Eleonora Forenza im Gespräch über das linke italienische Wahlbündnis »L’Altra Europa per Tsipras«

»Die Mehrheit der Liste versteht sich als radikale Alternative«

Alexis Tsipras ist nicht nur der Spitzenkandidat der Europäischen Linken (EL) bei der Europawahl. Er ist auch der Namenspatron für das Wahlbündnis »L’Altra Europa per Tsipras« (»Das andere Europa mit Tsipras«), eine Liste italienischer Linker, die eine Abkehr von der europäischen Austeritätspolitik fordern. Eleonora Forenza kandidiert für die Partei Rifondazione Comunista auf der gemeinsamen Wahlliste. Sie ist Dozentin für politische Ideengeschichte an der Universität Roma Tre, in der Bewegung der prekären Wissensarbeiter aktiv und Mitbegründerin des Kollektivs »Feministe Nove«. Mit ihr sprach die Jungle World über die Wahlliste und ihre Chancen.

Wie entstand die Wahlliste?
Am Anfang haben sich zwei Initiativen gekreuzt. Zum einen gab es den von einigen Intellektuellen lancierten Appell, eine Liste zu gründen, die sich auf Tsipras und sein Programm beziehen sollte. Dieser Appell fand die Unterstützung zahlreicher Aktivistinnen und Aktivisten der Zivil­gesellschaft und der sozialen Bewegungen. Bereits zuvor hatte Rifondazione Comunista, die der Europäischen Linken angehört, Tsipras’ Kandidatur zum Kommissionspräsidenten mitgetragen. Aus der Zusammenführung der unterschiedlichen Motivationen entstand dann die Liste »L’Altra Europa per Tsipras«. Auf ihrem Parteitag im Frühjahr beschloss die linke Partei Sinistra Ecologia e Libertà (SEL), sich ebenfalls an der Aufstellung der Liste zu beteiligen. Der Entstehungsprozess war ein bisschen kompliziert, letztlich aber sehr erfolgreich. Dem Aufruf, mit einer Unterschrift die Zulassung der Liste zur Europawahl zu ermöglichen, sind mehr als 200 000 Menschen gefolgt.
Reicht der Bezug auf den griechischen Oppositionsführer, um die italienische Linke zu einen?
Nein, das reicht sicher nicht. Aber die Erfahrung von Tsipras’ Oppositionsbündnis Syriza könnte immer noch ein Bezugspunkt sein. Erstens ist es Syriza gelungen, die Erfahrungen aus den sozialen Konflikten und dem Wahlkampf zusammenzuführen, zweitens hat Syriza klare Worte gefunden gegen die Austeritätspolitik und die Parteien, die sie unterstützen, und drittens hat das Bündnis die verschiedenen Fraktionen der Linken im Hinblick auf eine politische Alternative vereint. Alle drei Punkte zusammengenommen können als Empfehlung gelten für die Schaffung einer vereinten Linken in Italien.
Besteht die Hoffnung, dass aus der gemeinsamen Wahlliste eine neue politische Linke ­hervorgeht?
Natürlich hängt jetzt viel davon ab, wie der Wahlkampf verläuft, welche Beziehungen entstehen, wie viel Konsens wir erreichen können. Aber ich denke schon, dass das Projekt auch nach der Europawahl fortbestehen kann.
Im Logo der Liste steht nur der Name Tsipras, von einer Linken ist nicht die Rede.
Ich gehöre zu denjenigen, die gerne das Wort »Linke« im Logo gehabt hätten. Das Programm der Wahlliste ist zwar unmissverständlich ein linkes, aber für die unmittelbare politische Kommunikation hätte das Logo eine andere Aussagekraft gehabt. Das Vorstandsgremium rund um die Intellektuellen, die den Aufruf initiiert haben, wollte jedoch lieber auf das Wort »Linke« verzichten. Sie glauben, die Liste hätte damit größere Chancen, auch die Anhängerschaft von Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung oder unzufriedene Wählerinnen und Wähler der Demokratischen Partei anzusprechen.
Diese Taktik scheint bisher wenig erfolgreich, nach aktuellen Umfragen liegt die »Liste Tsipras« nur knapp über der Vier-Prozent-Sperrklausel. Wie erklären Sie sich diese schlechten Wahlprognosen?
In anderen europäischen Ländern gab es wegen der Austeritätspolitik starke soziale Konflikte, gewerkschaftliche Mobilisierungen, Proteste der Bevölkerung – all das gab es in Italien nicht. Den Platz der Opposition nahm Beppe Grillo mit seiner populistischen Bewegung ein. Seine Propaganda richtet sich aber eher gegen die »Kaste« der Politiker und weniger gegen die Sparmaßnahmen. Dazu kommt jetzt noch der Populismus des Ministerpräsidenten Matteo Renzi, der vor der Wahl vergessen machen will, dass die Demokratische Partei jede austeritätspolitische Entscheidung in Italien und in Europa mitgetragen hat. Für die Liste Tsipras ist es schwer, auf der Ebene der Massenkommunikation mit ihren Vorschlägen durchzudringen.
Die Liste will also einerseits Wählerstimmen aus dem Grillo-Lager gewinnen und sich gleichzeitig von jeder rechtspopulistischen Kritik an Europa abgrenzen. Kann dieser Spagat gelingen?
Grillo verkörpert ein Protestgefühl, aber seine Vorschläge für eine andere Europapolitik bleiben vage, über den Verbleib Italiens in der Euro-Zone möchte er per Volksentscheid abstimmen lassen. Dann gibt es die Rechte, die mit besonderer Virulenz von der Lega Nord verkörpert wird, die sich klar gegen den Euro ausspricht, ohne zu erklären, welche dramatischen Konsequenzen diese Entscheidung vor allem für die ärmere Bevölkerung mit sich brächte. Wir sagen nein zur Austerität, sind aber gegen einen Ausstieg aus der Einheitswährung. Wir fordern mit Tsipras eine Revision des Fiskalpakts und eine Schuldenkon­ferenz. Unsere Kritik an der Wirtschaftspolitik der EU verbindet sich außerdem immer mit der Forderung nach einem politischen Europa mit neuen demokratischen Partizipationsmöglichkeiten. Viele von uns kommen aus den Protestbewegungen gegen den G8-Gipfel in Genua, wir waren auf den Weltsozialforen, wir vertreten unsere Ideen seit Jahren, versuchen sie in unseren politischen Initiativen umzusetzen. Neben den Inhalten unserer Vorschläge unterscheidet uns auch diese Kohärenz von unseren politischen Gegnern.
Im vergangenen Jahr verfasste der italienische Philosoph Giorgio Agamben ein Pamphlet, in dem er forderte, dass sich ein »lateinisches Imperium« der Mittelmeerländer dem deutschen Europa entgegenstellen solle. Gehört der Traum von einer Mittelmeerunion auch zum Projekt eines anderen Europas mit Tsipras?
Ich finde diese Entgegenstellung von zweierlei Europa falsch. Andererseits ist es wahr, dass die Austeritätspolitik das ökonomische Gefälle zwischen Nord- und Südeuropa vergrößert hat. Die aufgezwungenen Sparprogramme verhindern eine wirkliche gemeinsame europäische Politik und zerstören die europafreundliche Stimmung, die sehr viele Italienerinnen und Italiener früher verspürten. Der entscheidende Punkt ist – und das sage ich als Leserin eines anderen italienischen Philosophen, Antonio Gramsci –, dass die meridionale Frage nicht mehr als nationale, sondern als kontinentale Frage zu denken ist. Es geht darum, über ein europäisches Entwicklungsmodell nachzudenken, das die Tatsache zur Kenntnis nimmt, dass Europa zum Mittelmeer hin offen ist und sich bestimmte Wachstumsmodelle nicht dem ganzen Kontinent auferlegen lassen. Ich bin selbst Süditalienerin und denke, es ist richtig, vom Süden aus über Europa neu nachzudenken, aber nicht, um den Gegensatz zwischen Nord- und Südeuropa zu verfestigen.
Die Liste Tsipras ist ein Konglomerat aus zivilgesellschaftlichen Gruppen, Bewegungslinken und nur wenigen klassischen Parteimitgliedern. Wie soll das Zusammenspiel im Europäischen Parlament funktionieren?
Hinsichtlich der politischen Ausrichtung haben sich Rifondazione Comunista und die intellektuellen Initiatoren der Liste sehr klar geäußert. Demnach müssen sich alle über die Liste Gewählten der Europäischen Linken anschließen, also der parlamentarischen Fraktion von Alexis Tsipras. Innerhalb von SEL gab es diesbezüglich einige Diskussionen, einige in der linken Partei halten einen Dialog mit der Sozialistischen Partei für möglich, aber die Mehrheit der Liste versteht sich als radikale Alternative und in Opposition zur Kandidatur von Martin Schulz. Deshalb scheidet die Möglichkeit einer Koalition mit den So­zialisten gänzlich aus. Schwieriger wird es, eine Organisationsform zu finden, die im Entscheidungsprozess die sogenannte Zivilgesellschaft und die an der Liste beteiligten Parteien zusammenführt. Das ist die Herausforderung, der wir uns stellen müssen, ohne die eine oder die andere Seite zu dämonisieren. Wir müssen eine der gegenwärtigen Krisensituation angemessene neue Organisationsform finden.
Sie betonen die Suche nach neuen politischen Ausdrucks- und Partizipationsformen jenseits der repräsentativen Demokratie, im Wahlprogramm der Liste Tsipras aber heißt es, man wolle das Erbe des vergangenen Jahrhunderts wahren.
Das ist kein Widerspruch. Wir erleben gerade einen heftigen Angriff auf die Verfassung, die aus der Widerstandsbewegung hervorgegangen ist, und auf das Sozialstaatsmodell, das während der Nachkriegsjahre erkämpft wurde. Beide Errungenschaften müssen wir mit großer Entschlossenheit verteidigen. Gleichzeitig stellt sich das Problem der Erneuerung. Die bloße Verteidigung der Institutionen, Parlamente, Parteien und Gewerkschaften reicht nicht. Das Delegationsprinzip genügt nicht mehr. Wir müssen der repräsentativen Demokratie Elemente der direkten Partizipation hinzufügen. Es geht darum, für einen poli­tischen Aktivismus, der sich nicht mehr über Parteien organisiert, neue Formen der Teilhabe zu ermöglichen.
Die radikale Linke, vor allem auch viele feministische Gruppen, standen dem Weg durch die Institutionen bisher eher ablehnend gegenüber.
Wie viele Feministinnen, die sich entschieden haben, in Institutionen oder traditionellen Organisationen wie Parteien zu arbeiten, weiß ich nur zu gut, dass es Orte sind, die nur kritisch und konflikthaft zu leben sind. Wenn ich in die Institution gehe, wird mir keine Vollmacht ausgestellt, es ist klar, dass es ohne die Beziehung zur Frauenbewegung, zu den anderen Frauen draußen, nicht zu einer gesellschaftlichen Veränderung kommt. Aber ich denke auch, dass eine Position der radikalen Ablehnung der Institutionen im jetzigen Moment ganz einfach Gefahr liefe, dass bestimmte Konflikte überhaupt nicht mehr eröffnet würden.