»Licht auf das Fortleben der Mörder unter uns werfen«
Fritz Bauer hätte die Öffentlichkeit gern gemieden. »Wenn ich mein Büro verlasse, befinde ich mich im feindlichen Ausland«, hat er einmal gesagt. Der jüdische Remigrant war 1949 in das Land der Täter und Mitläufer zurückgekehrt. In das Land, dessen ehemalige »Funktionseliten« auch nach dem Ende des NS-Regimes weiter wirken durften und dessen Bevölkerung resistent geworden war gegen die Aufklärung und gegen das unabhängige Denken, das Bauer immer wieder einforderte. Doch Bauer hatte als Generalstaatsanwalt des Bundesland Hessen eine Aufgabe zu erfüllen, wie der Frankfurter Soziologe Detlev Claussen im Gespräch über die Öffentlichkeitsarbeit des scheuen Aufklärers erläutert: »Nämlich Licht auf das Fortleben der Mörder unter uns zu werfen.«
Dieser Aufgabe widmete Bauer sich mit einer Leidenschaft, die ihn oft an den Rande der Erschöpfung brachte, wie die kürzlich vom Frankfurter Fritz-Bauer-Institut herausgegebene Doppel-DVD »Fritz Bauer – Gespräche, Interviews und Reden. Aus den Fernseharchiven 1961 – 1968« anschaulich macht. Gut fünf Stunden Reden, Gespräche und Diskussionen zeigen Bauer bei verschiedenen Anlässen in einer Rolle, die er nicht spielen musste, weil er sie verkörperte: die Rolle des Aufklärers in einer Welt, in der, so Claussen, »die Unmenschlichkeit und die Barbarei der Technik« das Alltagsleben beeinflussten und den Blick auf die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse verstellten.
Bauer kämpfte bis zu seinem Tod im Jahr 1968 gegen das Vergessen und versuchte, den Verbrechen Gesicht und Namen zu geben. Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess, der auf Initiative Bauers am 20. Dezember 1963 gegen 22 Angeklagte eröffnet wurde, war nur ein, wenngleich der wichtigste Abschnitt in seinem Wirken. Er war damals der Meinung, mit Hilfe der Strafjustiz durch NS-Prozesse den Deutschen »Lehren« und »Lektionen« erteilen zu können. »Er hatte neben dem strafrechtlichen Zugang einen sozialpädagogischen Ansatz. Die Deutschen sollten durch die Prozesse einen ›Unterricht‹ in Sachen Menschenrechte erhalten«, sagte der Archivar des Fritz-Bauer-Instituts, Werner Renz, im Dezember in einem Interview mit der Jungle World.
Vor allem die junge und kritische Generation wollte Bauer erreichen. Von ihr erhoffte er sich ein »leidenschaftliches Bekenntnis zur Humanität und zur Demokratie«. So findet sich auf der DVD ein Fernsehausschnitt vom 8. Dezember 1964. Fritz Bauer spricht in der vom Hessischen Rundfunk produzierten Sendung »Heute Abend Kellerclub« vor einem studentischen Publikum auch über den damals noch laufenden Auschwitz-Prozess: Die Zigarette in der Hand, schaut er skeptisch durch die Gläser seiner Brille. Bauer erzählt von »antisemitischen Zuschriften«, die ihn seit Prozessbeginn erreichten.
Diese Briefe offenbarten, so Bauer, dass es in Deutschland immer noch eine Diskrepanz zwischen der öffentlichen Meinung und dem gebe, was die Mehrheit denke, sich aber nicht mehr zu sagen traue. Sein Gesichtsausdruck ist stets ernst, nicht einmal der Ansatz eines Lächelns kommt über seine Lippen. Jedes einzelne Wort, jede Pause ist wohl überlegt. Der Tonfall ist laut und bestimmt. Es ist die Stimme des Anklägers, der »Gerichtstag halten« will. Aber es ist auch die Stimme des Aufklärers, der an die junge Generation appelliert, sich zu emanzipieren von der alles verschlingenden Bürokratie. Es sind Motive, die auch das Hauptwerk zweier anderer prominenter jüdischer Remigranten, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, bestimmen. »Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben«, heißt es in der »Dialektik der Aufklärung«, jenem Buch, das unter dem Eindruck von Auschwitz entstand. Bei der Massenvernichtung der europäischen Juden handele es sich zwar um ein historisch unwiederholbares Geschehen, das alle rationalen Vorstellungen von Zweck und Mittel sprengt, sagt Detlev Claussen, der in den sechziger Jahren bei Adorno und Horkheimer studierte. Gleichwohl gebe es erkennbar besondere gesellschaftliche Bedingungen, die Auschwitz ermöglichten. »Und diese Bedingungen existieren über Auschwitz hinaus fort«, so Claussen.
Auch Fritz Bauer war sich dessen bewusst. Nicht nur, weil die Täter oft über Jahre unbehelligt blieben und in Justiz, Politik und Wirtschaft weiterarbeiteten. »Es gibt in der heutigen Zeit ein Unbehagen den Richtern gegenüber«, stellte Bauer fest. Er forderte von seinen Kollegen das persönliche, unabhängige Bekenntnis zum Beruf, das Heraustreten aus der Masse.
Dass dies nicht geschah, sah Bauer vor allem im »deutschen Volkscharakter« begründet. In einer 1965 vom NDR ausgestrahlten Diskussion über den Film »Das Bild des deutschen Richters« von Ilse Staff spricht Bauer vom »autoritären Charakter«, der anerzogen worden sei durch die Familie und die Universitäten oder die Lehranstalten der Weimarer Republik. Dieser Charakter ermöglichte es vielen Richtern, während der Zeit des »Dritten Reichs« im Kollektiv unterzutauchen. Dabei hat es aus Bauers Sicht auch nach 1933 die Möglichkeit gegeben, gegen Todesurteile zu opponieren – allein, die Richter machten kaum Gebrauch davon.
»Zivilcourage spielte in Deutschland bis weit in die sechziger Jahre kaum eine Rolle«, sagt Detlev Claussen. Das autoritäre Verhältnis zum Staat und seinen Institutionen habe die Aufarbeitung der Naziverbrechen behindert – was nicht nur im Zusammenhang mit dem Auschwitz-Prozess deutlich wurde. Eine Kampagne des SDS gegen die Verbrechen der NS-Justiz wurde zum Beispiel von der Mehrheit der Gesellschaft und Politik abgelehnt. So distanzierte sich etwa die SPD, deren Mitglied Bauer bis zu seinem Tode war, von der Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« 1959 in Karlsruhe, die der SDS organisiert hatte. Im Februar des darauf folgenden Jahres versuchte der Berliner Senat die Ausstellung sogar zu verhindern. Schließlich konnte sie doch stattfinden, was auch angesichts der Verjährung von NS-Kriegsverbrechen, die 15 Jahre nach Kriegsende drohte, besonders wichtig war.
Doch es werden in dem veröffentlichten Filmmaterial auch Probleme thematisiert, die heute noch aktuell erscheinen. Am Vorabend der Studentenrevolte, am 21. Januar 1967, fand im Audimax der Universität Hamburg die Diskussion »Radikalismus in der Demokratie« statt, die später im ZDF gezeigt wurde. Auf dem Podium sitzt neben dem Zeit-Verleger und CDU-Politiker Gerd Bucerius und dem Soziologen Ralf Dahrendorf auch der Vorsitzende der damals noch jungen NPD, Adolf von Thadden. Diskussionsleiter ist Fritz Bauer.
Die räumliche Nähe zu Thadden, der nur zwei Plätze neben Bauer sitzt, ist diesem merklich unangenehm. Schon vor dem eigentlichen Auftritt achtet Bauer darauf, dass er nicht gemeinsam mit Thadden im Bild ist. Dass er auf der Bühne die Fassung behält, spricht für sein radikal demokratisches Selbstverständnis. Dennoch lässt er sich nicht davon abbringen, die NPD als das zu bezeichnen, was sie damals schon war: eine Ansammlung von Deutschnationalen, von alten und neuen Nazis, bei deren Versammlungen eine »Atmosphäre wie seinerzeit im Bürgerbräukeller« herrsche. Diese Äußerungen bringen ihm von Seiten des Publikums nicht nur Applaus ein.
In den insgesamt 14 Beiträgen auf der DVD äußert sich Bauer auch zur Zensur, zur Reform des Sexualstrafrechts und zur Abtreibung. Zu allen Themen vertritt er eine liberale, aus heutiger Sicht teils radikale Meinung: »Angesichts des Schismas der moralischen Wertungen selbst durch die Richter höchster Gerichte kann es nur eine Konsequenz für alle staatlichen Gewalten – Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung – geben: Zurückhaltung und Toleranz«, sagt er. Über den neokonservativen Rollback der Gegenwart, der viele gesellschaftliche Bereiche erfasst hat, würde sich Bauer mehr als nur wundern.
Bauers Haltung zum Fernsehen war ambivalent. Er wusste, dass die Bilder eine breite Wirkung erzielten. Wenn es um Spielfilme ging, wo Produktionswelt und Fiktion ineinanderspielten, äußerte sich Bauer skeptischer, wie etwa in einem Brief an den Regisseur und Freund Thomas Harlan, Sohn des NS-Regisseurs Veit Harlan: »All dies ist mehr als undurchsichtig. Ich fühle mich in dieser Welt der Illusionen unsicher und unwohl.« Ein Auftritt Bauers in Alexander Kluges Film »Abschied von gestern« blieb daher die Ausnahme.
Die Auswahl beginnt mit einem Kommentar Bauers zum Fall Eichmann: »Deutschland ist heute stolz auf sein Wirtschaftswunder. Es ist auch stolz, die Heimat Goethes und Beethovens zu sein, aber Deutschland ist auch das Land Hitlers, Eichmanns und ihrer Spießgesellen und Mitläufer. Wie aber der Tag aus Tag und Nacht besteht, hat auch die Geschichte eines jeden Volkes ihre Licht- und Schattenseiten. Ich glaube, dass die junge Generation in Deutschland bereit ist, die ganze Geschichte, die ganze Wahrheit zu erfahren, sie zu bewältigen ihren Eltern allerdings mitunter schwer fällt.«
Bauer hatte Ende der fünfziger Jahre dem israelischen Geheimdienst Mossad und nicht den bundesdeutschen Justizbehörden den entscheidenden Tipp zum Aufenthalt Eichmanns in Argentinien gegeben. Als deutscher Staatsanwalt hatte er es vorgezogen, sein Wissen an einen ausländischen Geheimdienst weiterzugeben, weil er meinte, dass dies der der Aufklärung über den Nationalsozialismus dienlicher sei als ein langer und wahrscheinlich erfolgloser Kampf mit der deutschen Bürokratie. Der BND wusste zudem von Eichmanns Versteck seit 1952. Der Hinweis Bauers im Fall Eichmann wurde erst viele Jahre nach seinem Tod bekannt.
»Wir sind zum Guten oder Schlechtem die Erben der Aufklärung und des technischen Fortschritts. Sich ihnen zu widersetzen durch Regression auf primitive Stufen, mildert die permanente Krise nicht, die sie hervorgebracht haben. Im Gegenteil, solche Auswege führen von historisch vernünftigen zu äußerst barbarischen Formen gesellschaftlicher Herrschaft. Der einzige Weg, der Natur beizustehen, liegt darin, ihr scheinbares Gegenteil zu entfesseln, das unabhängige Denken«, schrieb Max Horkheimer kurz nach dem Kriegsende in »Eclipse of Reason«. Bauer hat sich diese Denken zueigen gemacht. Die beiden DVDs vermitteln davon einen guten Eindruck.
Die DVD erscheint in Zusammenarbeit mit dem Fritz-Bauer-Institut anlässlich der Ausstellung »Fritz Bauer – Der Staatsanwalt« bei Absolut Medien. Die Ausstellung ist vom 10. April bis 7. September im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main zu sehen.