Konflikte in der Redaktion von Le Monde

Nagen an der Utopie

Die französische Tageszeitung Le Monde beschäftigt sich wieder einmal mit sich selbst.

Schlechte Nachrichten zu verbreiten, ist Aufgabe jeder Zeitung. Schlechte Nachrichten über das eigene Haus zu verbreiten, ist nicht ganz so üblich. Am 27. Mai musste die Pariser Abendzeitung Le Monde allerdings vermelden, dass die Konflikte in der Redaktion nicht mehr anders zu lösen waren als durch die Einsetzung eines neuen Führungsteams.
Zu Anfang des vergangenen Monats hatte sich die seit einiger Zeit schwelende Krise in der Redaktion zugespitzt. Am 6. Mai traten sieben der zehn Chefredakteure, Ressortleiter und Stellvertreter geschlossen zurück. In einer gemeinsamen Erklärung beklagten sie das »völ­lige Fehlen von Vertrauen oder auch nur Kommunikation« zwischen den Journalisten und der Leiterin der Redaktion, Nathalie Nougayrède. Lediglich Arnaud Leparmentier und Anne-Marie Lannelongue schlossen sich der Kritik nicht an und behielten ihre Posten als Ressortleiter.
Als Kandidat für den Posten des Chefredakteurs hatte Leparmentier bei einer Mitarbeiterabstimmung im März vorigen Jahres noch gegen Nougayrède verloren. Die frühere Russlandkorrespondentin hatte sich mit fast 80 Prozent der Stimmen durchsetzen können. Aber die Zusammenarbeit währte nicht lange. Jegliches Vertrauen innerhalb der Redaktion sei nach einem Jahr zerrüttet, heißt es aus der Redaktion. Vordergründig geht es bei dem Streit um den Relaunch der Printausgabe, aber auch um die geplante Stärkung der Web-Redaktion. 57 von insgesamt rund 400 journalistischen Stellen in den Rubriken der Druckausgabe sollen der Internet-Redaktion zugeschlagen werden.
Die Journalisten fürchten, dass sich gerade ältere Mitarbeiter zu einer Kündigung genötigt sehen. Vor allem aber wähnen sie durch die Abschaffung bestehender Ressorts und die Aufwertung der Web-Redaktion die journalistische Qualität bedroht. Gerade die fachliche Spezia­lisierung einzelner Redakteure mache eine gute Zeitung aus. Statt auf Kompetenz werde nun auf Schnelligkeit und Effizienz gebaut. In der Online-Redaktion gehe es oftmals nur um die Aufbereitung von Agenturmeldungen, argumentieren die Kritiker der Umgestaltung. Letzlich dienten die Umstrukturierungen der Entpolitisierung der Redaktion.
Verschwinden sollen die Rubriken »Planet«, die sich unter anderem umweltpolitischen Themen widmet, »Wohnungsprobleme und soziale Ausgrenzung«, »Banlieues« sowie die Abteilung »Radikale Linke«, die sich auch mit den sozialen Bewegungen beschäftigt. Schon seit April 2013 verfügt die Rubrik »Planet« über keine feste Seite mehr. Zu Anfang dieses Jahres wurde die Rubrik »Geopolitik« abgeschafft, die sich auf fundierte Weise mit internationalen Entwicklungen beschäftigte. Ausgebaut wurde die Beilage »Wirtschaft und Unternehmen«, die zumeist kritiklos die Leistungen privater Wirtschaftsunternehmen darstellt. Nach einer Auswertung der medienkritischen Organisation »Action critique des médias« (Acrimed) bestand die Beilage im Monat Februar bereits zu einem Viertel aus derartigen Artikeln. Das wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen.
Die Ideologie äußert sich bisweilen auch unmittelbar. Als Beispiel wird der Umgang mit einem Artikel des Filmkritikers Jacques Mandelbaum genannt. Es ging um den Film des US-Dokumentarregisseurs Frederick Wiseman, »At Berkeley«. Er schildert die Umstrukturierung der kalifornischen Universität, die bis dahin als Gegenmodell zu den nordamerikanischen Elitehochschulen wie Harvard galt. Der Artikel hatte den Titel »At Berkeley: Eine vom Neoliberalismus zernagte Utopie«. Das böse Wort »Neoliberalismus« verschwand jedoch kurz vor der Drucklegung, nunmehr hieß es in der Printausgabe nur noch: »At Berkeley: Eine bedrohte Utopie«. Inzwischen hat Redaktionsleiterin Nouygarède eingeräumt, dass sie das Wort aus der Druckfahne gestrichen hat. Selbst vorsichtige Kapitalismuskritik ist nicht erwünscht.
Gerechtfertigt werden die Umstrukturierungen mit dem Rückgang der Auflage der Printzeitung: Wie alle Presseorgane verlor Le Monde im Jahr 2013 Leser, allerdings war deren Zahl im Jahr davor aufgrund der französischen Präsidentschaftswahl auf einem Höchststand. Der Umsatz ging von 361 Millionen Euro (2012) auf 345 Millionen zurück, das ergibt einen Verlust von 2,5 Millionen. Im laufenden Jahr hat die Leserzahl allerdings seit März wieder zugenommen, während andere Zeitungen im selben Zeitraum durchschnittlich zwischen acht und zehn Prozent Leser verloren. Hinzu kommt der Druck der größten Privataktionäre, des Trios aus Pierre Bergé, Xavier Niel und Matthieu Pigasse – aufgrund ihrer Nachnamen gemeinhin »PNB« genannt, wie die gleichnamige Pariser Bank. Niel hatte im Dezember unmissverständlich von Nouygarède einen Personalabbau verlangt.
Nun ist ein neues Leitungsteam angetreten. Der für Nichtmitglieder der Redaktion wohl prominenteste Name ist der von Leparmentier: Er wird nun zu einem der drei stellvertretenden Redaktionsleiter und dürfte der politische Kopf in der neuen Leitung sein. Der extrem ehrgeizige 46jährige war in den späten neunziger Jahren Korrespondent von Le Monde in Berlin. Später leitete er das Brüsseler Büro, und zu Ende des vergangenen Jahrzehnts war er für die Berichterstattung über Nicolas Sarkozys Wirken im Elysée-Palast zuständig – über ihn verfasste er nach seiner Wahlniederlage 2012 ein Buch. Zu Anfang des darauf folgenden Jahres erschien sein Buch »Die Franzosen, Totengräber des Euro«. Darin wirft er der französischen Politik vor, nicht genügend Sparanstrengungen unternommen zu haben und sich ­damit zu begnügen, zu finanzpolitischen Forderungen der Deutschen in der EU »immer nein zu sagen«. Sein Aufgabenfeld bei Le Monde war bis vor kurzem »Frankreich und Europa in der Globalisierung«. Damit ist sein inhaltliches Profil grob umrissen.
Als Deutschlandkorrespondent von Le Monde hatte Leparmentier 1998/99 versucht, seinen Lesern den Sozialabbau in Deutschland als Vorbild für Frankreich zu empfehlen. Das Muster war immer das gleiche: Reformen seien notwendig und sollten notfalls auch gegen die Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt werden. Die Qualität und Vernunft eines Politikers bemesse sich an seinem Vermögen, dies zu tun. Der vormalige Bundeskanzler Helmut Kohl habe es unter Beweis gestellt, als er 1983 die Stationierung von US-Atomraketen – Pershing-2 und Cruise Missiles – gegen massive innenpolitische Widerstände durchsetzen konnte. Aber würde Gerhard Schröder, der neue Kanzler, ebenfalls diese Qualität beweisen, fragte Leparmentier im Herbst 1998 bange. Im darauffolgenden Jahr gab er sich die Antwort: Ja, Schröder besitze diese Qualität. Als Beweis dafür führte Leparmentier die unter Schröder eingeleiteten wirtschaftsliberalen Reformen der »Agenda 2010« an. Ansonsten pflegte Leparmentier bislang einen schablonenhaften und neoliberalen Dogmen gehorchenden Journalismus. Bei der Wahl des Direktors scheiterte er im März 2013 in Konkurrenz mit Nathalie Nougayrède, weil er von vielen Kollegen als »zu polarisierend« und »zu wirtschaftsliberal« wahrgenommen wurde.
Zum neuen Direktor von Le Monde wurde Gilles Van Kote berufen. Jérôme Fenoglio übernimmt die Position des Chefredakteurs. Beide Journalisten arbeiteten für die Sportseiten und später für die Wissenschaftsrubrik der Zeitung. Ihre Kompetenz steht außer Frage, allerdings traten sie bislang nach außen und zu politischen Themen bei weitem nicht so profiliert in Erscheinung wie Leparmentier.
Als »Qualitätsjournalisten« gelten auch Luc Bronner, bislang zuständig für Innenpolitik und besonders für die Banlieues, und Cécile Prieur, Redakteurin für Gesellschaftspolitik. Beide werden nun neben dem Aufsteiger Leparmentier zu stellvertretenden Redaktionsleitern. Prieur gilt als progressiv. Unter den neuen Ressortleitern sticht Christophe Ayad hervor, er ist ein ausgewiesener Kenner der arabischsprachigen Länder, war früher einmal für Libération tätig und ist neuer Chef der Außenpolitik. Thomas Wieder wurde die Ressortleitung der Innenpolitik übertragen, er verfügt über so­lide Kenntnisse, ist aber ohne klares politisches Profil.
Ob es den Redakteuren gelingt, journalistische Qualität zu wahren, wird man in den nächsten Monaten beobachten können.