Die Personalisierung des EU-Wahlkampfs

Wahlkampf mit Gesichtern

Mit der Aufstellung von europaweiten Spitzenkandidaten will die EU den Wahlkampf attraktiver gestalten. Die europäischen Bürgerinnen und Bürger lassen sich von der Personalisierung der EU-Politik jedoch kaum begeistern.

Dies könnten die ersten genuin »europäischen« Wahlen werden, orakelte im vergangenen Herbst Simon Hix, Professor für European and Comparative Politics an der London School of Economics. »Erstmals werden die Europäer bestimmen können, wer den mächtigsten Posten innerhalb der EU inne hat«, stellte Hix klar. Ob tatsächlich das Verhalten der Wähler ausschlaggebend für die Bestimmung des Präsidenten der EU-Kommission sein wird, steht allerdings noch längst nicht fest. Laut Lissabon-Vertrag müssen die Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedstaaten zwar das Wahlergebnis »berücksichtigen«. Die eigentliche Nominierung des künftigen Kommissionspräsidenten bleibt ihnen jedoch weiterhin vorbehalten, selbst wenn danach eine Mehrheit der neu gewählten Abgeordneten diesem Vorschlag zustimmen muss. Der gepriesene »Demokratiegewinn« wird kaum dafür sorgen, dem Trend zur Wahlenthaltung entgegenzuwirken. Dies ahnte man auch in der Brüsseler Kommission und empfahl deshalb, EU-Politik mittels Personalisierung publikumswirksamer in Szene zu setzen. Im Frühjahr vergangenen Jahres präsentierte die Kommission also die Idee, europaweit Spitzenkandidaten aufzustellen. Allerdings ist diese Idee, ähnlich wie die komplizierte Konstruktion der EU-Institutionen, nicht auf den ersten Blick zu verstehen. Gewählt werden Ende Mai in den 28 EU-Ländern nämlich 751 Europaabgeordnete. Die Spitzenkandidaten, die von den europäischen Parteien aufgestellt wurden, kandidieren jedoch für den Posten des Kommissionspräsidenten.
Personalisierung sei das »Salz in der Suppe der Demokratie«, sagte Martin Schulz im Gespräch mit dem Spiegel, kurz nachdem er von den Delegierten des Europäischen Parteienverbunds ­der Sozialdemokraten zum Spitzenkandidaten gewählt worden war. Im EU-Wahlkampf gehe es »jetzt erst einmal um Köpfe«, freute sich der derzeitige Präsident des Europaparlaments.

Einen Monat vor den Wahlen ist indessen von Wahlkampf nicht viel zu bemerken. Das spannend­ste Ereignis war bislang die mühsame Suche der christlich-konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) nach ihrer Nummer eins. Doch die recht farblose Kür des Luxemburgers Jean-Claude Juncker zum EVP-Spitzenkandidaten im Dubliner Convention Centre zeigte, dass sich selbst bei eingefleischten Europapolitikern die Begeisterung für die neue europäische Idee in Grenzen hält. Die CDU verzichtet sogar vollständig auf Wahlplakate mit Juncker.
Zunächst wird wohl die Frage, wie man die Wahlberechtigten der Europäischen Union überhaupt als kollektives »Wahlvolk« ansprechen kann, den Spindoktoren quer durch die Parteien Kopfzerbrechen bereiten. Die Idee der Spitzenkandidaten hilft da nur bedingt. Immerhin können die Listenanführer nur in ihren jeweiligen Herkunftsländern gewählt werden. Sofern sie überhaupt kandidieren. Kommissare oder Kommissionspräsidenten müssen nämlich gar nicht Abgeordnete des Parlaments sein. Dass etwa Jean-Claude Juncker gar nicht zur Wahl steht, fällt somit nur den Luxemburgern auf. Juncker begründet seine Entscheidung damit, er wolle nicht Europaabgeordneter, sondern Kommissionspräsident werden. Mit dieser Erklärung bringt der Luxemburger den Widerspruch seiner Spitzenposition auf den Punkt.
Ungeachtet dessen soll das Duell Schulz-Juncker Schwung in den Wahlkampf bringen. Die ersten Fernsehdebatten verdeutlichten jedoch lediglich das, was man zuvor ahnte: Die beiden stehen sich inhaltlich ziemlich nahe. Zwar tat sich Martin Schulz als Europaabgeordneter und ehemaliger Vorsitzender der Fraktion der Sozialdemokraten als ein wortgewandter Kritiker des deutschen Spardiktats hervor. Doch spätestens seit er in Berlin den Koalitionsverhandlungen beiwohnte, ist davon nichts mehr zu hören. Schulz scheute sich nicht, der Bundeskanzlerin als Parlamentspräsident von Straßburg aus politische Hilfestellung zu geben. Zum Beispiel, als er Ende vergangenen Jahres ein Abstimmungsverfahren so beeinflusste, dass in Zukunft die vorwiegend südeuropäischen Nutznießer von regionalen Strukturfonds deutlich härteren Bedingungen ausgesetzt sind. Angela Merkel hatte sich wiederholt hierfür ausgesprochen.
Bei diesen Wahlen gehe es um den »Aufbruch in eine transnationale Demokratie« schreibt er in der Frankfurter Rundschau, und von einem »Experiment, das es in der Geschichte noch nicht gegeben hat«. Hier stünden »weder Frau Merkel noch Herr Gabriel« zur Wahl. Schulz verliert in dem langen Text kein Wort über die sonst kritisierte deutsche Vorherrschaft in Europa.
In seiner Positionierung gegenüber der deutschen Kanzlerin tut sich auch der Christdemokrat Juncker schwer. »Ich möchte keine deutschen Verhältnisse«, stellte er zwar in Luxemburg klar, als er noch Premierminister war. Gleichwohl sah er keinen Widerspruch darin, Angela Merkel in ihrem Wahlkampf zu unterstützen. »Wer die EVP wählt: da ist Juncker drin«, hatte er in Dublin angekündigt. Beim programmatischen Inhalt darf die Kanzlerin jedoch offenkundig mitreden. Zum Beispiel beim Thema Eurobonds, als deren geistigen Vater Juncker sich gerne ausgibt. Mit der EVP werde es nie zur Einführung von Eurobonds kommen, verkündeten deutsche CDU-Politiker. Prompt ruderte Juncker zurück: Sollte er Kommissionspräsident werden, würden bis auf Weiteres in Europa »keine Schulden gemeinsam bedient«, lautete plötzlich sein Ziel gegenüber der Passauer Neuen Presse. Der rhetorischen Freiheit der europäischen Spitzenkandidaten werden nur wenige Grenzen gesetzt.

»Man hält uns für Idioten«, fasste der Chef der Fraktion der Grünen im Europaparlament, Daniel Cohn-Bendit, seine Haltung gegenüber den beiden Spitzenkandidaten und deren Auftreten zusammen. Juncker verkaufe sich als ein »Verteidiger des Sozialen«, doch »davon haben wir nichts gehört, als er Chef der Eurogruppe war«, so Cohn-Bendit. »Als Premierminister von Luxemburg steht er wohl hauptsächlich für einen Politiker, der den Finanzplatz aufgebaut hat«, fügte der Grüne hinzu, dessen Partei indessen durch die Organisation der Green Primaries unter dem Titel »You decide Europe« auf den Boden der europäischen Demokratie zurückgeholt wurde. In der gesamten Europäischen Union beteiligten sich Anfang des Jahres ganze 23 000 grüne Wähler an dem Aufruf, ihren Spitzenkandidaten online zu wählen. Organisator Reinhard Bütikofer wollte auf der Brüsseler Pressekonferenz trotz dieser peinlichen Zahl das »Demokratie-Experiment« nicht als Desaster werten. Bei der Präsentation der grünen Doppelspitze – Ska Keller und José Bové – machte zudem der männliche Part des Duos deutlich, wo die Grenzen seines Demokratieverständnisses liegen. Dass die 32jährige Keller mehr Stimmen als die Vorsitzende der europäischen Grünen-Fraktion Rebecca Harms bekam, wollte Bové nicht akzeptieren. »Ich werde Rebecca Harms unterstützen, damit sie wieder Vorsitzende wird«, kündigte Bové ungeachtet des Ergebnisses an. Keller übte sich auf dem Stuhl neben ihm in professionellem Wahlkampflächeln.
Am kohärentesten scheint bislang die Strategie am rechten Rand zu sein. Logischerweise verzichtet die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten, die 2009 von britischen Konservativen und ihren Alliierten gegründet worden war, auf die Nominierung eines Spitzenkandidaten. Die Beteiligung an diesem Prozess würde bedeuten, die föderalistische Vision eines europäischen Superstaates zu legitimieren, so die offizielle Erklärung. Ähnlich argumentiert man noch weiter rechts. Zusammen mit gleichgesinnten Europaabgeordneten hielt Marine le Pen vom Front National in Straßburg ein Plädoyer dafür, »dass allein das Volk souverän ist«.
Es gibt die realistische Aussicht, dass rechtsextreme Parteien im künftigen Parlament Fraktionsstärke erreichen. Dem EU-Recht nach benötigt man 25 Mitglieder aus sieben verschiedenen Mitgliedstaaten. »Das werden wir locker schaffen«, äußerte sich Marine Le Pen. Die jüngsten Ergebnisse der französischen Kommunalwahlen lassen dies umso wahrscheinlicher erscheinen. So könnte es sein, dass der Zusammenschluss der Rechten auf europäischer Ebene am Ende am besten funktioniert: Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, Europa leidenschaftlich abzulehnen.