Ermittlungen in Frankreich wegen Menschenrechtsverletzungen in Marokko

Marokkanische Mimose

Die marokkanische Regierung hat die justizpolitische Kooperation mit Frankreich ausgesetzt. Sie duldet keine Kritik an unter ihr mutmaßlich verübten Menschenrechtsverletzungen.

Im Diplomatenjargon ist es üblich, die Dinge verklausuliert ausdrücken. Etwaige Konflikte werden nur vage angedeutet. Da klingt es dann schon wie ein mittelschwerer Orkan, wenn eine offizielle Verlautbarung wie folgt klingt: »Die marokkanische Regierung bedauert zutiefst die verletzenden Worte und beleidigenden Ausdrücke, die dem französischen Botschafter zugeschrieben werden.« Ihr Regierungssprecher Mustapha al-Khalfi fügte hinzu, »die Gesamtheit der Marokkaner« sei »verletzt« worden. Er sei jedoch »überzeugt, dass Frankreich das Übel, das dadurch verursacht wurde, zu reparieren verstehe«.
Zu Anfang dieser Woche jedenfalls war der Konflikt zwischen den beiden Regierungen noch nicht gelöst. Marokko hatte am Mittwoch voriger Woche sämtliche Abkommen zur justizpolitischen Kooperation mit Frankreich außer Kraft gesetzt. Dies bedeutet beispielsweise, dass Auslieferungsanträgen der anderen Seite bis auf weiteres nicht mehr nachgekommen wird. Da die Aussetzung nicht auf das Strafrecht beschränkt ist, entfällt vorläufig auch die gegenseitige Anerkennung von Eheschließungen, Scheidungen und anderen zivilrechtlichen Akten. Der bislang für die Kooperation zuständige Beamte des marokkanischen Justizministeriums wurde aus Paris abgezogen. Dies ist der vorläufige Höhepunkt eines seit Mitte Februar schwelenden Konflikts. Anlass für diesen waren offenbar mehrere aus Sicht des marokkanischen Regimes Anstoß erregende Vorfälle, die zufällig kurz hintereinander erfolgten.
In Marokko gibt es eine Art Doppelherrschaft. Der Makhzen, ein despotisches und feudalistisches Netzwerk des monarchischen Systems, und parlamentarische Institutionen bestehen nebeneinander. Trotz einer Lockerung des früheren Absolutismus durch die neue Verfassung vom Juli 2011, der monatelange Massenproteste – nach Tune­sien auch in Marokko – vorausgingen, bleibt das Regime undemokratisch. Folter gehört nach wie vor zur üblichen Praxis, zumal weite Teile des Polizeiapparats keine andere Methode der Beweiserhebung zu kennen scheinen. Allerdings sieht die neue Verfassung erstmals Entschädigungen für Folteropfer vor. Außerdem hält Marokko seit 1975 die frühere spanische Kolonie Westsahara besetzt. Dagegen kämpft die Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario, aber auch das diese unterstützende Nachbarland Algerien – aus durchaus eigennützigen Gründen, die algerische Regierung hätte gerne einen Zugang zum Atlantik. Die Leitungsstrukturen der Polarisio scheinen weitgehend in den algerischen Staatsapparat integriert zu sein.

Was hat die marokkanische Regierung nun derart erzürnt? Am 18. Februar hatte der spanische Schauspieler Javier Bardem einen Film von ihm produzierten Dokumentationsfilm über die Westsahara in Paris vorgestellt, er engagiert sich seit langem für die Rechte der Bevölkerung in dem von Marokko besetzten Land. Bei der Pressekonferenz fiel angeblich ein inzwischen berühmt gewordener Satz, den der französische Botschafter in den USA, François Delattre, im Gespräch mit Bardem 2011 geäußert haben soll: »Marokko ist wie eine alte Geliebte, mit der man sich jeden Abend bettet. Man liebt sie nicht besonders, aber man muss sie verteidigen.« Eine Anspielung auf das Verhältnis sowohl der USA als auch Frankreichs zum marokkanischen Regime, die seit Jahrzehnten dessen wichtigste Schutzmächte bilden. Es ist nicht bewiesen, dass der Satz wirklich ausgesprochen wurde. Sicher ist hingegen, dass seine Verbreitung das marokkanische Regime sehr erzürnte.
Weniger beachtet wurde der Prozess, der am 18. Februar gegen den betagten Rechtsanwalt Maurice Buttin in Lille stattfand. Buttin vertritt seit 50 Jahren die Familie von Mehdi Ben Barka. Der einstige marokkanische Oppositionsführer und Linksnationalist wurde im Oktober 1965 mitten in Paris entführt. Seine Leiche ist nie aufgetaucht und wurde vermutlich in Säure aufgelöst. Beteiligt an der Operation waren aller Wahrscheinlichkeit nach sowohl französische als auch marokkanische Geheimdienste. Jahrzehntelang passierte im Ermittlungsverfahren dazu nichts, bis 2007 der Untersuchungsrichter Patrick Ramaël die Sache an sich zog. Er stellte Haftbefehle gegen fünf zur Zeit der Entführung führende marokkanische Geheimdienstmitarbeiter aus, mehrere von ihnen waren immer noch aktiv. Die französischen Behörden wollten jedoch offenbar das Verhältnis zum marokkanischen Regime nicht trüben und versäumten es schlicht, die Haftbefehle auch an die marokkanischen Stellen zu übermitteln, wozu sie verpflichtet gewesen wären.
Der Anwalt Buttin brachte dies an die Öffentlichkeit. Darum wurde ihm nun der Prozess wegen »Verletzung des Untersuchungsgeheimnisses« gemacht. 72 Bürgerrechtsorganisationen und 400 Einzelpersonen unterzeichneten eine Petition für Buttin und mobilisierten zu dem Prozess in Lille. Nach fünfstündiger Verhandlung forderte die Staatsanwaltschaft den Freispruch. Das Urteil fällt im April, würde Buttin verurteilt, wäre dies der erste Schuldspruch überhaupt in dieser brisanten politischen Mordaffäre – aber gegen einen Anwalt der Angehörigen des Opfers. In marokkanischen Staatskreisen verfolgt man dieses Dossier sicherlich sehr aufmerksam. Eine Verurteilung scheint jedoch unwahrscheinlich.

Noch ein weiteres Ereignis führten zu Unmut auf Seiten des marokkanischen Regimes. Am 20. Februar hielt sich der Chef des marokkanischen Inlandsgeheimdiensts DGST, Abd al-Latif Hammouchi, zusammen mit dem marokkanischen Innenminister Mohammed Hassad in Paris auf. Diese Gelegenheit nutzte die französische Untersuchungsrichterin Sabine Kheris, um ihn zur Vernehmung zu bitten. Hammouchi hielt es für angeraten, dem nicht Folge zu leisten und schnell wieder auszureisen.
Kheris war Ende vorigen Jahres mit einer Folterklage von Adil Lamtalsi, der sowohl die französische als auch marokkanische Staatsbürgerschaft hat, gegen Hammouchi befasst. Bei Foltervorwürfen kann die französische Justiz einer internationalen Konvention zufolge auch gegen Täter auf ausländischem Boden ermitteln. Lamtalsi wirft dem Geheimdienstchef vor, persönlich Folterverhören im Gefängnis der DGST in Témara südlich von Rabat beigewohnt zu haben. Dabei seien ihm falsche Geständnisse wegen angeblichen Cannabishandels abgepresst worden. Lamtalsis Klage wird von der NGO ACAT (Aktion der Christen für die Abschaffung der Folter) betreut, die ihre Dossiers und Beweise üblicherweise sorgfältig auswählt. Inzwischen sind bereits drei Folterklagen gegen Hammouchi in Frankreich anhängig. Zwei betreffen Doppelstaatsbürger, die in Marokko wegen Straftaten ohne politischen Hintergrund angeklagt wurden, die dritte jedoch mit Ennaama Asfari einen Westsahara-Aktivisten, der beim spektakulären Schauprozess von Gdim Izik gegen Sympathisanten der Frente Polisario Anfang 2013 zu 30 Jahren Haft verurteilt worden war. Ihm wurde die Beteiligung an Unruhen im Jahr 2010 vorgeworfen. Asfari zufolge wurden alle Geständnisse in tagelanger Folter erpresst.

Das marokkanische Regime empörte sich über die angebliche Verletzung diplomatischer Regeln – was jedoch dem Blogger und Juristen Ibnkafka zufolge ein unzutreffender Vorwurf sei, sofern nicht französische Polizisten versucht hätten, Ham­mouchi gewaltsam festzunehmen. Frankreichs Präsident François Hollande rief König Mohammed VI. am Montag vergangener Woche persönlich an. Der französische Außenminister Laurent Fabius distanzierte sich eilfertig von dem »bedauerlichen Zwischenfall«, der »lückenlos aufgeklärt« werden müsse – was wiederum zu einer erzürnten Reaktion der ACAT führte, die darin eine offene Verletzung der Gewaltenteilung sieht.
Von marokkanischen Medien wird zwar, sofern sie nicht dezidiert unabhängig sind, die Empörung geteilt. Der Journalist Fahd Yata bezeichnete etwa in La Nouvelle Tribune die ACAT als »obskure NGO«, hinter der »die Polisario und der algerische Geheimdienst« ständen. Kein Medium lässt sich jedoch dazu herab, zu behaupten, es gebe in Marokko keine Folter. Dass Folter grundsätzlich eingesetzt wird, wird stillschweigend vorausgesetzt, egal ob die Vorwürfe gegen Hammouchi in der Berichterstattung lediglich referiert oder vorgeblich entkräftet werden.