Die Angehörigen von Überlebenden des Holocaust in Ungarn brechen ihr Schweigen

Erinnerungsarbeit 2.0

Das Holocaust-Gedenkjahr 2014 findet in Ungarn ohne die Beteiligung der jüdischen Gemeinden statt, weil sie die Gedächtnispolitik der Regierung nicht mittragen wollen. Dank einer Facebook-Gruppe haben viele Nachkommen von Überlebenden eine Möglichkeit gefunden, die Geschichten ihrer deportierten und ermordeten Angehörigen öffentlich zu erzählen und damit einen Prozess der gesellschaftlichen Erinnerungs- und Trauerarbeit anzustoßen. Die Jungle World dokumentiert einige dieser Geschichten.

Das Holocaust-Gedenkjahr der ungarischen Regierung begann mit einem Skandal: Der Leiter des neuen staatlichen Veritas-Instituts, das die ungarische Geschichte der vergangenen 150 Jahre aufarbeiten soll, bezeichnete die vom ungarischen Staat durchgeführten Deportationen von etwa 18 000 Juden »ungeklärter Staatsbürgerschaft« zum Massaker von Kamenez-Podolsk 1941 als »fremdenpolizeiliche Maßnahme«. Genauso untragbar für die jüdischen Gemeinden war die innerhalb weniger Monate ohne Konsultation geplante Holocaust-Gedenkstätte »Haus der Schicksale« und das ohne öffentliche Ausschreibung geplante Denkmal der Deutschen Besatzung, das Ungarn als unschuldiges Opfer der Nazis darstellt. Der Skandal hatte jedoch einen unvorhergesehenen positiven Nebeneffekt. In ihrer Empörung posteten immer mehr Menschen Geschichten und Fotos von deportierten und ermordeten Angehörigen im Internet.
Um diese Geschichten zu sammeln und zu dokumentieren, gründete der Publizist und ehemalige liberale Abgeordnete Mátyás Eörsi im Februar die offene Facebook-Gruppe »Der Holocaust und meine Familie«, die inzwischen über 3 200 Mitglieder hat. Seither reißt der Strom der Geschichten und Bilder nicht ab. Die bekannte Soziologin Mária Vásárhelyi bezeichnete sie als die »wichtigste ungarische Facebook-Gruppe«. Auf Basis des umfangreichen Materials ist eine Veröffentlichung geplant.
»Es ist nicht leicht, jahrzehntelanges Schweigen zu brechen und sich der Welt zu präsentieren: Das sind wir, mit unseren Eltern und Großeltern ist viel Schreckliches geschehen, aber wir können nicht akzeptieren, dass die Nachkommen der Opfer schweigen, während die Anhänger der Täter lärmen«, heißt es in Eörsis Beschreibung der Gruppe. »Immer mehr Leute begreifen es: Bei dieser Debatte geht es nicht um eine Angelegenheit der Juden, sondern um Ungarn, um unsere gemeinsame Geschichte«, sagte er im Interview mit der linksliberalen Wochenzeitung 168 Óra.
Im Hinblick auf seine Vergangenheitsbewältigung ist Ungarn dem Historiker Krisztián Ungváry zufolge vergleichbar mit der BRD Mitte der sechziger Jahre. Die persönlichen Geschichten machen die Vergangenheit in einer Weise öffentlich, lebendig und präsent, wie es vor zehn Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre. Familiengeschichten, die bislang als »Privatsache« galten, auf Facebook öffentlich zu diskutieren und gemeinsam zu betrauern, hat im kleinen Rahmen einen Prozess gesellschaftlicher Erinnerungs- und Trauerarbeit angestoßen, während das offizielle Holocaust-Gedenkjahr zur Farce verkommen ist.
Während die heutige ungarische Regierung in ihrer Gedächtnispolitik die aktive Beteiligung des Regimes Miklós Horthys am Holocaust ausblendet, um der sogenannten Mehrheitsgesellschaft eine ungebrochen positive Identifikation mit der Nation zu ermöglichen, und dabei »Juden« und »Ungarn« semantisch unterscheidet, als ob es sich um voneinander getrennte Bevölkerungsgruppen handle wie vor der Assimilation der ungarischen Juden im 19. Jahrhundert (so sprach Kanzleramtsminister János Lázár Ende Februar vom »jahrhundertelangen erfolgreichen Zusammenleben von Ungarn und Juden im Karpatenbecken«), wird an diesen Geschichten deutlich, dass es nach wie vor die gesamte ungarische Gesellschaft ist, die sich an ihre gemeinsame Vergangenheit erinnern muss.
Die folgenden Geschichten werden mit dem Einverständnis ihrer Verfasserinnen und Verfasser veröffentlicht.

Deportation 1941 als »fremdenpolizeiliche Maßnahme«
»Meine Großtante Reska Zacher (39), ihr Mann Ernő Klein (42) und ihre beiden Kinder (acht und zehn) wohnten in einer schönen Wohnung im Guttmann-Haus in der Rákóczi út, damals eines der modernsten Gebäude in Budapest. Sie hatten in der Innenstadt zwei gutgehende Feinkostgeschäfte mit Gewürzen, Südfrüchten und Delikatessen. Sie hatten sich ihre Existenz mit unglaublichem Fleiß und Ausdauer über Jahrzehnte hinweg aufgebaut und es so in das wohlhabende Budapester Bürgertum geschafft. Aber 1941 trat eine neue Verordnung in Kraft, jeder in Ungarn lebende Jude ohne ungarische Staatsbürgerschaft musste sich bei der Fremdenbehörde melden. Tante Reskas Mann, Onkel Ernő, meldete sich auch. Bisher hatte er es nicht für wichtig gehalten, die Staatsbürgerschaft zu beantragen, weil dies keinerlei praktische Bedeutung hatte. Er dachte, dann erledigt er das eben jetzt. Einige Tage später bekam er einen Bescheid, dass er als nicht ungarischer Staatsbürger des Landes verwiesen werde. Weil sie damals immer noch nicht begriffen, was das bedeutete, meldete sich die ganze Familie freiwillig bei der Fremdenbehörde. Sie dachten, in ein paar Tagen kommen sie sowieso zurück, und vertrauten ihre Geschäfte derweil einem ihrer Angestellten an, den sie für vertrauenswürdig hielten. Sie wurden zusammen mit 18 000 anderen Juden nach Kamenez-Podolszk deportiert und erschossen. Im Rahmen einer ›fremdenpolizeilichen Maßnahme‹. Ihre Geschäfte übernahm der als vertrauenswürdig erachtete Angestellte und lebte glücklich und zufrieden bis an sein Ende.
So hat mir mein Onkel die Geschichte erzählt. Von den Geschwistern meiner Großmutter war Reska Zacher das erste Opfer des Holocaust. Acht weitere folgten.« (Mária Vásárhelyi)

1944: Deportation durch ungarische Gendarmen
»Mutti war 14, als die Gendarmen sie holen kamen. Damals mussten die Juden schon alles Gold abgeliefert haben, aber meine Großmutter dachte, vielleicht lassen sie ihrer Tochter den winzigen Ohrring, den sie ihr gekauft hatte. Sie irrte sich. Einer der Gendarmen trat zu Mutti und riss ihn ihr aus dem Ohr. Mutti ist jetzt 85. Ihr ist nie eingefallen, sich Ohrringe zu kaufen. Und auch an ihren beiden Töchtern wollte sie keine sehen.« (Ágnes Rapai)

Zwei Großväter, 1944
»Meine beiden Großväter kannten einander nicht. Der Vater meiner Mutter war evangelischer Pfarrer und tat im Krieg Dienst in der Kirche am Deák tér, wo er regelmäßig Juden versteckte, zum Beispiel in Teppiche eingerollt. Ein junges Mädchen namens Hedda versteckte er jedoch bei sich zu Hause, am damaligen Mária-Terézia-Platz Nr. 2. Das war deshalb besonders mutig, weil das Parteihaus der Pfeilkreuzler am Mária-Terézia-Platz Nr. 1 war. Meine damals zehnjährige Mutter wusste nur, dass Hedda nicht nach Szeged zu ihren Eltern reisen konnte und deshalb eine Weile bei ihnen wohnte. So lebten sie wochenlang zu viert. Hedda konnte später fliehen und emigrierte 1949 nach Israel.
Mein anderer Großvater war Jude. Er arbeitete in der Druckerei meines Urgroßvaters und lag 1944 mit Bleivergiftung im Krankenhaus. Dorthin kamen die Pfeilkreuzler und suchten aus den Kranken die Juden heraus. Meinem Großvater ging es sehr schlecht und der eine Pfeilkreuzler sagte auch: Mit dem brauchen wir uns keine Arbeit zu machen, lassen wir ihn hier. Der andere sagte: Einer mehr oder weniger, ist es nicht egal? Nehmen wir ihn mit. (Das wissen wir aus einem Brief an meine Großmutter.) So kam er nach Dachau, wo er im Dezember 1944 an ›Herzversagen‹ starb.
Wer weiß, wenn sie einander gekannt hätten.« (Krisztina Forgács)

Heimkehr ins Nichts
»Der eine Bruder meiner Großmutter brach sich beim Arbeitsdienst das Bein und wurde in eine Krankenbaracke gebracht. Diese wurde dann von den ungarischen Bewachern angezündet. Ein anderer Bruder kam nach Hause zurück und begann, nach der Familie zu suchen. In ihrem Haus wohnten bereits andere Leute, die ihn mit den Worten empfingen: Na Jude, wozu bist du zurückgekommen? Alle deine Leute sind tot, und in eurem Haus wohnen jetzt wir, also scher dich zum Teufel. Er setzte sich wieder auf sein Motorrad und fuhr in der nächsten Kurve gegen einen Baum. Es kam nie heraus, ob es Selbstmord oder ein Unfall war.« (János Dési)

Stalins Tod
»1953 stand unsere Grundschuldirektorin, Tante Gizi, eines schönen Tages ans Geländer der Schule gelehnt und schluchzte. Zu Hause fragte ich meine Mutter, die auch dort unterrichtete, warum. Sie sagte mir: Tante Gizi hat am Unterarm so eine seltsame Tätowierung, ob ich weiß, was das ist? Die Russen haben sie aus einem Lager befreit, sonst wäre sie nicht mehr am Leben. Und jetzt ist Stalin gestorben, und sie hat wieder Angst … Von unserer eigenen Familiengeschichte (s. u.) erfuhr ich erst viel später.« (Ildikó Őze)

Der ungarische Aufstand 1956 als Befreiungskampf gegen »jüdische Fremdherrschaft«
»1956 stellte sich der alte Pfeilkreuzler aus dem dritten Stock mit einem Gewehr – keine Ahnung, woher er das hatte – in den Hof unseres Hauses, schoss in die Luft und brüllte: Juden auf dem Hof aufstellen! Und die Eislers, die Hoffmanns, mein Vater etc. stellten sich erschrocken auf. Es war erst elf Jahre her, dass er aus dem Arbeitslager zurückgekommen war. 1956 wohnten wir am Platz der Republik (einem Schauplatz der Kämpfe). Das alles zusammen war ein Schock für ihn.« (Ágnes Erényi Eisler Szász)

Nazigroßmutter und jüdische Großmutter unter einem Dach
»Als Róza Klein, meine Großmutter mütterlicherseits, 1914 meinen Großvater heiratete, konvertierte sie zum Christentum. Dieser Zweig der Familie blieb von den Judengesetzen unberührt. Als meine Mutter dann meinen Vater kennenlernte und ihn 1945 heiratete, ließ sich mein Großvater von seiner geliebten einzigen Tochter schwören, NIEMALS mit NIEMANDEM darüber zu reden, dass sie jüdisches Blut habe (sic). Heute weiß ich auch, warum: Meine Großmutter väterlicher Seite entstammte einer aristokratisch-großbürgerlichen Familie, war leidenschaftliche Antisemitin und trat der Nazipartei bei. Sie nahm ihrem jüngsten Sohn die Braut von Anfang an übel. Mit ihrem älteren Sohn floh sie Ende 1945, das ungarische Volksgericht ließ sie in Handschellen aus Berlin zurückbringen, 1947 wurde sie zu fünf Jahren Haft verurteilt. 1952 kam sie frei, wir lebten im selben Haus in derselben Wohnung, die nur abgeteilt worden war.
Und nun gelang der Großmutter schließlich, was sie die ganze Zeit über geplant hatte: Meine Eltern auseinanderzubringen. Sie ließen sich noch 1952 scheiden, und mein Vater zog zu seiner Mutter in den anderen Teil der Wohnung. Die Großmutter verleugnete meine Schwester und mich, wir durften sie nicht sehen, solange sie lebte. Ab 1958 wohnte dann auch unsere Großmutter Róza bei uns, und von da an verhinderte eine hässliche Bretterwand zwischen den beiden Teilen der Wohnung, dass die zwei Familien einander auch nur zufällig begegneten. Aber welche Ironie des Schicksals: Unsere beiden Großmütter kamen 1964 beide ins selbe Krankenhaus, starben beide innerhalb einer Woche und wurden im Abstand einer Stunde auf demselben Friedhof beerdigt.« (Ildikó Őze)

Der Artikel wird in einer längeren Fassung auf
www.pusztaranger.wordpress.com erscheinen.