Markus Lanz spaltet die Republik: Schlimmer als das Talkshow-Elend sind Online-Petitionen

Vom Shitstorm zum Volkszorn

Die Online-Petition gegen Markus Lanz insinuiert, dass die Mehrheit über das Fernsehprogramm entscheiden sollte. Eine schreckliche Vorstellung.

Man weiß nicht, wieso es bis zum Jahr 2014 dauerte, bis einer nennenswerten Menge Menschen auffiel, dass die Unfähigkeit zuzören, den Sinn gesprochener Sätze zu verstehen sowie die Unkenntnis des jeweiligen Themas zu den Haupteigenschaften deutscher Talkshowmoderatoren gehören. Und noch viel weniger ahnt man, warum öffentlich-rechtliche Programmverantwortliche es vor einigen Jahren für eine Spitzenidee hielten, angesichts solchen Personals täglich ein bis zwei abendliche Gesprächsrunden anzusetzen, in denen seither aktuelle Ereignisse oder, falls es solche gerade nicht gibt, halt dies und das und was sonst noch so anfällt rund eine Stunde lang besprochen werden müssen. Dass der Kreis der möglichen Gäste nicht entsprechend der Anzahl der Shows wachsen würde, war den Unterhaltungschefs von ARD und ZDF dabei zwar sicher klar, aber vermutlich beruhigten sie sich, zum Beispiel im Fall Peter Scholl-Latour und Arnulf Baring, mit der Existenz von Langlebigkeitsgenen und in anderen Fällen damit, dass all diese Leute so schnell keinen erfüllenden Job finden würden und deswegen ganz sicher immer bereit wären, im Fernsehen herumzusitzen. Und außerdem: Til Schweiger! Iris Berben!

Und so nahm das Talkshow-Elend seinen Lauf, und alles hätte für immer so weitergehen können, wenn nicht plötzlich ein weit größeres Elend erfunden worden wäre, nämlich das der Online-Petitionen. Dass der Deutsche Bundestag mitnichten auf Unterschriftensammlungen, die mit Hilfe kommerzieller Petitionsplattformen erstellt wurden, zu reagieren verpflichtet ist, kapierte der begriffsstutzige, also der größere Teil der hippen Infoelite erst mit langer, sorry: laaaaanger Verzögerung. Und als es so weit war, hatte sich bedauerlicherweise allgemein schon die Ansicht durchgesetzt, dass es nachgerade unfassbar großes politisches Engagement sei, seinen Namen unter Online-Forderungen zu tippen. Und so verging in sozialen Netzwerken kein Tag mehr, ohne dass aufgeregte Aktivisten (genauer: Internet-Aktivisten, also Leute mit großem Hang zur stündlich das Thema wechselnden Empörung) dringend dazu aufforderten, irgendwas zu unterschreiben. Weil sonst: Weltuntergang. Oder: Zombieapokalypse. Oder so.
Das Petitionsunterschreiben, das auf Twitter und Co. angemessen wichtig klingend »Mitzeichnen« heißt, hätte ewig so weiter gehen können – wenn die Aktivisten ihre Erfolge (in aller Regel das Erreichen einer vorher ausgedachten Mindestanzahl an Signaturen) nicht regelmäßig stolz überall verkündet hätten. Dies brachte natürlich den eher reaktionären Teil der Bundesrepublikaner auf Ideen. Entsprechend wird es nicht mehr lange dauern, bis Todesstrafen-Petitionen und ähnlicher Dreck von zigtausend Idioten und Idiotinnen mitgezeichnet werden, was mit dem Fall Markus Lanz nur auf den ersten Blick nichts zu tun hat.

Das ausgesprochen Unschöne an Online-Petitionen ist nämlich der Volkszorn, der, gepaart mit dem unbedingten Willen, zu allem den eigenen Senf hinzuzugeben, plus der festen wie schamlosen Überzeugung, von wirklich jedem Thema auf der Welt unheimlich viel Ahnung zu haben, sich ungehemmt austobt. Und der dann seine große Stunde gekommen sieht, wenn es gilt, gegen »die da oben« vorzugehen. Dass anscheinend kaum jemand Bedenken hat, Petitionen zu unterschreiben, die auch von zahlreichen Nazis und Verschwörungstheoretikern verbreitet werden, ist schon erstaunlich, hätte aber auch weiter kein Problem sein müssen, wenn es sich nicht in vielen Redaktionen etablierter Medien eingebürgert hätte, Twitter-Shitstürmchen und ähnliches als kostengünstig zu recherchierende Superthemen anzusehen und furchtbar viel Unsinn in mit fetzigen Überschriften präsentierten Artikeln zu verarbeiten. Anstatt dass der Talkshow-Moderator und die gegen ihn gerichtete Petition also in Ruhe miteinander alt werden konnten, wurde die dusselige Unterschriftensammlung zum ganzganz großen Gesprächsstoff.
Aber warum ist nun die gegen Lanz gerichtete Petition so unschön? Ganz einfach: Weil all die anderen Talkshow-Hosts auch nicht zuhören und ebenfalls routinemäßig ihre Gäste unterbrechen, um noch einmal mit mehr oder weniger eigenen Worten das nachzuerzählen, was die zuvor gesagt haben, und weil sie in aller Regel auch keine Ahnung vom jeweiligen Thema haben und deswegen nicht zu kritischen Fragen in der Lage sind, und weil sie die Eingeladenen auch oft ausgesprochen dumm behandeln. Aber hej, man muss den Mist ja nicht gucken. Und schon gar nicht muss man mit »unseren Gebührengeldern« argumentieren. Denn damit bringt man nur diese fiese Mehrheit auf den Plan, also die Leute, denen ohne weiteres zuzutrauen ist, zu Hunderttausenden Petitionen zu unterschreiben, die die sofortige Entfernung von als links angesehenen Magazinen oder Moderatoren fordern. Und die dann umgehend mehr Volksmusiksendungen statt amerikanischer Serien sehen wollen. Oder finden, dass die deutsche Nationalhymne auch mittags abgespielt werden muss. Oderoderoder. Denn nein, gewinnen kann man gegen diesen Mehrheitsmob nicht.