Vier Frauenporträts aus Marokko

Die starken Frauen von Marrakesch

Marokko gilt nicht gerade als Vorbild für Gleichberechtigung. Im touristischen Marrakesch, wo der alte Orient und die junge Moderne aufeinanderprallen, geben Frauen häufig den Ton an. Vier Porträts.

Laila Hida
Medina, Marrakesch. Es ist kurz nach halb zwölf und schon jetzt knallt die Sonne unbarmherzig in die engen Gassen der Altstadt. Eine Seitenstraße in der Nähe der Koranschule Medersa Ben Youssef führt zu einem unscheinbaren Tor. Ein Schritt über die Schwelle, und der Trubel der Medina verebbt. Weiße Wände dominieren den Innenhof. An einem der Tische sitzt Laila Hida. Ihr Haar wirkt leicht zerzaust, ihre dunklen Augen blicken müde. Kein Wunder: Erst vor wenigen Monaten eröffnete sie hier das Kulturzentrum »Le 18«, ein Ort für Ausstellungen, Lesungen, Performances, Filme und kulturelle Veranstaltungen, den Hida gemeinsam mit Hicham Bouzid unterhält. Die Hausnummer 18 gab dem Kulturzentrum in der kleinen Gasse Derb el Ferrane seinen Namen. »So etwas hat in Marrakesch bisher gefehlt. Wir brauchten ein Zentrum, in dem sich Kunst- und Kulturinteressierte treffen und austauschen können«, sagt Hida. Also gründete sie es selbst und ließ kurzentschlossen ein altarabisches Herrenhaus mit Patio umgestalten. Unten liegt der Innenhof, der Caféatmosphäre hat und als Bühne für ein Programm unterschiedlichster Darbietungen dient. Oben führt die Zuschauergalerie zu den Gästezimmern für Künst­lerinnen und Künstler. Hida arbeitet selbst in der Szene. Als Fotografin konnte sie sich weit über die Grenzen Marokkos hinaus einen Namen machen.
Als wäre all das nicht genug, initiierte die zierliche Marokkanerin vergangenen Herbst zum zweiten Mal die Designermesse »The Souk« (der Markt). Rund 30 Aussteller aus den Bereichen Mode, Schmuck und Design verkauften zwei Tage lang ihre Waren im »Le Jardin«, einem großen Gartenrestaurant in der Altstadt. Mehr als 1 000 Gäste kamen, um Design made in Marokko zu bewundern. »In anderen Großstädten gibt es seit langem Designermärkte. Ich wollte beweisen, dass das auch in Marrakesch funktioniert«, sagt die 30jährige und klickt auf ihrem Laptop durch die Bildergalerie der Veranstaltung. »›The Souk‹ ist ein Gemeinschaftsprojekt«, betont sie, »ich habe das nicht alleine gestemmt. Die Grundidee war, die Kreativen an einem Ort zusammenzubringen.«
Hida kommt ursprünglich aus Casablanca, sie studierte in Frankreich und fand schnell ihren Traumjob in Paris, doch als der »arabische Frühling« vor drei Jahren begann, ließ sie alles stehen und liegen. »Ich konnte einfach nicht länger nur vor dem Fernseher sitzen«, erzählt sie, »ich wollte Teil der Bewegung werden.« Mittlerweile spiele das alles keine große Rolle mehr in Marokko, findet Hida: »Wir machen unsere eigene Bewegung. Kunst und Kultur können vielleicht mehr bewirken und Denkweisen stärker verändern als eine richtige Revolution.«

Mouna Anajjar
Neustadt Marrakesch, in einer Seitenstraße des Stadtzentrums befindet sich der Verlag »Another Éditions«. Mouna Anajjar sitzt hinter ihrem riesigen Schreibtisch aus Eisen, telefoniert und erzählt: »Es begann vielleicht vor zehn Jahren. Plötzlich entstanden überall neue Restaurants, Hotels, Clubs. Es gab neue Designer. Wir haben mit unseren Medien die Entwicklung der Stadt begleitet«, sagt sie und zündet sich mit graziöser Bewegung eine Zigarette an.
Die Marokkanerin, die lange in Paris lebte, zog 2006 nach Marrakesch und gründete den Verlag gemeinsam mit einem Geschäftspartner. Neben dem Stadtmagazin La Tribune de Marrakech verantwortet sie das Marrakech MAG, ein futuristisch geprägtes Design- und Kulturmagazin, das Themen rund um den Wandel von Gesellschaft und Ökonomie in den Vordergrund stellt.
»Als wir 2007 La Tribune de Marrakech herausgebracht haben, wollten wir etwas für die Stadt tun, die Leute vorstellen, die hier leben. Das, was entstand, musste ans Licht gebracht werden«, erzählt sie mit Leidenschaft in der Stimme. »Die Entwicklung wurde stark von Leuten beeinflusst, die vorher in anderen Ländern gelebt hatten und eine neue Sicht auf die Dinge einbrachten, aber gleichzeitig das Traditionelle bewahren wollten. In Marokko selbst spricht man von der nouvelle vague – der neuen Welle, die das Alte aber nicht überrollt, sondern – im Gegenteil – mit höchstem Respekt integriert.« Als sie den Rauch elegant in die Luft bläst, erinnert sie an einen Filmstar aus den zwanziger Jahren. »Die Handwerkskunst ist hier einzigartig. Die Arbeiter stellen alles in Handarbeit her, sie beherrschen ihr Handwerk wirklich. Den habe ich mir hier anfertigen lassen, natürlich auch Handarbeit«, sagt die 40jährige und klopft auf den soliden Schreibtisch, als wolle sie ihre Worte unterstreichen. »Vor allem die Künstler brauchen gute Handwerker, die ihre Ideen übersetzen. Vieles von dem, was gerade entsteht, wäre gar nicht möglich ohne den künstlerischen Geist der Stadt.«
Der künstlerische Geist der Stadt beflügelt auch Anajjar. Die arbeitswütige Marokkanerin kümmert sich nicht nur um ihre Magazine, sondern initiiert auch Ausstellungen zu Umweltthemen und plant Fotowettbewerbe für Nachwuchs-Fotokünstler. Inspirationen holt sie sich auch auf ihren vielen Reisen. Brauchen Frauen in einer von Traditionen geprägten Stadt wie Marrakesch Auslandserfahrungen, um weiterzukommen? »Stärke ist in erster Linie Charaktersache«, glaubt Anajjar. »Aber wer sein familiäres Nest und sein kulturelles Umfeld verlässt, kann seine Individualität oft besser ausprägen und gewinnt dadurch sicherlich auch an Stärke.«

Alya Sebti
»Mouna und Laila haben einen Weg gefunden, ihrer Kultur verbunden zu bleiben, und gleichzeitig ihre persönliche Freiheit zu bewahren. Sie sind sicherlich inspirierende Vorbilder für andere Frauen«, findet Alya Sebti. Das Gleiche ließe sich auch über sie selbst sagen. Die 30jährige übernahm die künstlerische Leitung der diesjährigen fünften Marrakesch Biennale. Als freie Kuratorin spezialisierte sie sich auf nordafrikanische Kunst und machte sich schnell einen Namen, vor allem, nachdem sie 2011 die erste Ausstellung des ägyptischen Fotografen Youssef Nabil in Marokko organisiert hatte. Sebti lebt derzeit in Marrakesh und in Berlin. »Ich vermisse Berlin. Ich bin jetzt schon seit knapp drei Monaten in Marrakesch«, sagt sie und lacht. »Was ich hier am meisten vermisse, sind Sojamilch, Vollkornbrot und mein Fahrrad.«
Und noch etwas vermisst Sebti in Marrakesch – die Freiheit im täglichen Leben. »Hier gibt es zwei Codes, Regeln für Menschen aus anderen Ländern und Regeln für die Einheimischen, insbesondere die Frauen. Egal was du für einen Hintergrund oder was du für akademische Abschlüsse hast, du bleibst die marokkanische Frau, die nachts nicht unbegleitet durch die Medina zu laufen hat. Das erschwert mir den Alltag. Hinzu kommen die gesellschaftlichen Erwartungen an eine junge Marokkanerin – zu heiraten, Kinder zu bekommen, nicht total in der Arbeit aufzugehen. Diese Erwartungen gibt es in Berlin nicht, dort fühle ich mich freier«, sagt Sebti. »Der Rahmen hier ist zu klein für mich, ich brauche einen größeren und den habe ich in Berlin gefunden.«
Kerzengerade sitzt sie auf dem Sofa der Hotelbar, sie lächelt viel, strahlt Ruhe und Souveränität aus. Eine beachtliche Lockenfülle rahmt ihr feines Gesicht. Ihr Handy hat sie auf lautlos gestellt, auch sonst stört keiner das Gespräch. Nichts deutet darauf hin, dass die künstlerische Verantwortung für die Marrakesch Biennale, eine internationale und kritisch beäugte Kunstausstellung, auf Sebtis Schultern lastet.
Den Weg in die Freiheit erkämpfte sich die junge Frau auch in beruflicher Hinsicht. Mit 18 Jahren, gleich nach dem Abitur in Casablanca, verließ sie Marokko, um an einer renommierten Business School in Paris zu studieren. »Es machte mir überhaupt keinen Spaß. Meine wahren Leidenschaften blieben Literatur und Kunst«, erzählt sie. Den Abschluss schaffte sie trotzdem mit Auszeichnung und fand gleich eine Anstellung in einer Werbeagentur in Paris. »Das war mein Leben am Tag, nachts aber folgte ich meiner Passion und studierte Kunstgeschichte am Louvre. Dort gab es einen Abendkurs.« Beherzt schmiss Sebti schließlich ihren Job in der Werbung, machte ihren Master in zeitgenössischer Kunst und war begeistert: »Ich war total verliebt in diese neue Welt und konnte nicht mehr zurück. Ich spürte, das war mein Ding«, sagt Sebti, die noch ein Post-Gradu­ate-Studium in »Business of Contemporary Art« draufsetzte. Rückhalt fand sie auch in der alten Heimat: »Meine Familie hat mir immer vertraut und mich unterstützt, auch wenn es nicht immer einfach für sie war.«
Der erste Meilenstein der neuen Karriere kam 2009, als Sebti maßgeblich bei der Organisation der weltbekannten Fotomesse »Paris Photo« half, die in jenem Jahr arabische und iranische Künstler ausstellte. Anschließend zog sie zurück in ihre alte Heimat, übernahm eine zentrale Rolle auf der Art Holding Marokko und etablierte sich als freie Kuratorin in Berlin. Die deutsche Hauptstadt wurde schließlich zum zweiten Wohnsitz. »Berlin hat kein Geld, aber dafür Kreativität ohne Ende. Hier wird jeden Tag etwas Neues erfunden. Ich habe dort viel gelernt, bin wie ein Schwamm, der alles aufsaugt«, erzählt Sebti, die fünf Sprachen spricht und gerade Deutsch lernt. »In Marrakesch hat man weniger Freiheiten, ein kleineres kulturelles Angebot, aber dafür ist die Underground-Szene sehr interessant. Hier blüht gerade alles auf. Die Energie des Neuen, die Kraft der Spontanität ist sehr stark. Marrakesch wird mehr und mehr zu einem kulturellen Zentrum Nordafrikas.«
Diese Entwicklung kommt auch der Emanzipation zugute. Immer öfter liest man von Frauen in Führungspositionen. »Zurzeit tut sich viel«, sagt Sebti. »Ich hoffe, dass der der Aufstieg von Frauen nicht nur ein vorübergehendes Phänomen bleibt, sondern sich langfristig durchsetzt.«

Kerstin Brand
Marrakesch ist ein Mekka für Abenteurer und Auswanderer. Die meisten verschwinden wohl wieder, wenn der Zauber des Orients verflogen ist und ein oft gnadenloser Alltag beginnt. Eine, die nicht nur blieb, sondern sich auch durchsetzte, ist Kerstin Brand. Die Deutsche ist Hoteldirektorin und die rechte Hand eines Gastronomieunternehmers. Sie managt ein Gästehaus, mehrere Restaurants und einen Beachclub. Als Direktorin des Hotels Dar Fakir dirigiert sie mit fester Hand ein Team von acht Angestellten. Mit ihrem marokkanischen Chef gab es nie Probleme – im Gegenteil. »Ich bin ein sehr direkter Typ und er auch«, sagt sie. Gut die Hälfte ihrer Mitarbeiter sind Männer. »Wenn es Probleme gibt, frage ich mich nie: Hat er vielleicht so reagiert, weil ich eine Frau bin? Sonst lege ich mir ja nur selbst Steine in den Weg. Außerdem habe ich zehn Jahre im IT-Bereich gearbeitet, mit zehn Technikern um mich herum. Ich zeige, was ich kann und danach ist Ruhe«, sagt Brand selbstbewusst.
Die 41jährige trägt eine weiße Baumwollhose und ein T-Shirt in Tunikaform. Ihr schulterlanges lockiges Haar ist leger zu einem Zopf zusammengebunden. Sie zupft etwas Tabak aus der Packung, nimmt ein Blättchen und rollt sich eine Zigarette. Das T-Shirt rutscht lässig über ihre Schulter. »Wenn ich reise, bin ich mehr Backpacker als Fünf-Sterne-Hotel-Typ«, sagt sie. Man glaubt es ihr sofort. Ihr Backpack war es auch, der sie erstmalig nach Marrakesch führte. Damals, mit Anfang 20, erkundete sie die Welt, landete in Marokko und verliebte sich sofort in die pulsierende Stadt am Fuße des Atlasgebirges. Es sollte aber noch viele Jahre dauern, bis sie sich hier niederließ. Zunächst kam das Lehramtstudium in England, ein gut bezahlter Job im IT-Vertrieb, die teure Wohnung in London und die Erkenntnis: »Ich kann was.« Die Sehnsucht nach der Ferne aber blieb und nachdem die Dot.com-Blase geplatzt war, ihre Stelle gestrichen wurde und ihr Job-Alternativen reizlos erschienen, packte Brand ihre Abfindung in den Rucksack und zog los. Irgendwann stand sie wieder auf dem Djemma el Fna, dem weltbekannten Marktplatz Marrakeschs und spürte deutlich: »Hier will ich bleiben.« Sie blieb. Eine spontane Entscheidung war das nicht. »Ich plante alles sehr sorgfältig«, sagt Brand. »Wer in einem Land wie Marokko Fuß fassen will, sollte nicht kopflos losziehen, sondern seine Schritte gut durchdenken.«
Der erste Job passte noch nicht ganz, aber dann ging alles ganz schnell: »Ich hatte ein Gespräch mit meinem Chef und wir merkten sofort, dass die Chemie stimmte.« Brand krempelte die Ärmel hoch, strukturierte einiges um und war plötzlich Hoteldirektorin, Eventmanagerin und Partnerin eines auf Tourismus ausgerichteten Gastronomieunternehmers. »Dass ich eine Frau bin, spielt hier genauso wenig eine Rolle wie in Europa«, sagt sie. »Nur, das Arbeitsleben ist ganz anders strukturiert. Nix mit Tarifverträgen und festgelegten Urlaubstagen. Die erste Frage meiner Mutter war – hast du auch eine Zahnarztversicherung?« sagt Brand und lacht.
Das Bild der unterdrückten Frauen Marokkos teilt sie nicht: »Ich wohne im alten Teil Marrakeschs, der Medina. Die Mutter hat hier eine ähnliche Rolle wie die italienische Mama. Man merkt schon, dass die Söhne großen Respekt haben«, empfindet Brand. »Bei den jungen Frauen ist das Denken sehr unterschiedlich. Es gibt einige, die wollen traditionell bleiben und erwarten, dass der Mann das Geld nach Hause bringt. Andere möchten unbedingt selbst arbeiten gehen und ernähren manchmal die ganze Familie.« In ihrem eigenen Team ist alles vertreten, von der toughen Großstädterin, die ihre Chance nutzen und nach oben will bis hin zur Familienmama, die nach getaner Arbeit möglichst schnell nach Hause eilt.
Brand sitzt auf der Terrasse ihres Arbeitsplatzes Dar Fakir, trinkt ein Glas marrokanischen Wein, raucht, telefoniert in drei Sprachen, erzählt. Die Sonne geht langsam unter und taucht die roten Fassaden der Stadt in ihr magisches Licht. Unvermittelt ertönen die Rufe der Muezzins von den Moscheen der Stadt. Brand hält inne. »Ich liebe den Gebetsruf immer noch«, sagt sie. »Selbst nach drei Jahren Marrakesch bin ich jedes Mal wie verzaubert.«