Ein Tagebuch über mein Praktikum im Altenheim

25 Tage Altenheim

Nils Elias Molle ist 21 Jahre und macht in Leipzig eine Ausbildung zum Sozialassistenten. Sein Praktikum in einem Altenheim hat er in einem Tagebuch festgehalten.

1. »Haben Sie keine Angst, trauen Sie sich ruhig ran. Es sind alte Menschen, das stimmt. Es sind kranke Menschen, das stimmt auch, und Sie werden sich später vielleicht einiges anders wünschen.«
Alt zu sein ist eine Krankheit. Man vergisst, wer man war, wer man ist, was man konnte, was man mochte und wusste. Und irgendwann wird man vergessen und von niemandem mehr gebraucht. In den Speisesaal wird mein Name gebrüllt, einige schauen mich daraufhin an, manche winken, keiner sagt was. Dann lerne ich die Mitarbeiter und die Arbeit kennen. Projekt: Pflege. Das heißt, der Alltag wird zur Hauptaufgabe. Du wirst am Leben erhalten, weil du nicht sterben darfst, doch du hast vergessen, ob du wirklich noch leben willst. Und ich weiß ja gar nicht, wie dein Alltag aussieht. Und ich kann dich doch nicht fragen: Ist das dein Alltag? Eine bettlägerige Frau mit einem Abszess am Rücken hat heute zu mir gesagt: »Ich war auch einmal so jung wie Sie und damals konnte ich mir auch noch nicht vorstellen, dass mir mal so eine Scheiße passiert.« Dann hat sie angefangen zu weinen, und ich musste meine Tränen unterdrücken und hoffen, dass ich nicht alt werde. Nein, so würde ich mir das später nicht wünschen. Da wünsche ich mir eher, dass ich vorher sterbe und in meinen letzten Momenten mit meiner Liebe an der Seite vor dem Sonnenuntergang sitze und einen Joint rauche.
Schockmoment – und auf einmal bin ich für alles dankbar, was ich habe, dass ich lebe und wie ich lebe.

2. Solange du lebst, bist du mit deiner Existenz in den Hinterköpfen der Menschen gespeichert. Bis es den Menschen so vorkommt, als würdest du nie verschwinden.
Er saß im Rollstuhl auf dem langen Gang, von dem links und rechts die Zimmer abgehen, und die Sonne, die hinter ihm im Fenster aufging, ließ nur seine Silhouette erkennen. Heute haben viele Menschen geweint, bereut, was sie in ihren vielen Jahren getan oder nicht getan haben, und sich vom Leben verabschiedet. Und auch er, der im Rollstuhl auf dem Flur saß, hat geweint, nach seiner Frau gerufen und wurde dabei immer wütender, bis er zu schwach dazu wurde. Erst wurde er dafür bestraft, dass er so laut geworden ist, und deswegen auf sein Zimmer geschickt. Dann wurde ihm sein Wunsch erfüllt. Seine Frau kam. Sie war körperlich anscheinend gesund und gepflegt, hatte aber einen Gesichtsausdruck von Hässlichkeit, dem man etwas Bösartiges unterstellen könnte. Er fragte sie als erstes, wo sie herkäme. Sie sagte: »Von zu Hause«, und lachte. Er habe wohl Wahnvorstellungen, weil er sich ständig einbilde, dass sie ihn betrüge. Dann meinte sie, dass er wohl einen Albtraum gehabt haben müsse. Er hatte einen Albtraum und Wahnvorstellungen, während sich die anderen im Zimmer neben ihm lauthals vom Leben verabschiedeten oder ihm nachtrauerten.
Da musst du jetzt mal ruhig bleiben. Irgendwann wirst du vergessen worden sein (Futur II). Wann du abtrittst, ist nicht deine Entscheidung. Der Herzschrittmacher hält dich vom Sterben ab. Ob du willst oder nicht.

3.Irgendetwas macht dich kaputt. Irgendetwas ist meistens Krebs. Dann beginnt das Sterben: »Der Tod ist ein Irrtum.«
So will ich nicht zugrunde gehen. Du bist und bleibst ein schlechtes Beispiel. Erst wirst du abgegeben und dann aufgegeben. Aus Protest pinkelst du in den Fahrstuhl, obwohl du eine Windel anhast, oder ziehst den Verband ab und kratzt deine Wunde auf. Schlimm genug, dass du noch »Nein!« sagen kannst, wenn man dich füttert. Wir haben (leider) keine Zeit, dir zuzuhören, weil wir (leider) keine Zeit haben, uns zuzuhören. Sieh es ein, du stirbst zur falschen Zeit. Diese Hippies kochen alle ihren eigenen Kartoffelsalat. Die einen machen es so, die anderen so – aber wenn man es so macht wie du, kann man es gleich vergessen. Sonst ist es nur eine Frage der Gewohnheit, wie lange du noch leidest.
Man gewöhnt sich ja an alles. Warum gönnst du dir nicht gerade mal eine Auszeit vom Leben. Eine Zigarette lang. Ich bin gleich wieder da, um deine offene Wunde am Rücken neu zu verbinden, die du bekommen hast, weil man dich immer auf einer Stelle hat liegen lassen und dich nie gedreht hat und du es selber nicht kannst. Vielleicht hört es ja aber auch bald von selbst auf. Das Jucken am Rücken, das Vergessen von Namen, das langsame, ekelhafte Essen. Du wirst dich schon daran gewöhnen.

4. Dir wird langweilig. Zwischen dem Schlafen und Essen denkst du an dein langweiliges Leben, das jetzt zu Ende geht. Heute morgen fragst du mehrmals: »Wo ist meine Mama?« Ich kann es dir nicht sagen. Die anderen antworten dir, dass sie einkaufen gegangen ist, und lachen.
Überhaupt hast du bei all der Stille zu viel Zeit zum Nachdenken. Aber die paar Jahre hältst du jetzt auch noch durch. Was du gelernt hast: »Es ist nicht immer alles schön.« Warum sollte es dann jetzt schön sein? Was ist Freude? Kannst du dich überhaupt noch daran erinnern? »Mein Leben wurde durch das meiner Kinder ersetzt oder ist verloren gegangen. Dadurch ist mein jetziges Nichtstun gerechtfertigt.« Wenn du bewegungsunfähig bist, kannst du froh sein. Denn du würdest dich schämen, noch gehen ­zu können, aber nicht weglaufen zu wollen. Aber kannst du nichts machen oder willst du nichts machen?
Gegen Mittag fragen wir die Bewohnerin, ob sie gut geschlafen hat. Sie antwortet: »Ich habe sehr gut geschlafen und nur einmal den Notdienst gerufen.« Aber, naja, irgendwer muss dich ja beschäftigen. Da reichen vielleicht auch deine Vorstellungskraft oder die Erzählungen der anderen. Oder Erzählungen über andere. Oder über andere von anderen. Im Vorbeigehen kriege ich mit, dass du, am Rollstuhl gefesselt, eine neue Tablette verschrieben bekommst, weil du so depressiv erscheinst und ständig nach deiner Frau rufst. Die Tablette soll dir helfen, das alles hier besser zu ertragen. Bei dir reichen vielleicht nicht die Vorstellungskraft oder die Erzählungen der andern. Eher sollst du in deine eigenen Erinnerungen abtauchen. Wenn du aber keine Erinnerungen mehr hast, darfst du getrost sterben gehen.

5. Du machst krank. Die Erkältung habe ich schon seit über einer Woche, aber ich fühle mich, als hätte ich mich bei dir angesteckt. Denn die Symptome sind die gleichen. Jetzt darf ich liegen bleiben und essen und schlafen und habe genug Zeit, um über mein Leben nachzudenken. Aber viel lieber denke ich über deines nach. Denn mich betrifft so etwas ja nicht. Wann ist der Schmerz wohl größer: Wenn man in den letzten Momenten niemanden mehr hat oder wenn man dabei viele verliert? Recherche.
Klar ist es für dich schwerer zu sterben. Du verlierst dabei Hunderte Menschen. Deine Kinder, Enkelkinder, Urenkelkinder, Brüder, Schwestern, Schwager, Cousins und Cousinen und Freunde – aber sie alle verlieren nur einen. Das scheint einfacher.
Zum Glück kommt ab und zu mal Besuch. Er erscheint wie ein Engel – und genauso selten. Meistens unterhält er sich mit dir und alle anderen mit ihm. Nur du bist still. Aber sie wollen auch was abhaben. Denn sonst gibt es doch nichts mehr, das zählt. Ich spüre es doch, du bist wie gefangen. Und du gehörst da hin. Genauso wie Verbrecher ins Gefängnis. Aber nur, weil es keine Alternative gibt. Nur, weil niemand danach sucht. Suche ich danach?

6. »Ist das nicht eher ein Frauenberuf?« Ich habe ganz vergessen, dass es um Geschlechterrollen geht. Das Geschlecht spielt bei der Ausübung eines Berufes wohl eine entscheidende Rolle. Tut es das auch noch, wenn ich dir den Arsch abwische?
Ein paar der Bewohner bekommen Ergänzungsnahrung. Diese wird entweder ins Essen gemischt oder dazu gereicht. Es ist egal, dass dir das Rezeptessen nicht schmeckt. Es ist Medizin, du musst es trotzdem zu dir nehmen. ­Alles andere kannst du stehen lassen, aber das isst du auf. Endlich hast du mal den Mund aufgemacht, damit ich ihn dir stopfen kann. Und noch ein großer Löffel für dich. Zum Genießen würde die Zeit nicht reichen und ich verspreche dir, dass im Pudding immer noch genug Zucker drin ist. Wenn dir das aber alles zu viel wird, kann ich dir noch getrost sagen: »Irgendwann stumpfst du ab.« Irgendwann interessierst du dich nicht mehr für die Menschen, auch wenn es am Anfang noch so schön war. Irgendwann sind dir ihre Vorlieben egal. Irgendwann willst du ihnen nicht mehr zuhören. Irgendwann willst du ihnen nichts mehr erzählen. Irgendwann weinst du nicht mehr. Dann bist du professionell. So lernt man übrigens auch das Töten.
Dabei war es ein schöner Tag, an dem ich mich gefreut hatte, dass ich dich kennenlernen durfte und ich mir Freiheiten rausnahm, die es hier schon lange nicht mehr gab. Dann gibt es Tage, an denen wünsche ich mir, dass die Bewohner nur Statisten sind, die nach der Arbeit nach Hause gehen und sich wie normale alte Menschen verhalten. Die stundenlang im Edeka rumschleichen, auf dem Fußweg stehenbleiben und sich erschrecken, wenn dann jemand plötzlich hinter ihnen steht, und bei einer roten Ampel viel zu langsam über die Straße gehen. An dieser roten Ampel würde ich ihnen kurz zunicken, und wir würden kein Wort miteinander reden, denn mit Kollegen will man ja privat nichts zu tun haben.
Doch jetzt habe ich gerade sehr viel mit dir zu tun.

7. Neue Station, die gleichen Vorurteile.
Ich denke, ich kenne dich nicht, habe nie etwas mit deinesgleichen zu tun gehabt und weiß gar nicht, was ich mit dir machen soll. Dabei weiß ich doch jetzt genau, wie ich mit dir umgehen muss. Nur, würde ich es richtig machen, hätte ich gar keine Zeit mehr für dich. Bei all dem Waschen und Essenreichen kommen die anderen Bewohner viel zu kurz. Aber das tun sie so oder so. Im Fahrstuhl, auf dem Weg zum hauseigenen Friseur, riet sie mir: »Bekommen Sie niemals einen Schlaganfall!«
Als dürfte ich es mir aussuchen. Als hättest du jemals eine Wahl gehabt. Aber ich gebe mein Bestes. Versuche, so gut ich kann, auf dich einzugehen, und setze dich auf den Friseurstuhl vor dem Spiegel, vor dem du drei Mal die Woche sitzt. Dann verabschiede ich mich von dir und denke, ganz kurz nur, ob du mich schon vergessen hast, wenn ich wiederkomme. Auf den langen Fluren laufen wir dann wie wild hin und her, biegen in ein Zimmer ab oder kommen wieder heraus. Hektik in einem sehr langsamen Leben. Alles ist in Eile. Nur einer von uns scheint es richtig zu machen und keiner wird es bemerken. »Du darfst es nicht an dich ran lassen. Eine einsame Witwe, ein Pärchen, das schon fünf Jahre hier wohnt, ein früherer Polizist – du stirbst mit jedem mit.« Ich kenne das. Du kratzt den Vogel von der Scheibe und wirfst ihn in die Mülltonne. Um ihn zu trauern, wäre albern. Anscheinend könnte es so klappen.

8. Vielleicht hast du auch Recht. Vielleicht bin ich ungeeignet. Aber das blöde ist, dass du es auch bist. Schade, dass man so viel aufgeben muss, um hier arbeiten zu können.
Wenn du deinen Alltag nun aber doch noch kennst, kann man ja nur alles falsch machen. Von dem ganzen Socken-, Hosen- und Windel­anziehen und dem ganzen Knien vor dir, tun meine Beine weh. Anders geht es auch nicht und ein Dankeschön wäre unangebracht. Neben der Fahrstuhltür hängt ein vergessenes Plakat, das ich gerade zum ersten Mal sehe. Was mir bisher noch keiner erzählt hat: Anscheinend geht es nun doch nicht um den Tod, sondern um eine schwere Phase im Leben. »Phasen gehen vorbei«, denke ich mir. »Irgendwann will man ja auch wieder nach Hause.« Bisher habe ich zwar noch niemanden gehen sehen, aber das kommt bestimmt noch. Trotzdem hast du heute die Notfallklingel gedrückt, weil du meintest, du fühlst dich einsam und verlassen. Lustig, nicht!? Wir haben jedenfalls die Tür geschlossen und alle herzhaft gelacht.
Darauf stoßen wir an. Sekt aus Schnabeltassen. Alkoholiker sind die anderen. Die anderen, die nicht trinken dürfen, deren Zimmer wir durchsuchen, weil sich die Medikamente nicht mit dem Alkohol vertragen. Diese armen Menschen. Prost!

9.  Vielleicht ist aber auch alles gut. Vielleicht ist da auch ein Mensch unter dem Gummihandschuh. Ein bisschen Wärme kann ich spüren, nur krampft dein Herz. Ein Kompliment und ein guter Rat von dir am Morgen: »Sie sind so jung und schön. Sie dürfen niemals alt werden.« Mache ich nicht, werde ich nicht. Versprochen. Und auch wenn du alt geworden bist, ist deine Liebe noch da, auf die du mehr angewiesen bist als auf das tägliche Waschen am Morgen. Die Betten werden zusammengeschoben, damit die Hände sich berühren können und man noch Abschied nehmen kann, falls einer geht. Steh auf, schlaf nicht wieder ein, du kommst zu spät zum Frühstück. Steh auf, schlaf nicht wieder ein, du kommst zu spät zu deiner Beerdigung. Jetzt tun wir alle noch so, als würden wir es nicht fühlen. Aber wenn es so weit ist, stellen wir uns alle betroffen. Du sagst: »Ich habe andere alte Leute gefragt. Alle würden am liebsten die Augen zumachen und nie wieder aufwachen. Ich möchte jetzt nicht aufstehen. Ich bin so müde.«

10. Es sieht immer so aus, als wärest du tot, wenn ich dich morgens wecke. Aber das Heben und Senken deiner Brust verrät dich. Sonst zuckst du auch noch immer zusammen, aber heute warst du zu schwach dazu. Den Schlaganfall in der Nacht hast du gar nicht bemerkt. Erst jetzt, am nächsten Morgen, fühlst du dich wie nach einem unendlichen Marathon. Jetzt kannst du dich nicht mal mehr über den ersten Schluck Kaffee freuen, sondern wirst von einer Gruppe Sanitätern abgeholt. Keiner weiß genau, was es war. Keiner weiß, ob du zurückkommst.
Weißt du es? Und jetzt beim Essen bemerkt keiner dein Fehlen. Wie auch, wenn sie nicht einmal wissen, wo sie gerade sind. Die erste will in ihr Zimmer, es läuft ja alles weiter. Und irgendwo hofft irgendjemand, dass du wieder nach Hause kommst. Oder wenigstens wieder hierher. Währenddessen einigen wir uns auf einen Kompromiss. Ich mag dich nicht, du magst mich nicht, also stehen wir das beide jetzt hier durch. Einmal nach links drehen, einmal nach rechts, ab in den Rollstuhl, Socken an, Kleid übern Kopf und ab ins Bad. Den Rest schaffst du alleine. Was ich fast vergessen hätte: Heute wolltest du dich umbringen. Den Kopf ins Bettgitter geklemmt und endlich sterben. Natürlich durftest du das nicht und alle waren verwundert, obwohl du es mehrmals angekündigt hattest. Versuchst du es weiter oder brauchst du nur die Aufmerksamkeit? Ich könnte es dir nicht verübeln, aber verzeihen würde ich es dir nicht.

11. Die Socken, Hemden, Hosen und Decken sind alle durchnumeriert und durchgeplant. Sie sind die letzten, die du hast, und alles, was dir geblieben ist. Endlich traue ich mich zu fragen, ob es dir hier gefällt. »Ja, es ist schön. Ich danke dem Herrgott, dass er mir das Essen geschenkt hat.«
Dann schaust du wieder aus dem Fenster und siehst die Leute kommen und gehen und mich leise aus dem Zimmer schleichen. Ab ins nächste Leben. Hände hoch, das ist ein Überfall. Du hast das ganze Bett nassgemacht, und ich darf das jetzt wieder wegmachen. Vollgekotzt, eingepinkelt, runtergeschmissen – das muss alles jemand saubermachen. Ich kann mich gar nicht oft genug für das Verhalten entschuldigen und du sagst, ich sing so schön. Ich habe jede Nacht Angst, dass ich von dir träumen könnte. Wie du bewegungslos vor mir liegst und mich mit deinen stillen, grauen Augen ansiehst und den Mund bewegst, als würdest du kauen. Dadurch sieht es so aus, als würdest du jede Sekunde aufspringen und losschreien wollen. Mit den Händen an den Hals und dem Schrei ins Gesicht. Ich warte jede Sekunde auf dein Schreien. Seit dem ersten Tag, an dem ich dir das Essen gereicht habe, denke ich, dass du losschreien willst. Wenn du mich dann aber mit deinem Blick am Bett festhältst, bin ich es, der losschreien will. Bitte verschone mich damit, oder bringen wir es schnell hinter uns. Machen wir es doch einfach zur Routine.
Und obwohl ich draußen genug zu tun habe, gehst du mir zwar aus dem Kopf, aber dein Geruch nicht aus der Nase. Ich treffe diesen Geruch den ganzen Tag über. Bei schwitzenden Menschen in der Bahn, bei vollgepissten Toiletten, in stickigen Zimmern mit Teppichboden habe ich sofort dein Bild vor Augen. Entschuldige bitte auch diese Grausamkeit.

12. Schweißgebadet wachst du auf, um vom Beginn des Morgens an auf den Abend zu warten. Es war lange nicht mehr so heiß, und durch den Uringeruch kriegt es eine Art von Schwüle. Du bewegst dich in deinem tropischen Zimmer wie ein alter Elefant, so schwer und so träge, nur dass ich dich tragen muss. Ich spritze dich mit Wasser ab und setze dich dann vor eine Schale voller Essen, doch du bleibst nur sitzen und schwitzt.
Im Krankenhaus ist eine Bewohnerin gestorben, die ich nie kennengelernt habe und die schon von den anderen vergessen wurde. Eine Schweigeminute, die keine ist, für jemanden, den niemand mehr kennt. Und jetzt: Friss oder stirb – aber vorher gehst du mir nicht auf dein Zimmer. Wir haben nicht genug Zeit. Jetzt stopf dich doch endlich voll. »Eine halbe Stunde kann man sich in der Pflege nicht leisten.« Eigentlich sollte man euch allen einen Schlauch in den Hals rammen und euch mit dem ganzen Scheiß vollpumpen. Euer ekelhaftes Geschmatze und Gekleckere kann sich ja keiner antun. Und dann könnt ihr ja nicht mal richtig den Löffel halten. Ihr schmiert euch ja regelrecht mit dem Essen voll und kaut viel zu ordentlich. Schämst du dich denn nicht?
Deswegen hast du wohl gestern aufgehört. Zu essen und zu trinken, meine ich. Alles andere kann noch folgen. Du bekommst püriertes Gulasch, püriertes Steak, pürierte Nudeln, und wir wundern uns, dass du nichts mehr isst. Bevor ich aber an diesem Tag endgültig verzweifle, kriege ich zum Glück noch Bestätigung von den Kollegen und ich weiß, dass sich auch noch andere für dich interessieren. Aber weißt du das?

13. Du startest voll durch, mit so viel Energie, die du eigentlich gar nicht haben dürftest. Warum bist du gerade heute so gut drauf? Was unterscheidet diesen Tag von all den anderen? Nur meine Energie reicht irgendwie noch nicht aus. Wie immer träume ich zu viel. Träume davon, wo ich euch überall an solchen Tagen mit hinnehmen würde. Heute darf ich in dein Zimmer und dein Bett beziehen. All deine Betten beziehen. Jeden Tag Betten beziehen. Würde ich aber vielleicht einmal weniger Betten beziehen und dafür einmal mehr mit dir reden, ginge es dir vielleicht besser, denn irgendwas scheint hier falsch zu laufen. Du willst dafür gelobt werden, wie toll du aufgegessen hast, wie gut du noch stehen kannst, wie schön du bei all diesen Lappalien mitmachst. Doch wenn ich dich lobe, wird gleich jemand anderes neidisch. Ein Konkurrenzkampf ohne Konkurrenz. Den ganzen Tag über rufst du schon von deinem Platz aus nach Hilfe, und wenn ich komme, hast du vergessen, was du wolltest. Meistens willst du auf dein Zimmer, um auf leeren Magen deine geheime Eierlikörflasche aus ihrem Versteck zu holen. Von der wir aber alle wissen.
Am Ende des Tages noch eine Überraschung: Du bist zurück aus dem Krankenhaus und es geht dir gut. Es war wohl nicht schön, dort wo du warst, aber es hat geholfen. Du siehst zwar schwach aus, aber so siehst du aus, seit ich dich kenne. Ich freue mich eher darauf, dir morgen wieder Kaffee zu bringen.
Ich hatte schon angefangen, dich zu vermissen.
14. Heute habe ich dich sehr enttäuscht. Du meintest, es wäre wohl einer dieser Tage. Aber genauso einer war schon gestern gewesen.
Der Tag kotzt dich an, und du kotzt ihn wieder aus. Dein gesamtes Zimmer und dein gesamtes Bett sind voller Erbrochenem. Da habe ich aber schon Schlimmeres gesehen. Doch dann musste ich dir Sachen wegnehmen und verbieten, und du hast geweint, weil du mir so viel Arbeit machst. Mach dir nicht die Mühe. Ich bin derjenige, der dir Anstrengungen bereitet. Versprochen. Ich bin derjenige, der dich so früh aufweckt, dich zum Essen bringt, dir Tabletten gibt und dich wieder hinlegt – ohne zu fragen, ob du das auch willst. Aber täte ich es nicht, würde es jemand anderes machen.
Am Ende der Schicht hole ich dich vom Esstisch, an dem du sitzen bleiben musstest, weil du wieder nicht aufgegessen hast. Ich bringe dich in dein Zimmer und höre ein »Danke«.

15. Nur weil es mir gut geht, muss es dir nicht gut gehen. Aber das Beste an guter Laune ist, dass man sie verbreiten kann.
Zwar warst du nicht begeistert davon, am Morgen wieder aufstehen zu müssen, und hättest gerne dein Essen ans Bett gebracht bekommen, aber trotzdem warst du begeistert von mir. Ich sollte dich zum Waschen in das Badezimmer bringen und als ich wiederkam, standst du mit heruntergelassener Hose da und hast gemeint, dass du bereit bist und wir uns jetzt küssen können. Das haben wir dann getan und sind Hand in Hand zu den anderen gegangen, um in irres Lachen zu verfallen, weil ich mich so gefreut habe, als ihr alle gesagt habt: »Dieser junge Mann kümmert sich um alle!« – »Ja, du bist ein Guter!« – »Der Mann hat was drauf!«
Dann verstehe ich aber nicht, wie man sich so weit aus dem Fenster lehnen kann. Wir befinden uns im dritten Stock. Nur wegen des Essens? Nur weil du nicht tun darfst, was du willst? Nur, weil du nichts hast? Trotzdem darfst du dich nicht töten.
Ich erlaube dir das nicht. Niemals.

16. Ich bin viel zu müde.
Durch den Brei in meinem Kopf wird das Notieren schwer und die 20 Sekunden Stille im Aufzug nach oben bleiben die einzigen für mich. Der Rest des Tages ist mehr investigativ als Journalismus. Im Halbschlaf duschen und rubbeln und Zähne einsetzen und Haare kämmen. Und heute auch wieder Nägel schneiden. Dabei muss ich mich zu dir setzen und darf dir diesmal zuhören. Man merkt, dass das lange niemand mehr gemacht hat, denn es ist eine wirre Mischung aus Gestern, Heute und Damals. Aus einer Nazijugend, einer DDR-Liebe, deinem Leben und dem Sterben von alledem. Du lobst mich immer wieder und wieder, wie toll ich das mache, aber ich weiß nicht, ob sich das wirklich auf meine Maniküre bezieht. Doch irgendwann muss auch ich gehen und dann fällt der Satz, der Hoffnungen in die Kreissäge schubst: »Ich will nicht alt werden.« Aber du bist alt. Wenn du nicht alt werden willst, wer will es dann noch?
Wenn du jetzt sterben würdest, würden wir, wie bei all den anderen, dein Zimmer plündern. Und während wir deine Überreste verzehren nur davon reden, dass es auch langsam mal Zeit war und dass das Leben ja nun halt mal so ist. Aber das Leben ist nicht so, nur wir sind so. Außerdem kannst du jetzt nicht gehen. Das Trauerbuch für Verstorbene, das im Flur liegt, ist auf der letzten Seite angelangt.

17. Die Routine überwältigt mich und ich scheine blind für deine Bedürfnisse zu werden.
Habe heute das Gefühl, zu merken, was ich wohl schon von Anfang an war – ein Fremder in einem fremden Umfeld. Dir gegenüber jemand, der wohl noch viel zu lernen hat, aber trotzdem scheinst du mir nichts beibringen zu wollen. Ich habe bisher niemanden getroffen, dessen Persönlichkeit mich beeindruckt hat. Stadium sechs bei Demenz: Vergessen von Eigenschaften, Interessen und Hobbys. Nun besteht aber nicht die geringste Chance, diese wieder herauszufinden, geschweige denn auszuleben. Du kannst froh sein, wenn dir deine Hobbys wieder einfallen und es Essen und Schlafen waren. Deinen Fluchtversuch vereitle ich und schiebe dich raus aus dem Fahrstuhl, mit dem du abhauen wolltest. Du fängst an, böse Sachen in einer Lautstärke zu sagen, die ich zwar höre, die deine Ohren aber gar nicht wahrnehmen sollten. Ich schiebe dich in dein Zimmer und du sagst, dass dir die Straße vor dem Fenster und die Fabrik viel zu laut seien. »Das macht keinen Spaß.« Und ich fühle mich schuldig, als hätte ich die Fabrik selbst dorthingebaut. »Und ich darf nicht einmal raus, das ist scheiße!«
Aus einem anderen Zimmer hole ich das übrige Essen raus und unterhalte mich kurz mit der Bewohnerin. Als ich dann zur Tür gehe, höre ich: »Wenn Sie weg sind, bin ich noch hier. Das finde ich doof.« Und genau dasselbe habe ich auch schon gedacht. Wenn ich an einem Tag weg bin und durch die Straßen spaziere, bist du noch hier. Du sitzt und wartest auf das näch­ste Essen und den nächsten Schlaf und ich suche mir etwas zu beißen und hoffe, dass ich so schnell heute keine Ruhe mehr finden werde. Anscheinend war das bei dir auch mal so. Vielleicht fällt es dir bei Zeiten mal wieder ein.

18. Ein Hauch von Geselligkeit liegt in der Luft.
Entweder liegt es tatsächlich an der Ergotherapie oder daran, dass wir an diesem Vormittag so viel zu tun haben, dass wir dich vergessen, wie du mit den anderen vor dem Fernseher sitzt, den niemand beachtet. Da sitzt und lachst. Wenn ich nachzähle, komme ich nicht über eine Hand hinaus, um zu sehen, wie oft ich dich lachen gehört habe. Zum Mittag erwischen wir dich aber, setzen dich aufs Klo, starren dich an und warten. Nun mach doch endlich was! Es ist unglaublich, was der Stuhlgang für eine entscheidende Rolle bekommt. Du verwendest dafür alle Kraft, die du hast, um das Verdaute aus deinem Körper rauszupressen. Am Ende bist du erschöpft, ohne Erfolg gehabt zu haben. Die Hälfte der Zeit beschäftigen sich die Ärzte mit dem, was aus dir rauskommt. Die andere Hälfte produzierst du diesen Auswurf. Leider gewinne ich immer mehr Abstand zu dir. Ich werde im Strom der Arbeit mitgerissen und ärgere mich schwarz. Warum habe ich mich nie zu dir gesetzt, ohne noch etwas vorzuhaben? Warum habe ich dich nie in den Fahrstuhl gestellt und die EG-Taste gedrückt? Warum habe ich dich nie an die Hand genommen und bin ohne Ticket in die nächste Bahn gestiegen?
Zu Hause bin ich immer sehr müde, schwach auf den Beinen und sehr gereizt. Denn leider gibt es noch was. Etwas, dass jeder Absurdität die Berechtigung nimmt: Würde ich dir die Freiheit schenken, könnte ich dir damit das Leben nehmen.

19. Nebel auf der Straße und in meinem Kopf, nur du bist schon wach.
Weil heute Morgen noch niemand Kaffee gekocht hat, lohnt es sich auch nicht, sich noch einmal hinzusetzen, bevor wir anfangen dich zu duschen. Da sitzt du aber auch schon in dem Flur, auf dem Sofa, im Nachthemd, rufst irgendwas, und ich wundere mich nur, dass ich dich nicht wie üblich aus dem Bett zerren muss. Dafür bleibt heute etwas Zeit, um auf Wünsche einzugehen: Dreimal hintereinander den Rücken waschen, weil das so schön ist. Ich wasche erst dich und dann den nächsten und beim Betten Beziehen sehe ich Fotos von dir an der Wand. Damals warst du dick, gesellig und voller Ausdruck – Eigenschaften, die ich nicht von dir kenne. Und weil du keine Eigenschaften mehr hast, braucht man sich auch nicht um sie zu kümmern. Deshalb sollst du heute auch wieder so lange am Tisch sitzen bleiben, bis du aufgegessen hast. Und solange du da alleine vor deinem vollen Teller sitzt, unterdrücke ich meine Wut und achte darauf, nicht ausfällig zu werden. Das würde uns beiden nicht helfen.
Dann soll ich dir noch im Bett das Essen reichen, und du röchelst und spuckst vor dich hin. Hätte ich die Decke zurückgenommen, hätte ich vielleicht schon früh bemerkt, dass dein Bein gerade abstirbt. Verstopfung der Arterien. Das Blut kann in deinem Oberschenkel nicht mehr weiterfließen. Du wirst vom Notdienst abgeholt, und alle hoffen, dass du einschläfst, bevor sie dir das Bein amputieren.

20. Als erstes wird nachgeschaut, ob du noch lebst. Keine Meldung eingetroffen. Nur dass keine Eingriffe bei dir unternommen werden, weil du dabei zu leicht sterben könntest. Sauerstoffmaske. In meiner Vorstellung hängst du an all den Kabeln, die dich zur Maschine machen, weil ich weiß, dass dein Kopf schon längst woanders ist. Schon seit langer Zeit.
Der Pflegedienstleiter sagt, ich solle dir drohen, dass dich »ein Neger« waschen würde, wenn ich dich nicht duschen darf. »Das sollte wirken.« Ich verkneife es mir und versuche sympathisch und beharrlich zu wirken, bis du auf der Toilette sitzt und ich den Duschkopf über dich und dein zerknirschtes Gesicht halte. Du bist aber auch anstrengend. Sonst weißt du doch immer genau, was du willst, nur jetzt nicht, aber im Nachhinein ist es trotzdem alles falsch. Ich darf dich ins Bett bringen und würde mich am liebsten neben dich legen, auch wenn es so stark nach Urin riecht. Leider muss ich dich noch auf der Seite lagern, bevor ich gehe. »Dann kann ich aber gar nicht mehr dieses schöne Gesicht sehen«, sagst du und starrst auf die weiße Wand.

21. »Ich habe nichts geträumt. Aber heute Nacht war für einen Moment ein schwarzer Mann in meinem Zimmer. Er hat nichts gesagt, aber er lag in meinem Bett. Nur für einen Moment. Das war komisch. Ein schwarzer Mann. Nur für einen Moment.«
Gespräche entstehen sehr schwer. Trotzdem bin ich froh, wenn du mal etwas erzählst. Denn woher sollte ich sonst wissen, dass du früher Kunstradfahrerin im deutschen Reich gewesen bist, genau wie dein Mann, der Deutscher Meister war und später bei der Bahn gearbeitet hat. Da muss er um die 20 gewesen sein. Im Krieg. Also im zweiten. Davon willst du aber nichts erzählen. Oder nichts mehr wissen. Du willst nicht davon reden, und ich hätte gar keine Zeit dir zuzuhören. Wenn dir heute gesagt wird, dass du noch einmal raus musst, wird auch extra langsam gemacht. Du willst auf einmal doch noch was trinken und dann noch die Nase putzen und dann doch noch mal auf die Toilette. Von mir aus können wir das alles auch noch erledigen, trotzdem gehst du heute raus. »Das sage ich dem Adolf«, sagst du. Man sieht dir an, wie sehr dir die Bewegung gut tut, die Luft und die Menschen. Ein Lächeln in deinem Gesicht und die anderen unterhalten sich viel zu leise mit dir, aber du freust dich und nickst. Und ich denke kurz, dass du glücklich bist. Falsch gedacht. Es heißt immer: »Vor dem Schlaganfall war alles anders.« Und dann laufen die Tränen, die erzählen, wie sehr du darunter leidest, dass du nicht mehr gehen kannst. Die Langeweile macht dich kaputt, nur die Kinder kommen alle viertel Jahre mal vorbei. Aber das kann ich nicht verstehen, sagst du. Da hast du Recht. Das kann ich nicht.
Weil wieder jemand Geburtstag hat, gibt es Fleisch und Sekt. Doch diesmal wirklich zum Genießen, da echt und wirklich eine Bewohnerin nach Hause geht. Nach Hause. Zu ihrem Mann. Zu ihrem Bett. Zu ihrem Essen – denn das ist hier immer noch ungenießbar.

22. Ich habe verschlafen und komme zu spät.
In dieser Nacht bist du gestorben, und man hätte nichts weiter für dich tun können. Die meisten hatten dich auch schon vergessen, weil du die letzten Monate nur im Bett verbracht hattest. Nur eine Bewohnerin weint um dich. Diese Bewohnerin war deine Zimmernach­barin, auch sie konnte sich nie deinen Namen merken. Es kommt in mir der Gedanke auf, dass ich dich gerne tot gesehen hätte. Nicht, weil ich noch nie einen toten Körper gesehen habe, sondern weil ich mir dann sicher wäre, dass du nun Ruhe hast. Wir haben dich noch so viel mit Essen und Trinken und Waschen ge­quält, dass du nun endlich froh sein kannst, davon weg zu sein. Der Wahnsinn geht zum Glück immer weiter. Eine Bewohnerin hat ihre Zähne verloren. Sie seien »an einem trockenen Ort« – nur weiß sie nicht mehr wo. Nach stun­denlanger Suche finden wir die Zähne, platziert auf einem Blumenstrauß. Darüber kann ich ruhig mit dir lachen. Ich habe keine Träne ge­weint, aber gelacht an diesem Tag. Lachen ist menschlich. Sterben ist menschlich.
Ich hoffe, du kannst ruhig schlafen.

23. Jeder Bewohner will es anders haben und das Pflegepersonal dann auch noch mal. Dieser Job ist so anstrengend und kräftezehrend, wie ich es mir nur schwer für andere Berufe vorstellen kann.
Irgendwann bin ich auch mal genervt von dir. Irgendwann habe ich auch mal die Schnauze voll. Wenn du immer wieder den Rücken gewaschen haben willst, du den Gürtel immer wieder rausziehst oder die Füße nicht hochstellst, wenn ich dich in dein Zimmer fahren soll. Du machst unzufrieden. So vergisst man sehr schnell, wie unterschiedlich die Menschen sind. Nur nicht die alten Menschen:
Unterhemden, Hausschuhe und Taschentücher unter dem Kopfkissen – das ist so 1945. Man merkt schon, dass du fehlst, denn du bist einer weniger, dem das Essen gereicht werden muss. Du bist nur einer von vielen. Es gibt 1,3 Millionen Demenzkranke in Deutschland und es werden immer mehr. 824 324 Menschen arbeiten in der Pflege und 23,6 Millionen Menschen über 60 Jahre bevölkern unser Land. Das sind 26,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Im Jahre 2030 sollen es schon über 35 Millionen sein. Wer soll die alle pflegen? Die Lebenserwartung liegt derzeit bei 78,7 Jahren für Frauen und 72,6 Jahren bei Männern. Du siehst also, dass du gar nicht mehr leben dürftest. Das ist mehr, als wir erwartet haben. Da hättest du mehr Kinder machen sollen. Oder sparen. Jetzt bist du hier. An dir werden 22 Maßnahmen täglich durchgeführt, die man als Pfleger so schnell wie möglich abarbeiten muss. Aber auch, wenn du es alles in deiner Schicht schaffst, es fehlt dir an der Zeit, sie richtig durchzuführen.
Das ist der Beweis. Pech für dich!

24. Solange du schläfst, habe ich keine Arbeit. Solange ich arbeite, kannst du schlafen.
Nur wenn wir beide die ersten Morgenstunden wach sind, gibt es für uns beide viel zu tun. Waschen, anziehen, essen, hinsetzen, essen, hinlegen, Kaffee – weißt du noch, wie wir angefangen haben und du mir alles erklären musstest? Du sagst, ich hätte viel gelernt hier in der kurzen Zeit. Das sagen meine Mitarbeiter nicht. Für dich habe ich es auch gerne getan und für niemanden sonst. Vielleicht hat es dir gefallen, jedenfalls hast du es oft gesagt. Morgen Nachmittag bist du mich los. Hoffentlich wird es dir gut ergehen.
Wann lerne ich, dass das alles gut hier für dich ist? Denn es einfach als schlecht zu betrachten ändert auch nichts an der Situation. Du erscheinst doch gepflegt, nur nicht zufrieden, aber wer ist das schon. Vielleicht werden wir nie zufrieden sein. Wir können uns nur darauf vorbereiten. »Sei froh, dass du nicht daran gefesselt bist«, sagt sie und zeigt auf den Rollstuhl, in dem ich sitze. Sie hat recht und ich unrecht. In unserem Land werden wir alle älter, aber nicht gesünder. Demenz ist immer noch nicht heilbar und das wird sie auch nicht werden, wenn wir uns bis zum Exitus am Leben erhalten. Wenn ich einschlafen will, soll ich nicht daran gehindert werden. Das Recht will ich dir auch nicht nehmen. Dein Leben sollte nur so gestaltet werden, dass du auch noch was davon hast. Ich will nicht, dass der Schlaganfall einen Schlussstrich darstellt. Es ist die Verzweiflung oder der jugendliche Leichtsinn, der aus mir spricht, aber der könnte auch meinen Platz im Alter bestimmen. Und der ist nicht hier. Nicht hier, wo du bist, und jeden Tag dasselbe Programm durchläufst.
Ich will etwas verändern. Ich will für dich da sein. Ich kann es nicht.

25. Es heißt Abschied nehmen. Obwohl man hier täglich nichts anderes macht, außer sich zu verabschieden.
Hast du mal ein Hörgerät fiepen hören? Du denkst, dass der Träger unendliche Schmerzen erleiden muss, bei diesem Ton in seinem Ohr. Aber nichts. Es sind die ganz neuen Dinge, die ich im Kopf behalten werde. Deine Elefantenhaut, dein langsamer Gang, dein ständig müdes Gesicht. Am Mittagstisch wird sich wegen des halbvollen Zuckerstreuers gestritten. Der war gestern schon so leer und niemand hat ihn nachgefüllt. Ich sage Tschüss, zu den einen mehr, zu den anderen weniger. Einige bedanken sich bei mir, ich bedanke mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen und gehe noch einmal den Flur entlang, an dessen Türen die Gesichter der Bewohner kleben, die ich in diesen Tagen wenig kennengelernt habe.
Bestimmt habe ich einiges falsch gemacht, aber ich bin zufrieden mit mir. Einmal krank, einmal verschlafen, ein Toter – eine gute Bilanz. Die Arbeit, die die Menschen hier verrichten, ist eine gute Arbeit, die Einrichtung ist das Schlimme. Und das Essen. Nur leider bist du immer noch hier, wenn ich schon wieder weg bin. Wir warten beide auf den Tod, aber bei mir lohnt sich das Warten.