Das neue Buch von Diedrich Diederichsen

Man ist, was man hört

Diedrich Diederichsen erklärt den Hörer zum eigentlichen Star in der Geschichte der Popkultur. Dieser Hörer ist vor allem er selbst, und das ist gut so.

Diedrich Diederichsen hat ein neues Buch geschrieben. »Über Pop-Musiker« schöpft aus biographischem Material und deshalb geht es auch in dieser Rezension erstmal um die Biographie des Autors. Diederichsen, Jahrgang 1957, wuchs in Hamburg auf, engagierte sich als Schüler in kommunistischen Jugendorganisationen und begann nach dem Abitur, Germanistik und Spanisch zu studieren. Einer seiner Kommilitonen war Michael Ruff, Sänger der Geisterfahrer, Journalist und später Betreiber des Plattenladens »Ruff Trade«. Ruff erlebte an der Uni, wie Diederichsen Referate über fiktive Personen hielt. 1979 wurde Diederichsen Redakteur der Musikzeitschrift Sounds, wo Alfred Hilsberg eine regelmäßige Kolumne unter dem Titel »Neuestes Deutschland« schrieb. Das Vorhaben, über eine Musik zu berichten, die ihre Energie aus den subkulturellen Explosionen der letzten 14 Tage bezog, erwies sich als nicht so leicht durchführbar. Denn nicht nur die Stadt Hamburg wurde durch eine unsägliche Mischung aus stumpfem Rock, Folk von Ougenweide und Blödelkram aus dem »Onkel Pö« in Eppendorf beherrscht. Popmusik konnte seit Jahren keinen mehr anstacheln oder auf originelle und radikale Ideen bringen, geschweige denn dazu ermuntern, irgendwas davon zu verwirklichen. Stattdessen diente sie dazu, dass Jugendliche ihr Mütchen an gefahrloser Stelle kühlten. Sie sollte Adoleszenz moderieren, sie sollte beruhigen und war nur Medi­ator.
Leute, die an Mediation weniger Interesse zeigten, schrieben für Sounds. Unterschiedlichste Autoren lierferten immer aufregendere, klügere und frechere Texte und scharten immer interessantere Leser um sich. Darunter auch der Schriftsteller Rainald Goetz. In seinem Text »Subito«, den er bei seinem legen­dären Auftritt beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1983 in Klagenfurt gelesen hat, geht es um die gleichnamige NDW-Bar in Hamburg, in der Diederichsen, der im Text unter dem Namen »Neger ­Negersen« vorkommt, zu dieser Zeit verkehrte. Oder Diederichsen ging abends in die Marktstube, wo er den Maler Albert Oehlen kennenlernte. Beide spielten später zusammen in der Band Nachdenkliche Wehrpflichtige, die unter anderem A-Capella-Versionen von Liedern der Buzzcocks im Reportoire hatten. In Texten von Goetz tauchen bis heute ­sowohl »Diedrich« als auch »Albert« immer wieder auf.
Mitte der achtziger Jahre wird Diederichsen Redakteur bei Spex. So furios denkfreudig wie er schreibt sonst keiner. Diederichsen veröffentlichte 1986 sein erstes Buch »Sexbeat«, das einen Abschnitt über den »Klatsch als letzte materialistische Waffe gegen die Meinung« enthält. Dass sein Urteil immer mehr Gewicht bekommt, entgeht Diederichsens nicht. Seine Reaktion: Als die HipHop-Gruppe Public Enemy ihre Single »Fight the power!« herausbringt, fordert er in der von Hermann L. Gremliza herausgegebenen Zeitschrift Konkret: »Fight the Gremliza! Fight the Diederichsen!«
Schreibende Kollegen verlieren nach der Lektüre seiner Texte bisweilen ihr ganzes Autorenselbstbewusstsein. Einer erklärte einmal, während er in einer Kneipe mit leerem Blick in sein Glas schaute, dass er John Singletons Debütfilm, das Drama »Boyz ’n’ the hood« zwar gerne besprechen wollte, es aber nun doch lieber bleiben lassen wolle. Denn seit er Diederichsens ausführliche Besprechung des Films gelesen habe, fühle er sich inkompetent.
Für Spex liefert Diederichsen im Herbst 1993 den umstrittenen Artikel über »Das Ende der Jugendkultur, wie wir sie kannten«. Diederichsen hatte über einen Nazi gelesen, der bei den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen eine Kappe mit dem Namenszug von Che Guevara getragen hatte. Zu den Gedanken, die er daraus entwickelt, gehört, dass Popmusik nicht mehr den Unterschied zwischen Nazis und ihren Gegnern ziehe. Nicht wenige sind mit diesem Aufsatz nie fertig geworden. Selbst der Autor nicht, der in den folgenden Jahren mehrere Überarbeitungen des Textes vorlegte. Diederichsen schreibt immer weiter und, wie Dietmar Dath es formuliert hat, »er lässt nicht nach«. Selbst oder gerade, wenn Leute über die alltäglichsten Dinge die banalsten Bemerkungen fallen lassen, regt das Diederichsen zu höchst bemerkenswerten Texten an.
Etwa wenn Madonna, die für ein paar Jahre nach England gezogen ist, in einem Interview klagt, dass sie zum Wochenende keine Handwerker findet. Diederichsen bringt das darauf, dass der »Star«, wie man ihn noch im althergebrachten Verblendungszusammenhang zu nennen pflegte, inzwischen ersetzt worden sei durch den »Promi«.
Auch »Über Pop-Musik« enthält diese smarten, von Schneid und Stil angetriebenen Thesen, die so viel Spaß machen, dass es leicht fällt, Diedrichsen bei ihrer Entwicklung zu folgen: Popmusik handelt von dem Gefühl, dass da mal nichts gewesen sein soll und man plötzlich feststellt, dass da doch etwas ist. Und dass das Leute auf der ganzen Welt ebenso erfahren haben, wie zum Beispiel Lou Reed, der nicht in einem Dorf oder öden Vorort, sondern in der aufregenden Stadt New York aufgewachsen ist und in »Rock ’n’ Roll« über die dort verbrachte Kindheit singt: »There was really nothing going on.«
Popmusik operiert mit einem von der Kulturindustrie ruinierten Zeichenrepertoire. Das eigene Hören ist Wiederhören. Die Erinnerung an bereits gehörte Stücke schiebt sich vor die gegenwärtige Rezeption. In der Popmusik reichen Ichsagen und Alleinsein schon aus, um den Schnabel ganz weit aufzureißen. Andererseits enthält sie die Möglichkeit, alleinzusein, mutterseelenallein mit der Gesellschaft. Das, was wir als Popmusik verstehen, ist vor allem im Studio entstanden. Im Studio lässt sich am schönsten und aufregendsten die Körperlichkeit des anderen erfahren. Wie traurig oder wie aggressiv jemand sein kann. Und das in der genauesten Übertragung mit höchster Auflösung. Das ergibt eine explosive Mischung, die Menschen auf eine Art mitreißt, wie das vor der Studiozeit nicht passiert ist. Das Tonstudio ist schließlich auch der Ort, an dem ab Mitte der fünfziger Jahre der kleine Unfall, das nicht geplante, aber besondere klangliche Folgen nach sich ziehende Ereignis, zum Besonderen wird. Diederichsen nennt es mit Roland Barthes das »Punctum«.
Das Geräusch, das auch entsteht, wenn jemand gerade nicht Subjekt ist. Als Verbindung zwischen Medien, Archiven und Kanälen. Popmusik hatte dabei auch nie nur mit Musik, sondern auch mit Bildern zu tun. Als die im Fernsehen zu sehen waren, schoben sie mit Popmusik die zweite Kulturrevolution an. Radio und Fersehen standen für die erste Kulturrevolution. In einem Popsong der zweiten Kulutrrevolution ist nie klar, ob die reale Person des Künstlers spricht oder nur die von ihm erschaffene Figur. In einem Lied geht es nie authentisch zu. Ein Lied kann nicht sehr gut »Nein!« sagen. Es kann sehr viel besser »Ja!« sagen. Die, die »Nein!« sagen, wissen das. Weswegen die Sänger, die etwa »I can’t get no satisfaction« oder »It ain’t me« singen, doch so klingen, als würden sie »Ja!« sagen. Da möchte man es auf einmal viel genauer wissen. Popmusik war und ist genau die Musik, bei der man wissen will, wie der Sänger aussieht.
Das Unverwechselbare an der Popmusik aber ist der Hörer und das, was er in der Rezeption aus ihr macht, also die Gefühlsenergie, mit der er sich in einen Song wirft und von ihm durcheinanderbringen lässt. Das Format entsteht nicht in der Produktion, nicht in der Abspielstelle, sondern in der Rezeption. Beim Hörer, beim Fan. Das Format lässt sich daher als optimistisch beschreiben.
Solche und viele weitere Überlegungen hat Diederichsen nicht in der Einsamkeit am Schreibtisch entwickelt, sondern vor Zuhörern, die ihn womöglich auch anspornten, ­seine Gedanken immer weiter zu präzisieren. Es handelt sich dabei um die Studentinnen und Studenten der Wiener Akadamie der Künste, an der Diederichsen seit 2006 lehrt.
Es gibt Bücher, die einen immer begleiten. Dieses ist so eines. »Über Pop-Musik« leistet für sein Thema das, was Adornos »Ästhetische Theorie« für die Philosophie der Kunst geleistet hat.

Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Kiepenheuer &  Witsch, Köln 2014, 474 Seiten, 39,99 Euro