Erdoğans politische Zukunft ist nicht sicher

Erdogan regiert durch

Der türkische Ministerpräsident erweitert seinen Zugriff auf die Justiz und den Sicherheitsapparat, stärkt den Geheimdienst und versucht, das Internet zu kontrollieren.

Kaum war das neue Internetgesetz durchs Parlament, freute sich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan gewaltig. Wie so oft musste die Parlamentsfraktion seiner Partei, der AKP, brav dasitzen und an den richtigen Stellen klatschen, damit ein vor Zuversicht strahlender Erdo­ğan den versammelten Vertretern der türkischen Fernsehsender sagen konnte: »Der am 17. Dezember initiierte Putsch ist kollabiert und völlig zurückgeschlagen.« Gemeint waren die Untersuchungen in Korruptionsskandalen, die mit der Festnahme mehrere Söhne von Ministern am 17. Dezember öffentlich wurden. Initiiert wurden die Untersuchungen von der Bewegung des Sektenführers Fethullah Gülen, der großen Einfluss auf den Staatsapparat hat.
Diesen Einfluss glaubt Erdoğan mit einem gigantischen Umbau der Sicherheits- und Justizorgane in nur wenigen Wochen gebrochen zu haben. Über 1 000 Polizeibeamte und Dutzende von Staatsanwälten wurden versetzt. Mit der geplanten Abschaffung der Gerichte mit besonderen Vollmachten entfallen auch die ihnen zugeordneten Staatsanwaltschaften. Mit der Einrichtung dieser Gerichte hatte Erdoğan einerseits ein Äquivalent für die unter dem Beifall Europas abgeschafften Staatssicherheitsgerichte geschaffen, andererseits eine Gelegenheit für Gülens Seilschaften, sich in der Justiz einzurichten. Dies war anfangs durchaus in Erdoğans Sinne, und keine Klage kam aus seinem Munde über die zum Teil abstrusen Urteile, die diese Gerichte über seine Gegner fällten. Noch im November wurden drei Journalisten und eine Journalistin nur wegen ihrer journalistischen Tätigkeit zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt.
Den Umbau der Justiz krönte Erdoğan schließlich mit einem Gesetz, das eine zentrale Schaltstelle der Justiz, den Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte, faktisch unter die Kontrolle der Regierung bringt.
Schließlich wurde noch ein Gesetz auf den Weg gebracht, das den Erdoğan direkt unterstehenden In- und Auslandsgeheimdienst MİT (Millî İstih­ba­rat Teşkilâtı, Nationaler Nachrichtendienst) stärkt. Wer einen Wunsch des MİT erfüllt, soll künftig straffrei bleiben. Außerdem kann der MİT künftig alle Arten von Auskünften verlangen. Insbesondere Journalisten müssten dann auf Verlangen des Geheimdienstes ihre Informanten nennen. Der bekannte Journalist Can Dündar fühlt sich an die Zeiten nach dem Militärputsch von 1980 erinnert, als Journalisten ihr Material mit heiklen Informationen im Garten vergruben. Dündar und seine Kollegen werden sich wohl bald wieder Spaten kaufen müssen.

Eine der letzten Schwachstellen schien indessen das Internet zu sein. Immer wieder waren dort Informationen aufgetaucht, die der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben sollten. Etwa das Geldzählmaschinchen aus dem Haus des Sohnes des Innenministers oder die Schuhkartons, gefüllt mit 4,5 Millionen Dollar, aus dem Haus des Direktors der staatlichen Halkbank oder die Aufnahme des Ministerpräsidenten, wie er sich am Telefon beschwert, dass ein Oppositionspolitiker auf einem Fernsehkanal erscheine. Beim zweiten dieser Telefonate war Erdoğans Stimme so unverkennbar, dass der Ministerpräsident die Echtheit der Aufnahmen einräumen musste, während sein Gesprächspartner bereits dabei war, sich auf eine Montage herauszureden. Erdoğan befand dann, dass dieses Gespräch doch harmlos gewesen sei. Und kurz darauf kam aus seinem Mund die Beschwerde: »Sie veröffentlichen unsere täglichen Routinetelefongespräche!«
Da musste ein neues Internetgesetz her, das die Privatsphäre schützen soll – und zur Privatsphäre gehören ja ganz sicher auch Schuhkartons jedweden Inhalts.
Menschen, die etwas von der Funktionsweise des Internet verstehen, wie Gürkan Özturan von den in der Türkei bisher erst als Verein organisierten »Piraten«, betonten zwar den Zensurcharakter des Gesetzes, meinten aber auch, dass sich die Veröffentlichung kompromittierender Videos und Audiodokumente nicht verhindern lasse. ­Es dauerte nicht einmal eine Woche, bis die Gülen-Bewegung den praktischen Beweis für diese These erbrachte.
Es handelte sich erneut um angebliche Mitschnitte von Telefongesprächen des Ministerpräsidenten. Irgendwann waren sie auf Youtube hochgeladen worden und über Twitter wurde darauf hingewiesen. Danach wurden sie schneller weiterkopiert, als man die Websites sperren konnte. Der Inhalt: Am Tag, als die Staatsanwälte mit den Hausdurchsuchungen in der Korruptionsaffäre begannen, ruft Erdoğan seinen Sohn Bilal gleich morgens um 8 Uhr an und bedeutet ihm, das Geld aus dem Haus zu bringen. Der tumbe Bengel rea­giert alles andere als professionell. Während sich der Anrufer offenbar bemüht, mit möglichst leiser, unkenntlicher Stimme zu sprechen, muss er seinen Sohn ermahnen, nicht zu viel am Telefon zu erzählen. Am Abend hat der Sohn noch immer einen Rest von 30 Millionen Euro im Haus.
Nur zwei Tage nachdem dieses Gespräch in den Medien skandalisiert worden war, kam schon die nächste Tayyip-Bilal-Szene: In diesem angeblichen Telefonat beschwert sich Erdoğan, dass zehn Millionen Dollar von dem Geschäftsmann Sıtkı Ayan zu wenig seien. Sıtkı Ayan hat eine neue Ölpipeline vom Iran in die Türkei gebaut und erhielt hierfür Steuervergünstigungen als staatliche Förderung. Man kann davon ausgehen, dass die Gülen-Anhänger noch mehr solche Bänder haben und dass man sie bald auch hören darf.
Doch ist es wirklich Erdoğans Stimme? Sehr überzeugend klang Erdoğans Dementi jedenfalls nicht. Erdoğan sprach von einer »Montage« und gab damit zwischen den Zeilen zu, dass es doch seine Stimme sein könnte. Auch fährt Erdoğan fort, sich darüber zu beschweren, dass sein Telefon abgehört werde. Ja, selbst Gespräche mit seiner Familie … Und was ist mit der sehr klar zu hörenden Stimme Bilals, ist sie auch montiert?
Man trifft sowohl Personen, die an die Echtheit der Aufnahme glauben, als auch solche, die das nicht glauben. Wer Erdoğan schon vorher nicht mochte, der ist von der Echtheit der Aufnahme zumeist überzeugt, während Erdoğan-Anhänger in solchen Dingen nur Erdoğan glauben, egal was passiert. Dieses starke Band zu seinen Wählerinnen und Wählern ist die eigentliche Grundlage für Erdoğans Unangreifbarkeit. Hinzu kommt der unerschütterliche, in der Türkei weit verbreitete Glaube an alle möglichen und vor allem unmöglichen Verschwörungen.
Ein wenig von einer Verschwörung hat das Vorgehen der Gülen-Anhänger allerdings wirklich. Nur hat Erdoğan mit eben diesen Verschwörern sehr lange gemeinsame Sache gemacht. Außerdem beweist die Existenz einer Verschwörung ja noch nicht, dass die vorgebrachten Vorwürfe falsch sind.
Wie groß das Vertrauen der Wähler in Erdoğan wirklich ist, wird man allerdings erst nach den Kommunalwahlen am 30. März wissen. Es ist die erste Wahl nach den Korruptionsvorwürfen und die erste Wahl nach den Gezi-Unruhen.
Ein besonderes Augenmerk gilt dabei Istanbul. Vor genau 20 Jahren, am 27. März 1994, ereignete sich in der Türkei eine politische Sensation, als der junge Recep Tayyip Erdoğan mit 25 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister von Istanbul gewählt wurde. In Istanbul ist Erdoğan geboren, hier bestand er seine erste politische Bewährungsprobe. Seither mussten die Parteien, denen Erdoğan in der Zwischenzeit angehörte, das Rathaus von Istanbul bei keiner Wahl mehr räumen. Ein Fünftel der Bevölkerung der Türkei – rund 14 Millionen Einwohner – wohnt in der Metropole am Bosporus, und sie zahlen 40 Prozent der Steuern des Landes.

Doch diesmal könnte Erdoğans AKP Istanbul verlieren, und das wäre für sie ein Menetekel. Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) hat den Bürgermeister des Distrikts Şişli, Mustafa Sarıgül, als Kandidaten aufgestellt. Sarıgül ist wohl der geschickteste Wahlkämpfer in der Türkei nach Erdoğan. Er spricht auch Wähler außerhalb der Klientel der CHP an. Der derzeitige Bürgermeister Kadir Topbaş hätte gegen Sarıgül persönlich wohl keine Chance. Doch in Istanbul wählt man nicht Topbaş, sondern eigentlich Erdoğan. Ohnehin führt sich der Ministerpräsident so auf, als sei er noch immer der Bürgermeister von Istanbul. So gehen alle größeren Bauvorhaben dort auf seine Anweisungen zurück. Zu den bekannteren davon zählt die geplante Überbauung des Gezi-Parkes.
Als Erdoğan von Sarigüls Kandidatur hörte, fing er sofort an, allerlei Korruptionsverdächtigungen gegen ihn in die Welt zu setzen. Wären Erdoğan und Gülen noch wie früher Verbündete, so hätte dies wohl Gülen mit seinen Leuten getan. Doch so erschien eben nur ein Anruf im Netz, in dem sich Erdoğan darüber beschwert, dass eine Nachricht über Sarıgül erschienen sei. Ganz gelassen scheint Erdoğan dessen Kandidatur jedenfalls nicht zu verfolgen.
In der Türkei gibt es bereits Gerüchte, der Wahltermin am 30. März könnte aufgehoben werden. Glauben muss man das nicht. Doch die Gerüchte zeigen, dass die Stimmung vor den Wahlen äußerst angespannt ist.