erlebten Konflikt zwischen traditionellen Werten und gesellschaftlicher Öffnung liegt. Wenn diese Öffnung tiefgreifende Veränderungsprozesse nach sich zu ziehen droht, dann treten die politischen, sozialen und religiösen Autoritäten auf den Plan, gegen alles, was die sogenannte muslimische Glaubensreinheit gefährden könnte. Dennoch sieht man jetzt, dass die Entscheider selbst kaum noch eine Wahl mehr haben, es sind die sozialen Netzwerke und das Internet, die die Richtung der Veränderung vorgeben.
In diesem mutigen Kiss-in vor dem Parlament drückt sich schon eine in der Geschichte des Königreichs Marokko ganz neue Haltung aus, und man muss wirklich einen Moment innehalten, um sich darüber klar zu werden, was das bedeutet: Es ist nicht weniger als der Beginn einer offenen Auseinandersetzung zwischen einer jungen, offenen und freien Geisteshaltung und einer heuchlerischen Gesellschaft. Denn die Ablehnung eines Kusses in der Öffentlichkeit ist Ausdruck eben jener Verlogenheit auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Das Ziel dieser Jugendlichen bestand darin, der sozialen Heuchelei entgegenzutreten, den Widersprüchen, der Scheinheiligkeit der ganzen Gesellschaft. Sie haben das Recht eingefordert, sie selbst zu sein, in der Lage zu sein, ihre Entscheidungen offen zu vertreten, ohne zur Heuchelei gezwungen zu sein. Einige Jugendliche, die eine ähnliche Forderung stellten und während des Ramadan ein öffentliches Essen organisierten, wurden dafür schwer bestraft.
Die westlichen Medien sagen, der »arabische Frühling« sei nicht in der Lage gewesen, die Mentalität zu verändern. Doch das ist eine sehr vereinfachende Sichtweise – denn gerade jetzt stehen entscheidende Herausforderungen an. Die inhaftierten Jugendlichen wurden freigesprochen, und das ist nicht einem plötzlichen Mentalitätswandel geschuldet, geschweige denn der Abschaffung des Artikels, aufgrund dessen sie angeklagt wurden – im Gegenteil, die Situation ist nach wie vor die gleiche. Doch man hat die Angelegenheit ad acta gelegt, weil sie das Ansehen unseres Landes in der Welt gefährdete. Daher ist es wichtig zu verstehen, dass jede Veränderung eine Beachtung des marokkanischen Kontexts und die aktive Unterstützung einer emanzipatorischen Geisteshaltung verlangt.