Über die Naturgeschichte des Gesichts

Die Landschaft des Menschen

Über die Naturgeschichte des Gesichts und das Ende der Physiognomik.

Wer sich aus beruflichen Gründen (andere sind kaum vorstellbar) regelmäßig durch die Kataloge der großen Verlage kämpft, verliert die Lust, den darin angepriesenen Schund zu lesen, nicht erst dank der Stereotypie der meisten Ankündigungstexte. Als wirksame Interessenbremse erweist sich vielmehr schon die Tatsache, dass heute kein Buch mehr ohne plakativ danebengepapptes Autorenface beworben wird. Gehört es zum Mythos um den großen Thomas Pynchon, dass von ihm nur ein einziges verwaschenes Jugendbild existiert, er aber ansonsten allein durch seine Werke in die Öffentlichkeit tritt – in den »Simpsons« ist daraus ein running gag geworden –, ist solche Unnahbarkeit, die immer auch etwas Anmaßendes hat, heute obsolet. Gesicht zu zeigen, sich durch öffentliche Zurschaustellung der eigenen, Antlitz gewordenen Austauschbarkeit als vertrauenswürdiger Zeitgenosse zu präsentieren, ist für Schriftsteller längst ebenso Ehrensache wie für engagierte Bürger. Der sich dabei meist prompt einstellende Verdacht, dass, wer so aussieht, an Gedanken und Phantasie wohl ebenso arm sein muss wie an menschlichem Ausdruck, klingt natürlich nach übelstem Vorurteil. Doch er ist zugleich ein Hinweis auf das sich bloßer Empirie entziehende, mit historischer Erfahrung und Imagination angereicherte Moment, das dem Gesicht eine über den Leib, dem es zugehört, hinausweisende Qualität zu verleihen scheint.
Was Gesicht genannt wird, gab es nicht immer, es bezeichnet keine substanzlose Materialität, so wenig, wie die Individuen die Summe der Körperteile sind, die ihren Leib ausmachen. Damit das Gesicht zu jenem ausgezeichneten Teil des Leibes werden konnte, in dem die Seele sich spiegele, musste zunächst einmal eine Ahnung davon aufdämmern, dass der Leib sich vom kruden Naturstoff abhebt als Verkörperung von etwas, das in ihm erscheint, ohne mit ihm identisch zu sein, das zugleich aber ohne den Leib als dessen Ausdrucksform überhaupt nicht wäre. Die Formel vom Gesicht als Spiegel der Seele ist eine der ältesten Reflexionen dieser widersprüchlichen Einheit von Wesen und Erscheinung. Eigentlich vorbürgerlich, heute populärtheologisch, enthält sie den Begriff bürgerlicher Individualität in seiner Doppeldeutigkeit. Indem die Menschen im öffentlichen Raum einander ihr Gesicht zuwenden, offenbaren sie sich als Ebenbürtige, die einander achten, ohne voreinander Angst zu haben. Im Gegensatz zum übrigen Körper kann das Gesicht nicht nackt sein und sich doch nicht anders zeigen als in seiner unverwandten Blöße; als unwiederholbare Konstellation von bis in die feinste Nuance vermittelten leiblichen Regungen, rückhaltlos sich offenbarend und doch jeden unmittelbaren Ausdruck in seinen spezifischen Konturen sublimierend, widerlegt es, einfach indem es ist, die Lüge vom unversöhnlichen Gegensatz zwischen Geist und Leib, Zivilisation und Natur. Kulturen, die das Gesicht bedecken und seine Enthüllung ahnden, erniedrigen es zum bloßen Leib und exorzieren die Möglichkeit von dessen Transzendenz im Antlitz, in dem der Leib als individuierter, als verkörperter Geist, seinen Ausdruck findet.
In den subtilsten Regungen des Körpers, dem gestischen und sprachlichen Ausdruck, setzt sich fort, was sich im Gesicht kristallisiert. Es steht nicht, als dessen Individuellstes, dem Körper einfach entgegen, sondern gewinnt seine Gestalt im Zusammenspiel mit allem, was an menschlichem Ausdrucksvermögen im Körper angelegt ist und sich offenbart in der Art, wie die Menschen sich einander geben. In der Hypostasierung des Gesichts zum Statthalter authentischen Selbstausdrucks, wie sie in der bürgerlichen Epoche nahezu gleichzeitig mit der Entdeckung des vermeintlich unverlierbaren »Charakters« statthat und in der populären Forderung, aus allerlei möglichen Anlässen »Gesicht zu zeigen«, zivilgesellschaftlich nachlebt, zeigt sich insofern die Fetischisierung des doch stets nur aus vergänglichen historischen Konstellationen entstehenden Besonderen an, das als Ewiges und Eigentliches des Menschen dem profanen Übrigen, dem vermeintlich nur Natürlichen oder ephemer Gesellschaftlichen, entgegengestellt wird.
Gleich der sogenannten Würde, seinem ebenfalls fragwürdigen terminologischen Komplement in der bürgerlichen Epoche, verliert das Gesicht im 18. und besonders im 19. Jahrhundert jene Verletzlichkeit und Flüchtigkeit, die überhaupt erst ausmacht, was Würde des Individuums vielleicht meinen könnte, und erstarrt zur Maske des »Charakters«, mit dem die Philosophie sich umso obsessiver beschäftigt, je ohnmächtiger und unfreier die lebendigen Charaktere werden. Der Siegeszug des Charakters im 19. Jahrhundert reflektiert nicht die endlich entdeckte Besonderheit, sondern die reale Austauschbarkeit der atomisierten, nur als Vollzugsformen des Allgemeinen noch in Betracht kommenden Individuen. Die obskurantistische Verfallsform der Philosophie des Charakters nennt sich Charakterologie, ihrem wirrsten Vertreter im frühen 20. Jahrhundert, Ludwig Klages, hat jüngst Per Leo eine mit dem Sonderpreis »Judentum und Antisemitismus« der Berliner Humboldt-Universität ausgezeichnete Arbeit gewidmet. Wie diese Adelung durch eine der abstoßendsten akademischen Institutionen der Republik erwarten lässt, ist die Studie kein ungetrübtes Vergnügen. Indem sie der »Weltanschauungskultur« im frühen 20. Jahrhundert, und Klages’ abergläubischer Reanimierung vorbegrifflicher, vermeintlich tiefer in die Dinge dringender Denkformen im Besonderen, eine über den Wahn hinausgehende Erkenntnisdimension abzugewinnen sucht, statt den Kultus der »Weltanschauung« als Reaktion auf den Verfall von Ideologie zum praktischen Irrsinn zu entschlüsseln, ist sie selbst Symptom der Faszination, die sie untersucht: des durch keine Evidenz widerlegbaren Glaubens, dass Erlebnis, Gefühl und Ahndung über die Gegenstände der Erscheinungswelt mehr wissen, als jede Wissenschaft lehren kann.
Dass die Charakterologie, zu deren wichtigsten Teilgebieten neben der Graphologie auch die Lehre vom Gesichtlesen als Erbin der Physiognomik gehörte, in Wahrheit nicht nach dem inkommensurablen Besonderen inmitten der Entfremdung, sondern nach dem schlecht Konkreten und daher abstrakt Allgemeinen sucht, zeichnet Leo im interessantesten Kapitel seiner Studie selbst nach, das sich mit den Transformationen der Physiognomik durch die moderne Großstadterfahrung beschäftigt. In der Großstadt des frühen 20. Jahrhunderts, so stellt es Leo anhand diverser, oft längst vergessener Quellentexte dar, tritt den Individuen ihre Anonymität, Fungibilität und Austauschbarkeit buchstäblich leibhaft in Gestalt der zahllosen Fremden gegenüber, die nichts miteinander gemeinsam haben als die schlechte, weil partikulare Individualität: In der Gegenwart der vereinzelten Einzelnen, mit denen einen nichts verbindet als eben jene partikulare Individu­alität, erfährt das Individuum alltäglich seine vom bürgerlichen Diskurs des »Charakters« ausgeblendete »Instabilität«: »Im Zeichen der Masse steht die Großstadt für die Verwischung aller sichtbaren Unterschiede zwischen den Menschen. Ein ›Gesicht‹, seit jeher Signum des Individuellen, hat (…) nur noch die Individuen verschlingende Masse selbst: Das Oxymoron eines ›gestaltlosen Antlitz’‹ (…) reduziert die Eigenart der Masse auf das Moment unkontrollierten, bedrohlichen Bewegung.«
Sehr genau arbeitet Leo heraus, wie insbesondere bei Autoren des Präfaschismus die panikhafte Erfahrung des individuellen »Gesichtsverlusts« umschlägt in ein Herbeisehnen nach der Verschmelzung mit dem einen, wahrhaften »Gesicht«, eben jenem »gestaltlosen Antlitz«, von dem der von Leo zitierte Ernst von Salomon halb abwertend, halb begeistert spricht – mit dem Gesicht der Masse eben, das endlich den Einzelnen vom Anspruch der Individualität entlasten und die Liquidation individueller Freiheit zum kollektiven Lustgewinn des entfesselten, sich als Kollektiv der Übermenschen halluzinierenden Mobs ummünzen würde. In der Konstitution dieses »gesichtslosen Antlitzes« vollzieht sich jedoch nicht nur der Verrat am Ideal bürgerlicher Individualität, wie es sich in der Erhebung des Gesichts zur Kristallisationsform des »Charakters« ausdrückte. Vielmehr kommt in ihr auch der bürgerliche Fetischismus des »Charakters« negativ zu sich selbst, der die Emphase des »Gesichts« als Verkörperung heroischer Individualität in der bürgerlichen Epoche bestimmt hat.
Die sogenannte Charakterologie, mit der Leo sich vor allem am Beispiel der Graphologie, weniger anhand des Diskurses über das Gesicht, beschäftigt, ist nicht der früheste, sondern der späteste Ausdruck dieser ideologischen Situation, in ihr konvergieren Wissenschaft und Wahn, Fetischismus des Empirischen und Abhub schlechter Metaphysik: Die »Wahrheit«, das »Wesen« der Menschen soll sich an ihrem Gesicht (und an ihrer Handschrift, dessen gestischem Korrelat) präreflexiv offenbaren, ihre Evidenz ist nicht Folge des glücklichen Zusammenspiels von Anschauung und Reflexion, sondern identisch mit dem Vorurteil, das durch Erkenntnis erst zu überwinden wäre. Deshalb ist das scheinbar Konkrete, Besondere, das die Charakterologie im Gesichtlesen zu erschließen vorgibt, in Wahrheit das schlechte Allgemeine. Die unwiederholbaren Konturen des Gesichts werden von ihr heruntergebracht auf eine ebenso differenzierte wie schematische Typologie; die Physiognomie der Menschen – Statthalter dessen, was an ihnen nicht im Allgemeinen aufgeht – erstarrt in der zum Aberglauben heruntergekommenen Physiognomik zum scheinkonkreten Abdruck des Allgemeinsten. Daher nimmt die Charakterologie ihre Gegenstände in Einzelheiten auseinander, die, statt reflexiv durchdrungen zu werden, zu Stereotypen gerinnen: Sie ist nicht die Lehre vom Gesicht, sondern von dessen zu Platzhaltern »rasssenkundlicher« Merkmale depotenzierten Bestandteilen, Mund, Lippen, Augen, Ohren; ganz wie die Graphologie das Schriftbild, das sich in der Tat als zur Schrift geronnene indi­viduelle Geste deuten ließe, auf die Bedeutung einzelner Buchstabenformen, Bögen, Striche, die Stellung von Punkten und Häkchen, reduziert. Indem sie analysiert, ohne analytisch zu sein, und synthetisiert, wo wegen Abwesenheit eines Erkenntnisobjekts sich gar nichts synthetisieren lässt, stellt die Gesichtskunde – ähnlich den zur gleichen Zeit inflationierenden »neuen Religionen« – den seinerzeit fortgeschrittendsten Stand der Verbindung von Wissenschaft und Aberglauben dar.
Dass all das heute bestenfalls obskur erscheint – ein Umstand, auf den Leos geradezu obsessive Beschäftigung mit noch den kryptischsten Quellentexten in ihrer Weise reagiert –, dürfte sich indes weniger dem besonders kritischen Bewußtseinsstand der Zeitgenossen verdanken, die sich von Gurus nichts mehr vormachen lassen, als der Tatsache, dass dem Glauben, wonach das menschliche Gesicht zu den privilegierten Ausdrucksformen von Individualität gehöre, ja gleichsam leibhafter Statthalter der Freiheit und Verletzlichkeit des Einzelnen sei, vom Stand schlechter Vergesellschaftung selbst der Boden entzogen zu werden droht. Die Gesichtsinflation in der Werbung und den sozialen Netzwerken, die in Facebook ihren Namen gefunden hat, und die reale Annullierung der Bedeutung individueller Physio­gnomie als Kristallisation von Erfahrung sind das­selbe. Nur weil jeder im Grunde selber weiß, dass er auch jeder beliebige andere sein könnte, weil das Gesicht als Grenze und Vermittlung zwischen privater und öffentlicher Person dabei ist, objektiv irrelevant zu werden, betreiben dieselben, die sich mit großem Tamtam für das »Recht am eigenen Bild« engagieren, zugleich die Verramschung des eigenen Bildes im tausendfachen Abbild, von dem gar nicht mehr so wichtig ist, ob es wirklich einen selbst zeigt. Wie alle möglichen Namen, so kann man sich auch alle möglichen Bilder geben: Die Hoffnung auf Aufhebung des Identitätszwangs, die in der romantischen Utopie der poetischen Selbstverdoppelung und Spiegelung im anderen einst beschlossen gelegen haben mag, ist schal geworden angesichts der alltäglichen Erfahrung, dass die Menschen längst objektiv so egal wurden, wie sie auch einander sind. Spuren dessen, worin die Physiognomie der Menschen über die Klassifikationen der Physiognomik ebenso wie über ihre sozialen Rollen hinausgeht, finden sich am ehesten in alten Fotos und Filmen, in Dokumenten jener Epoche, in welcher der Zusammenhang zwischen Gesicht und Individualität real längst erodiert war. Jedenfalls gibt es, von Carl Theodor Dreyer über Robert Bresson und Ingmar Bergman bis zu Eric Rohmer, eine Geschichte der Ästhetik der Großaufnahme von Gesichtern, die sich als Abfolge unterschiedlicher Versuche der Erkundung einer Landschaft deuten lassen, für die bislang keine Sprache gefunden worden ist. Rohmer insbesondere, für dessen Filme sich wegen ihrer scheinbaren Harmlosigkeit schon zur Zeit ihrer Entstehung kaum jemand interessiert hat, kreist immer wieder um das sprechende Gesicht, das Gesicht von redenden oder zuhörenden Menschen, um zur Anschauung zu bringen, wie stummer Ausdruck und sprachliche Artikula­tion einander beflügeln, miteinander streiten oder im Widerspruch stehen können – und löst eben damit den Glauben an den »Charakter« zugunsten einer Ästhetik der physiognomischen Nuance auf. Dass es dank digitaler Technik inzwischen möglich ist, Schauspieler nach ihrem Tod filmisch weiterleben zu lassen, der Film sich also auf die denkbar stumpfsinnig­ste Weise einer der wichtigsten Quellen seiner Faszination entledigte, indem er den Unterschied zwischen Gesicht und Totenmaske als überwindbar erwiesen hat, ist Teil desselben Fortschritts, der auch das Gesicht als Residuum des Inkommensurablen am Menschen und schließlich die Physiognomik selbst als anachronistisch kassierte und irgendwann, sofern ­er sich seines eigenen Widerspruchs nicht bewusst wird, auch den Menschen selbst wird entbehren können.

Per Leo: Der Wille zum Wesen. Matthes & Seitz-Verlag, Berlin 2013, 736 Seiten, 49,90 Euro.