Evangelikale in Baden-Württemberg 

Bibeltreu im Schwarzwald

Dass eine homophobe Petition in Baden-Württemberg viel Unterstützung findet, ist nicht erstaunlich. In dem Bundesland ist der Einfluss evangelikaler Gruppen groß.

Jugendliche, die sich auf dem Parkplatz des örtlichen Supermarkts langweilen oder in verlassenen Wartehäuschen abhängen, gelten den Kommunalverwaltungen im Schwarzwald als Problem. Deshalb werden gerne Räume bereitgestellt, wenn christliche Freikirchen einen »Jugendtreff« einrichten wollen. Der »Christliche Verein Junger Menschen« (CVJM), der »überkonfessionell christliche« Jugendarbeit betreibt und sich nach eigenen Angaben »missionarisch und jugendpolitisch deutschlandweit« engagiert, unterhält in Baden-Württemberg 220 Ortsverbände. In vielen Gemeinden gibt es keine Alternative zu seinem Ferien- und Freizeitprogramm.

Kritiker, die diese Form der Jugendbetreuung nicht als zivilgesellschaftliches Engagement würdigen, sondern als Versuch evangelikaler Mis­sionierung beargwöhnen, sind in der Minderheit. Einer wie der Realschullehrer Gabriel Stängle aus Nagold bekommt dagegen Zuspruch. Seine Online-Petition gegen die von der baden-württembergischen Landesregierung vorgelegten Leitprinzipien des Bildungsplans 2015 hat in den Landkreisen des Nordschwarzwalds die meisten Unterstützer gefunden. Die Unterzeichner fürchten durch die geplante Förderung der »Akzeptanz sexueller Vielfalt« und die Beschäftigung mit Homosexualität eine »ideologische Umerziehung« und die Propaganda für eine gesundheitsgefährdende Sexualmoral.
Im deutschen Südwesten hat der Pietismus Tradition. Laut Selbstdarstellungen entwickelte sich die Region, »eingekeilt zwischen militant katholischen Gebieten«, nach dem Dreißigjährigen Krieg zum »evangelischen Musterstaat«. Die Anhänger des Pietismus bezeichnen sich selbst selten als evangelikal, sie nennen sich eher »bekennende«, »bibeltreue« oder einfach nur »engagierte« Christen. Viele sind Mitglieder in freikirchlichen Vereinigungen, die meisten engagieren sich aber zugleich in der evangelischen Landeskirche.
Die Liebenzeller Mission, benannt nach ihrem Schwarzwälder Stammsitz, dem Kurstädtchen Bad Liebenzell, ist eine weltweit tätige Missionsgesellschaft. Vor Ort betreibt sie die Internationale Hochschule für Theologie und den Liebenzeller Gemeinschaftsverbund, der nicht nur eigenverantwortlich im sozialen Bereich tätig ist, sondern darüber hinaus für die Diakonie, den Sozialdienst der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD), Aufgaben übernimmt. Anfang Dezember behauptete bei den Wahlen zur Landessynode die pie­tistische Fraktion, der Gesprächskreis »Lebendige Gemeinde«, die Stimmenmehrheit im Parlament der Landeskirche.

Die Bibeltreuen kämpfen gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und beklagen, dass immer weniger Kinder geboren werden. Homosexualität gilt ihnen als Sünde, hauptsächlich deshalb richten sie sich gegen den Bildungsplan 2015. Im Verlag der Liebenzeller Mission wurden Werke der sogenannten Ex-Gay-Bewegung verlegt, die »Konversionstherapien« zur Veränderung homosexueller Orientierung für möglich und wünschenswert hält. Jede Form der Anerkennung von Partnerschaften außerhalb der »natürlichen Schöpfungsordnung« wird von den Pietisten abgelehnt.
Doch nicht erst seit Bekanntwerden der Bildungspläne der grün-roten Landesregierung fürchten die Evangelikalen den »Gender-Würgegriff«. Bereits im vergangenen Sommer protestierten sie gegen eine vom Rat der EKD veröffentlichte Orientierungshilfe zur Familie. Darin formuliert die Kirche den Anspruch, überall dort Unterstützung zu leisten, »wo Menschen auf Dauer und im Zusammenhang der Generationen Verantwortung füreinander übernehmen«. Die Evangelische Allianz in Deutschland (EAD), der Dachverband der Evangelikalen, kritisierte die mangelnde »biblische Fundierung« des Familienpapiers und die Abkehr der EKD von einem Verständnis von Ehe und Familie als »göttliche Stiftung«.
In evangelikalen Online-Foren wird hingegen die Familienpolitik der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) ausdrücklich gelobt. Bei den Bundestagswahlen bekam die AfD in Baden-Württemberg über fünf, im Nordschwarzwald knapp sieben Prozent. Die Direktmandate gingen alle an die CDU. Das ist kein Zufall: Hans-Joachim Fuchtel, seit 1987 CDU-Bundestagsabgeordneter für den Landkreis Calw, versprach vor der Wahl während eines Besuchs in der Liebenzeller Mission, sich für die Meinungsfreiheit der Christen einzusetzen. Da die Evangelikalen seit einigen Jahren befürchten, durch Antidiskriminierungsgesetze würde ihnen ein »Maulkorb« verpasst, durften die Liebenzeller Fuchtels Aussage als Unterstützung deuten.
Der Prominenteste unter den bekennenden Protestanten im Bundestag ist der CDU/CSU-Frak­tionsvorsitzende Volker Kauder. Zu einem seiner Lieblingsthemen, der Verfolgung von Christen, hat er ein Buch im evangelikalen Verlag SCM Hänssler publiziert. Anfang des Jahres trat er bei der Internationalen Gebetswoche der Evangelischen Allianz auf. In Anspielung auf einen Buchtitel des US-amerikanischen evangelikalen Pastors A. W. Tozer forderte Kauder, bei existentiellen Glaubensfragen »keine Kompromisse« zu machen. Außerdem verlangte er mehr missionarischen Mut, Christen sollten sich nicht mit einer »Nischenkirche« zufriedengeben.

Obwohl die Evangelikalen in Deutschland in einer Nische agieren, zeigt sich in Baden-Württemberg, welche Mobilisierungskraft sie aufbringen können. Zwar versicherte die Landesregierung, sie werde sich bei der Fertigstellung des Bildungsplans nicht nach »fundamentalistischen Grund­lagen« richten. In der Landeskirche aber haben die Evangelikalen ihren Einfluss erfolgreich geltend gemacht. Nachdem sich die Oberkirchenräte zunächst zurückhaltend bis kritisch über die homophobe Petition geäußert hatten, distanziert sich die Landeskirche inzwischen offiziell und im Tonfall der Evangelikalen von einer mutmaßlichen »Ideologisierung und Indoktrination« an den Schulen.