Burak Bekdil im Gespräch über die Ziele der Gülen-Bewegung

»Unter Erdogans Regierung kann die Türkei nicht demokratisch sein«

Burak Bekdil lebt in Ankara und schreibt unter anderem für die englischsprachige türkische Tageszeitung Hürriyet Daily News. Im Gespräch mit der Jungle World analysiert er, warum die Hizmet-Bewegung des Geistlichen Fetullah Gülen so einflussreich geworden ist und welche die Folgen der derzeitige Machtkampf für die türkische Demokratie haben wird.

Ministerpräsident Erdoğan sieht sich seit den großen Korruptionsskandalen der vergangenen Monate und der Veröffentlichung von belastenden Telefonaten als Opfer von Verschwörungen. Ist er nur ein Verschwörungstheoretiker, der Kritik abwehren will, oder gibt es tatsächlich eine Verschwörung gegen ihn und seine Partei?
Grundsätzlich findet in der Türkei gerade einen Machtkampf statt. Es ist wie bei Geschäftspartnern, die beispielsweise Steuern hinterziehen und dann bei Unstimmigkeiten die ehemaligen Partner bei den Finanzbehörden anzeigen. Das ist dann zwar eine Verschwörung, aber das heißt nicht, dass es sich nicht um echte Steuerhinterziehung gehandelt hat. Ich glaube, die Korruptionsvorwürfe sind ernst und müssen untersucht werden. Aber leider wurden unter dem Vorwand, dass es sich bei den Vorwürfen um eine Verschwörung handele, seit Beginn der Untersuchungen Tausende von Justiz- und Polizeibeamten, die mit den Fällen betraut waren, entlassen oder versetzt. Gerade wurden die Hauptverdächtigen des Skandals vom 17. Dezember, ein iranischer Geschäftsmann und zwei Söhne von Kabinettsministern, aus der Untersuchungshaft entlassen.
Wer hat Interesse, Erdoğan zu schaden, und warum gerade jetzt?
Erdoğan führte mit der ehemals mit ihm verbündeten Hizmet-Bewegung Fethullah Gülens seit ­einigen Jahren eine Art kalten Krieg, daraus ist nun ein sehr heißer Krieg geworden. Erdoğan könnte recht haben, wenn er die Hizmet-Bewegung für den Zeitpunkt der Korruptionsprozesse und die Veröffentlichung seiner Telefonate verantwortlich macht, da die Kommunalwahlen vor der Tür stehen. Diese Wahlen werden sehr wichtig sein und könnten die gesamte politische Landschaft in der Türkei verändern. Aber ich wiederhole, das heißt nicht, dass die Vorwürfe gegen Er­doğan falsch oder konstruiert sind. Und es ist wichtig zu verstehen, dass es für die ehemaligen islamistischen Verbündeten kein Zurück mehr gibt, sie haben alle Brücken abgebrochen und ich sehe nicht, wie sie sich in Zukunft wieder zusammenschließen könnten.
Was will die Hizmet-Bewegung erreichen?
Meiner Einschätzung nach wirft sie der Regierung der AKP vor, dass sie mit Erdoğan die Türkei nicht in die richtige Richtung bewegen kann. Erdoğan ist für die Hizmet-Bewegung zu konfrontativ, während Gülens Ideologie eher ein versöhnender Ansatz entspricht. Ich denke, ihre derzeitige Prio­rität ist es, Erdoğan zu isolieren und politisch zu eliminieren.
Welche Politiker oder Parteien würden Gülens Anhänger anstelle Erdoğans und der AKP bevorzugen?
Aus ideologischer Perspektive betrachtet spricht keine der bestehenden Oppositionsparteien, weder die kemalistische CHP noch die ultranationalistische MHP oder die prokurdische Partei, einen Hizmet-Anhänger an. Aber wir sollten neue politische Formierungen erwarten, besonders im rechts-mittigen und konservativen politischen Lager der Türkei. Ich wäre nicht überrascht, wenn es bei den Kommunalwahlen am 30. März einen bedeutenden Stimmrückgang für die AKP geben würde. In der Türkei werden bei Bürgermeisterwahlen auch die Stadtparlamente gewählt, und dabei wird traditionell nach Parteipräferenz gestimmt. Wenn die Anteile der AKP von 50 Prozent 2011 auf 40 oder 38 Prozent fallen, könnte das den Weg zur Gründung einer neokonservativen Partei bereiten, und es gäbe dann innerhalb der AKP viel Dissens.
Wie politisiert ist der türkische Staatsapparat, besonders die Justiz und die Polizei?
Er ist zutiefst politisiert. Ich kann mir keinen hohen oder mittelrangigen Polizeibeamten vorstellen, der nicht entweder AKP- oder Hizmet-Anhänger ist.
Ist es Erdoğan in den vergangenen Monaten mit seiner »Säuberung« gelungen, Gülens Einfluss einzuschränken?
Ich bin mir nicht sicher, ob das von ihm ein kluger Schritt war. Die Entlassungen und Versetzungen von Tausenden wurden alle sehr hastig in einem Selbstschutzreflex veranlasst, aber ich bezweifle, dass es dabei gelungen ist, sauber zwischen Anhängern der AKP, der Hizmet oder auch einfachen Polizeibeamten zu unterscheiden. Bei einem konservativen Beamten lässt sich nicht so einfach unterscheiden, zu welchem Lager er gehört. Mit Sicherheit hat die Säuberung auch AKP-Loyalisten getroffen und Anhängern der Hizmet-Bewegung neue Posten verschafft. In Izmir wurde ein hoher Polizeibeamter entlassen und gegen einen angeblichen Anhänger der AKP ausgetauscht, der nach nur einer Woche wieder durch einen anderen Beamten ersetzt wurde. Das zeigt, dass selbst Erdoğan nicht sicher ist, wer wer ist.
Auf welcher Seite steht Staatspräsident Abdullah Gül in diesem Konflikt, und wird Erdoğan sein Nachfolger werden?
Gül steht klar auf Erdoğans Seite. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass Erdoğan von der selbstauferlegten innerparteilichen Regelung abweicht, die AKP-Politiker auf drei Parlamentszeiten beschränkt. Erdoğans ideales Szenario war, dass er im Sommer zum Präsidenten gewählt wird und dass dann die AKP nach einem großen Wahlsieg 2015 die Verfassung ändert und für ihn das Präsidentenamt mit Exekutivmacht ausstattet. Aber das wird aus vielerlei Gründen nicht funktionieren, und deshalb wird Erdoğan wahrscheinlich wieder einmal als Ministerpräsident antreten. Er wird einen Deal mit Gül machen, bei dem dieser in diesem Jahr nochmals zum Präsidenten und Erdoğan nächstes Jahr nochmals zum Ministerpräsidenten wird.
Wird Erdoğan die Krise nach den Korruptionsvorwürfen und der Veröffentlichung seiner Telefonate politisch überleben?
Er könnte überleben, aber mit vielen Kratzern und Prellungen. Ich schätze, dass die AKP bei den Wahlen am 30. März auf 40 Prozent kommt, was ein bedeutender Rückgang gegenüber einstmals 50 Prozent wäre.
Könnten die Korruptionsvorwürfe eine Wende in Richtung Demokratisierung sein oder wird die Türkei autoritärer werden?
Es ist klar, dass die Türkei unter Erdoğans Regierung nicht demokratisch im westlichen Sinne sein kann, auch wenn er die Verhältnisse selbstverständlich für demokratisch hält. Wenn er nochmals 48 bis 50 Prozent der Stimmen erhält, ist das das Ende der Demokratie in der Türkei. Die einzige Möglichkeit zur Fortsetzung des endlosen türkischen Marsches in Richtung Demokratie wäre ein bedeutender Stimmenrückgang für die AKP, der Erdoğan klar macht, dass er nicht mit seiner Ein-Mann-Show weitermachen kann.
Hängen die Skandale mit den Gezi-Protesten zusammen oder handelt es sich nur um innerislamistische Machtkämpfe?
Es besteht eine indirekte Verbindung zwischen dem aktuellen Machtkampf und den Gezi-Protesten, denn Gülens Anhänger haben besonders nach Gezi verstanden, dass sie nicht mehr mit Er­doğan zusammenleben können. Die Proteste waren der entscheidende Moment, hinzu kam dann noch Erdoğans Entscheidung, die Schulen der Gülen-Bewegung zu schließen.
Wie beeinflussen die Repression gegen Journalisten und das neue Gesetz zur Internet-Zensur Ihre Arbeit?
Wie jeder andere Journalist könnte auch ich jederzeit verfolgt werden für das, was ich schreibe. Aber ich glaube, dass die Umstände für kritische Autoren derzeit ein wenig besser sind, denn ich vermute, dass Erdoğan und seine Leute zu sehr mit einem existentiellen Krieg beschäftigt sind, um sich darum zu scheren, was wir schreiben.