Flucht ohne Ende
»Ich bemerkte schnell, dass alles den Bach runtergehen würde und dass Syrien sich kurz vor dem Ausbruch eines verheerenden Kriegs befand.« Abdal Mohammad Barah beteiligte sich 2011 an der ersten Welle der Proteste gegen den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad in der südsyrischen Stadt Dara’a. Die Demonstrationen seien friedlich gewesen, zumindest bis die Demonstranten zum Ziel von Scharfschützen, Bomben und der schweren Artillerie des Regimes wurden. »Sechs Monate nach Beginn der Proteste waren in Dara’a alle bewaffnet«, erzählt der 35jährige, der vor einem Jahr nach Jordanien flüchtete. Er floh nicht nur vor dem Krieg und allem, was dieser mit sich brachte, sondern auch, weil er auf einer schwarzen Liste stand. Sein Verbrechen: Er war unter den Ersten, die halfen, Medikamente an die Free Syrian Army (FSA) zu liefern.
Die ersten Panzer kamen im Januar 2012 nach Dara’a, gefolgt von den Bodentruppen der Regierung. Abdal und seine vier Brüder wurden verhaftet, er verbrachte fünf Monate im Gefängnis, zuerst in Dara’a, dann in Damaskus. »Sie wollten mir nicht glauben, dass ich kein Mitglied der FSA war. Sie folterten mich. Es war entsetzlich, vor allem in Damaskus.«
Vor dem Krieg betrieb Abdal, der heute in einem Haus außerhalb von Mafraq an der jordanischen Grenze zu Syrien lebt, einen kleinen Laden, wo er Baumaterial verkaufte. »Von dem Laden und meinem Haus sind nur Ruinen übrig geblieben, sie haben alles niedergebrannt. Meine Vergangenheit wurde vernichtet.« Und seine Zukunft? Bei diesem Thema mag Abdal nicht verweilen: »Der Krieg ist lange nicht vorbei.«
Während der Gefangenschaft hätte er fast aufgegeben. In einer Nacht schlugen seine Peiniger ihn zum wiederholten Mal, bis er ohnmächtig wurde. Sie wollten ihn zum »Geständnis« zwingen, er sei ein Terrorist: »Sie brachen mir den Oberschenkelknochen mit einem Stock, doch als sie bemerkten, dass ich schwer verletzt war, fuhren sie mich in ein Krankenhaus. Um die Erlaubnis zu bekommen, meine Familie zu kontaktieren, musste ich eine Erklärung unterschreiben, dass ich die Treppe heruntergefallen sei und mich dabei verletzt habe. Als meine Familie davon erfuhr, bestach sie das Krankenhauspersonal, um mich da raus zu bekommen.«
Als Abdal nach Dara’a zurückkam, fand er nur blanke Zerstörung vor. Er beschreibt, wie Mitglieder der shabiha, der regimetreuen Milizen, alles geplündert hatten, was sie greifen konnten: »Die gesamte Stadt war eingekesselt. Die ganze Zeit schlugen Granaten, Raketen und Bomben ein. Überall lagen Leichen. Als ich erfuhr, dass mein Onkel lebendig verbrannt worden war, wurde mir klar, dass ich mit meinen drei Kindern und meiner Ehefrau das Land sofort verlassen musste.« Aber er ging noch an Krücken, er konnte sich kaum bewegen. »Mit Hilfe von Schmugglern schafften wir es nach Jordanien. Sie brachten uns zum Flüchtlingscamp Za’atari. Dort war die Situation dramatisch. Es hatte gerade einen Hepatitis-Ausbruch gegeben. Zum Glück wurde ich medizinisch versorgt und konnte bald wieder auf meinen eigenen Beinen gehen.«
Aber das Geld ging allmählich zur Neige. Abdal muss sich heute ständig von Verwandten und Freunden Geld leihen. Wie Tausende andere Flüchtlinge hat er sich hoffnungslos verschuldet. Ein wenig Abhilfe leisten die Essensgutscheine des UNHCR im Wert von rund 30 Euro monatlich. Aber aufgrund seiner schweren Verletzung hat Abdal auf dem jordanischen Arbeitsmarkt keine Chance. Offiziell dürfen syrische Flüchtlinge in Jordanien nicht arbeiten, aber dieses Gesetz wird allgemein nicht beachtet. Der Zustrom von Tausenden verzweifelten Flüchtlingen aus Syrien hat die Lohnkosten in Jordanien, ähnlich wie im Libanon, abstürzen lassen. Viele der illegalen Arbeiter sind Kinder, manche sind erst sechs Jahre alt.
»Ich vermisse meine Verwandten, die in Syrien geblieben sind, sehr. Sie haben sich geweigert, das Land zu verlassen, weil sie ihm sehr verbunden sind«, sagt Abdal, bevor er seine düstere Prognose für die Zu’kunft ausspricht: »Früher oder später werden sie auch fliehen müssen und wenn sie weg sind, wird man ihre Häuser an Regime-Anhänger geben. Was kann ich sagen, es ist ein Teufelskreis, ehrlich, ich sehe keine realistische Friedenslösung für Syrien.«
Außerhalb des Flüchtlingscamps liegt das Dorf Za’atari,dessen Bevölkerung von rund 3 000 zum Zeitpunkt der Eröffnung des Camps im Juli 2012 auf derzeit rund 22 000 Einwohner gestiegen ist. Die syrischen Flüchtlinge wohnen nicht nur in jedem Haus, sondern auch vor jedem Haus des Dorfes, am Straßenrand, in Wohnwagen und Zelten, in Parks und auf Spielplätzen. Aufgrund der Flüchtlingskrise sind die Mietpreise in der Region entlang der syrischen Grenze um das Fünffache gestiegen. Es gab auch eine extreme Erhöhung der Wasser- und Strompreise. Die Brunnen sind fast ausgetrocknet und als wäre das alles nicht genug, fiel in der Region im vergangenen Jahr 30 Prozent weniger Regen als üblich.
Hier treffe ich Zena, die aus einem Dorf am Rande der syrischen Stadt Homs stammt. »Wir versuchten, uns einzureden, dass wir für einen langen Besuch nach Jordanien gekommen sind«, erzählt sie. »Am Anfang half uns dieser Gedanke, nicht verrückt zu werden. Inzwischen wissen wir, dass der Krieg lange nicht vorbei ist, und das Leben hier wird jeden Tag härter«, sagt Zena, bevor sie lapidar hinzufügt: »Wir sitzen, wir reden und wir warten.« Wir sitzen in einem der vielen von syrischen Flüchtlingen bewohnten Häusern in Za’atari und trinken Tee mit Zena und ihren schwarz verschleierten Freundinnen und Verwandten. Zena erzählt von Zuhause: »Das erste Kriegsjahr war relativ ruhig«, erinnert sie sich. »Dann begannen die Kämpfe, von einem Tag auf den anderen. Wir wurden eingekesselt von Regierungstruppen und mit Raketen beschossen. Kein einziges Haus in unserem Dorf blieb verschont. Wissen Sie, ich könnte nie wieder in ein Land zurückkehren, das von einem Kriminellen namens Bashar al-Assad regiert wird.«
Aber ihr Herz ist dort geblieben. Zena erzählt, wie sie jeden Tag beim Aufwachen ihren Garten und ihre Küche vermisst: »Ich träume sehr oft davon, wieder Zuhause zu sein und für meine ganze Familie zu kochen.« Es sei eine Ironie des Schicksals, sagt sie, dass früher Syrien traditionell die gesamte Region mit Qualitätsnahrungsmitteln versorgt hat und dass sie jetzt hungern muss. Zu einem großen Familienessen wird es nicht nur deswegen nie wieder kommen: Viele von Zenas Angehörigen sind ums Leben gekommen.
In den vergangenen Monaten hat das syrische Regime die Bevölkerung systematisch hungern lassen. Das bestätigen internationale Helfer, die etwa in Homs Szenen erlebten, die sie an die Befreiung von KZs nach dem Zweiten Weltkrieg erinnerten: Körper, die kaum in der Lage waren, sich zu bewegen, Menschen, die sich nur noch an Resten von Bewusstsein klammerten. Hunderte, Tausende, die sich – wer weiß, wie lang – nur von Blättern, Baumrinde und Gras ernährt hatten. »Ich habe vieles gesehen, aber das war bei weitem das Schlimmste, was ich erlebt habe«, sagt Aiofe McDonell. Sie arbeitet für das UNHCR und ist hier, seit die ersten syrischen Flüchtlinge nach Jordanien kamen. »Man kann sich an vieles gewöhnen«, erzählt die irische Helferin, die ich in der Geburtsklinik des Flüchtlingscamps treffe, »aber der Zustand der syrischen Flüchtlinge, die hier ankommen, ist einfach unsäglich.« Ihre Erschöpfung sieht man ihr an. »In den vergangenen zwei Jahren haben wir keinen einzigen ruhigen Moment gehabt.« Das glaubt man ihr sofort, denn hier spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab, die das UNHCR als »ohne Beispiel in der jüngeren Vergangenheit« bezeichnet hat. Und auch McDonnell scheint kaum Worte zu finden, um das Ausmaß dieser Tragödie zu beschreiben, trotz jahrelanger Erfahrung: »Ich weiß nicht, wie so etwas überhaupt möglich sein kann, heutzutage. Man würde denken, dass die Menschen aus der Geschichte gelernt haben, oder?«
Ähnliches erzählt auch Heinke Veit von der Generaldirektion für Humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz der EU-Kommission (ECHO): »Diese Krise ist anders als alles, was wir bisher erlebt haben, die Folgen für die Nachbarstaaten sind enorm. Die Flüchtlinge, die aus Syrien kommen, waren an eine gewisse Lebensqualität gewohnt. Sie haben so viel verloren, das ist das, was sie von anderen Flüchtlingen, etwa aus afrikanischen Ländern, unterscheidet. Das ist auch der Grund, warum sie von Hilfsorganisationen sehr viel erwarten.«
Derzeit leben nach Angaben des UNHCR rund 105 000 Flüchtlinge im Flüchtlingscamp Za’atari, täglich werden es mehr. Mehr als die Hälfte von ihnen sind unter 18 Jahre alt, 55 Prozent sind Frauen. Das Camp gilt als die viertgrößte jordanische Stadt. In den vergangenen zwölf Monaten hat sich die Situation etwas verbessert. Aus dem chaotischen Loch mitten in der Wüste, das Za’atari war, wo die »Flüchtlingsmafia« regierte und Teenager-Gangs Angst und Schrecken verbreiteten, ist heute ein Ort geworden, in dem versucht wird, ein wenig Würde für traumatisierte syrische Bürgerinnen und Bürger wiederherzustellen. Das Camp wurde keineswegs als provisorische Bleibe errichtet. Schon an der Architektur merkt man: Wer es gebaut hat, wusste sehr gut, dass der Syrien-Krieg lange dauern würde und dass viele der Flüchtlinge auch nach Kriegsende nirgendwohin zurückkehren werden können.
Auch Kilian Kleinschmidt befasst sich täglich mit dieser harten Realität. Der deutsche Krisenmanager sorgt in Za’atari für Ordnung. Er bekam diesen Auftrag vom UNHCR im vergangenen Jahr, als hier noch das Chaos herrschte. Seitdem wird der stämmige Mann in Berichten »der Bürgermeister von Za’atari« genannt.
Auch Kleinschmidt bestätigt: »Es ist die schlimmste Krise, die ich je erlebt habe.« Er steht vor einem Plan des Camps in seinem Büro und betont: »Glauben Sie mir, ich habe vieles gesehen. Was wir hier erleben, ist der totale Kollaps der syrischen Gesellschaft. Millionen Menschen mussten ihre Häuser verlassen, mehr als ein Drittel der Bevölkerung! Die meisten dieser Häuser sind dem Erdboden gleichgemacht worden. Und damit nicht genug, unzählig viele weitere wollen zwar fliehen, können es aber nicht, weil es zu gefährlich und zu teuer ist.« Za’atari, so Kleinschmidt, sei nur »ein kleines Fenster mit Blick auf die unbeschreibliche Tragödie der syrischen Bevölkerung«. Erst vor einem Jahr sei Za’atari beinahe eine Kriegszone gewesen, nicht selten seien die ausländischen Helfer beim Betreten des Camps von allen Seiten mit Steinen beworfen worden. »Das war nur zu verständlich«, meint Kleinschmidt, »es herrschte eine unglaubliche Wut. Jeder von ihnen hatte grauenhafte Dinge erlebt, die meisten hatten Freunde und Familie verloren. Auch wurden regelmäßig die wildesten, schwer zu überprüfenden Gerüchte zum Stand des Krieges verbreitet. Viele der Bewohner waren von Schuldgefühlen geplagt, die Spannung war greifbar, es gab kein Vertrauen mehr«, so Kleinschmidts Beschreibung dessen, was er vorfand, als er hier ankam. »Man muss das verstehen: Viele Leute sitzen hier nur ein paar Kilometer von Zuhause fest, es ist für sie extrem frustrierend. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass die bösen Jungs die Kontrolle übernommen haben.« Das war die Situation im vergangenen Jahr, als die jordanische Armee nach Ausschreitungen zwischen Flüchtlingen und der Polizei drohte, im Camp einzuschreiten.
Heute werden Besucher nicht mehr mit Steinen beworfen. Das große Areal in der Mitte des Camps, auch Champs Elysées genannt, wimmelt nur so von kleinen Geschäften, Cafés und Restaurants. Es gibt sogar zwei Supermärkte.
»Uns geht es nicht schlecht. Es gibt ungefähr hundert Herrenfriseure im Camp, aber unser Laden ist einer der bekanntesten«, strahlt Karim al Khalid, den ich in seinem Laden auf der sogenannten »Fifth Avenue« treffe, der zweiten Geschäftsstraße neben den Champs Elysées. Gemeinsam mit seinem Cousin hat Karim seinen Laden vor sechs Monaten eröffnet. Vor dem Krieg hatte er elf Jahre als Barbier in seiner Stadt, Dara’a, gearbeitet.
»Die Geschäfte laufen gut«, sagt er. »Wir haben rund 30 Kunden täglich. Das ist ein Zeichen, dass sich die Lage hier beruhigt hat. Den Leuten ist bewusst geworden, dass sie hier länger bleiben müssen, und ein regelmäßiger Besuch beim Friseur gehört dazu.« Karims Laden ist auch sein Haus: »Mit einer Rasierklinge und einer Schere in der Hand kann ich den Krieg für eine Zeitlang vergessen«, sagt er und lacht.
Auch Um Jihad führt ein kleines Geschäft in Za’atari. Die 55jährige siebenfache Mutter, die 15 Enkelkinder hat, stammt ebenfalls aus Dara’a, dort arbeitete sie vor dem Krieg als Näherin. Wenige Tage nach ihrer Ankunft in Za’atari konnte sie eine alte Nähmaschine ergattern und fing an, aus den Decken, die das UNHCR an die Flüchtlinge verteilte, T-Shirts zu nähen. Heute hat sie ihr Angebot erweitert und näht Schlafanzüge, Hosen und Babysachen und kann damit ihre gesamte Familie ernähren. Einfach ist das nicht: »Ich kann es kaum erwarten, wieder Zuhause zu sein, aber es ist im Moment einfach nicht möglich. Ich wünsche mir meine Freiheit zurück und vielleicht ein Stück Land, das mir gehört«, sagt sie, während sie ketterauchend die Tauben füttert, die sie in Käfigen hält. »Ich mag es, den Vögeln zuzuschauen, vor allem wenn ich nervös oder traurig bin. Sie beruhigen mich.«
In der nahegelegenen Geburtsklinik warten Dutzende Frauen auf ihre Untersuchung. Vier Babys wurden heute im Camp geboren. Seit der Eröffnung der Klinik vor sieben Monaten sind 700 Kinder hier zur Welt gekommen. In Za’atari leben laut UN-Angaben rund 60 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahre, von denen nur ein Viertel zur Schule geht. Die meisten laufen im Camp herum, erledigen die anstrengendsten und am niedrigsten bezahlten Arbeiten. Viele Kinder schuften unter sklavenähnlichen Bedingungen außerhalb des Camps, um ihren verschuldeten Familien zu helfen.
Ob der kleine Osama hier einmal zur Schule gehen wird? Osama ist eines der vier Neugeborenen. Seine Mutter, Mariam, erzählt wenige Stunden nach seiner Geburt, dass ihre Familie aus Huta, im Osten Syiens, stammt, wo sie Attacken mit chemischen Waffen überlebte. Sie erzählt, dass sie vor fünf Monaten nach Zaatari kam und ihre Eltern zurücklassen musste, weil sie vom Hunger zu geschwächt waren, um die lange Reise zu unternehmen. »Meine Eltern essen nur noch Blätter und Gras«, berichtet Mariam vom letzten Telefonat mit ihrer Familie vor einigen Tagen. Das gehöre für diejenigen, die in Syrien geblieben sind, zur Normalität. »Sie trauen sich nicht mehr aus dem Haus. Überall gibt es Schießereien und Bombenanschläge. Vergangene Woche ging ein Bruder meines Ehemannes etwas zu Essen suchen. Er wurde sofort erschossen. Er war der letzte erwachsene Mann in meiner Familie.«
Der Flüchtlingsstrom nach Jordanien reißt nicht ab. Die Geflüchteten aus Syrien werden neben Za’atari in einem zweiten Flüchtlingscamp untergebracht, das rund 30 000 Menschen aufnehmen kann. Es liegt in der Nähe von Zarqa, nordöstlich der Hauptstadt Amman. Für den 30. April ist die Eröffnung eines dritten Flüchtlingscamp des UNHCR in Azraq, rund 100 Kilometer östlich von Amman, mit 130 000 Plätzen geplant.
Aus dem Englischen von Federica Matteoni.