Kapitalismus, Ungleichheit und Plurale Ökonomik

Nicht so harmlos wie es scheint

Die 2008 einsetzende Krise hat zu einer enormen Verunsicherung des ökonomischen Bewusstseins geführt. Davon zeugt nicht nur Pikettys Buch, sondern auch ein neuer »Internationaler studentischer Aufruf für eine Plurale Ökonomik«.

Indem er dem Antimarxisten Thomas Piketty nachgewiesen hat, sozialdemokratischen Umverteilungsidealen anzuhängen, hat Axel Berger diesem in der vorigen Ausgabe bescheinigt, harmloser zu sein als sein Ruf. Mit dem Rückgriff auf bekannte Kritikmuster umgeht Berger eine Diskussion der Verunsicherung, die das ökonomische Bewusstsein in der Krise erfasst hat, und eine Analyse der Rolle, die Hypes wie der um Piketty in dieser Konstellation spielen.
Denn ist die gegenwärtige Situation tatsächlich wesentlich dadurch geprägt, dass »die Reichen« in den vergangenen Jahren immer reicher geworden sind? Ist diese These vor Piketty so unbekannt gewesen, dass nun alle enorm neugierig sind, die Begründung hierfür zu erfahren? Selbstverständlich nicht. Es geht um etwas anderes: Das Krisengeschehen der vergangenen Jahre hat klargestellt, dass die Wahrheit von Pikettys These an eine Bedingung geknüpft ist, die sich nicht mehr so leicht einstellt wie früher. Seit 2008 hat die gesamte Öffentlichkeit in mehreren Schüben erkannt, dass die Gewinne aus Kapitaleinsatz hoch sind, während die Bedingungen, unter denen Geldbesitz seinen Wert behält, prekär sind. Nicht ersteres, sondern letzteres ist derzeit das Problem, das die Öffentlichkeit beschäftigt. Der Reichtum der Gesellschaften, in denen die kapi­talistische Produktionsweise herrscht, ist ein Prozess, und der Wert, der im Verlauf dieses Prozess produziert und angeeignet wird, ist selbst dann, wenn er in einem so handgreiflichen Gegenstand wie einer Immobilie verkörpert ist, an die Fortsetzung dieses Prozesses in der Zukunft gekettet. Er hängt beispielsweise davon ab, ob genügend Leute in der Lage sind, Immobilien zu mieten oder Fabriken zu errichten. Eine Krise wie die derzeitige stellt die Bewegung des Werts in Frage und auf die daraus resultierenden Probleme sucht die bürgerliche Öffentlichkeit seit einiger Zeit eine Antwort. Offensichtlich ist, dass die gängigen ökonomischen Theorien eine solche nicht bieten können.
Das Bedürfnis, ökonomische Theorie mit dem Hauch des revolutionär Neuen zu versehen, hat nach David Graeber nun mit Piketty einen zweiten internationalen Bestellerautor produziert, dem ein progressives Motiv nachgesagt wird. Aber genauso wenig, wie der Graeber-Hype ein nennenswertes Interesse an dessen Anarchismus wachgerufen hat, dürfte der Erfolg von Piketty einem wachsenden Drang zu sozialdemokratischer Umverteilungspolitik geschuldet sein. Was auch immer Pikettys Motiv ist und wie auch immer seine Theorie, über die hiermit keine Aus­sage getätigt sein soll, zu beurteilen ist – für die Zahl an Vorbestellungen zählt das Gerücht über das erwartete Produkt und das Gerücht verspricht Beruhigung. Nicht unwesentlich für den Erfolg der beiden Bücher dürfte sein, dass in beiden die Kernthese an einem langen historischen Zeitraum entwickelt wird. »Schulden: Die ersten 5 000 Jahre« lautet Graebers Titel und Pikettys Material umfasst 200 Jahre. Und so sehr bei Piketty das sozialdemokratische Motiv der Umverteilung auch beinhalten könnte, dass es »so« nicht weitergehen kann, so könnte die Analyse von 200 Jahren ungleicher Verteilung auch das Gegenteil suggerieren. Wenn das 200 Jahre lang geklappt hat, warum dann nicht noch länger? Verunsicherte Menschen klammern sich an jeden Strohhalm, und der Psychoanalyse ist die Verkehrung ins Gegenteil als Abwehrmechanismus bestens vertraut.

Für eine solche massenpsychologische Interpretation der Hypes sprechen diverse andere Phänomene, von denen eines der »Internationale studentische Aufruf für eine Plurale Ökonomik« ist. Für das Gerücht, es handele sich hierbei um eine progressive Initiative, genügt offenbar bereits, dass Studierende das Wort ergriffen haben – als liege ein neues ’68 in der Luft. Auch Piketty hat unterschrieben. Dem Gerücht zum Trotz quillt aber aus jeder Zeile des Aufrufs ein Bedürfnis nach Autorität. Sich selbst beschreiben die Aufrufenden so: »Mit Vorlesungen zu Themen, welche nicht im Lehrplan vorgesehen sind, können wir wöchentlich Hörsäle füllen. Wir haben Lesekreise, Workshops und Konferenzen organisiert, haben die gegenwärtigen Lehrpläne analysiert und alternative Programme entwickelt.« Schön für sie. Anstatt aber damit herauszurücken, was sie herausgefunden haben, damit beurteilt werden kann, in welche Richtung sie vom Lehrplan abweichen wollen, fordern sie an erster Stelle die »vermehrte Einstellung von Lehrenden und Forschenden, die theoretische und methodische Vielfalt in die Studiengänge der Ökonomik tragen«. Vermutlich wollen die Aufrufenden den nachfolgenden Studis die Seelenqualen ersparen, die sie selbst hatten, als sie sich fragten, ob die Aneignung von nicht prüfungsrelevantem Wissen nicht unerhört aufmüpfig ist. Die Übernahme ­einer Professur ist dafür sicher kein zu hoher Preis.
Kritisiert wird die Beschränkung auf die Arbeit mit statistischen Modellen. Anstatt sich aber zu fragen, warum die sachliche Autorität des Zahlenmaterials und das bemängelte Bild des homo oeconomicus jahrzehntelang zur Verwaltung der kapitalistischen Herrschaft ausreichte, nun aber obsolet zu werden scheint, soll aus dem homo der papa oeconomicus gemacht werden, der alle Kinder gleich lieb hat. Diese Verlagerung entspricht der derzeitigen Tendenz, den Blick von den Marktprozessen, in denen der homo oeconomicus als vereinzelter Einzelner handelt, explizit auf den Staat zu richten, der mit allgemeinerem Wissen handeln muss. Ihr entspricht auch die Auswahl der Strömungen, die zur sogenannten Pluralen Ökonomik zugelassen werden sollen. Genannt werden »die klassische, die post-keynesianische, die institutionelle, die ökologische, die feministische, die marxistische und die österreichische Tradition«.

Diese Liste hat es in sich. Nicht nur, dass die Berufung auf »Traditionen« klar macht, dass der Spaß ganz so neu dann doch nicht sein soll. Die Aufzählung ist auch eine Lüge darüber, wie konformistisch die Volkswirtschaftslehre (VWL) war, bevor sie in »Ökonomik« umbenannt wurde. Auch plurale Lesekreise sollten ermitteln können, dass es in der Entwicklung der VWL nie eine ökologische, eine feministische oder eine marxistische Tradition gegeben hat. In eine Beleidigung überführt wird die Lüge mit der Eingemeindung des Marxismus. Denn nicht nur sind sämtliche bedeutsamen Stränge der VWL explizit in Abgrenzung zur marxistischen Kritik der politischen Ökonomie entstanden. Ebenso haben sich die avancierten marxistischen Strömungen immer radikal und völlig zu Recht von der VWL abgegrenzt. Die Abgrenzung entsprach der Absicht, nicht die Lehre zu verbessern, sondern die Bedingungen abzuschaffen, unter denen die von der VWL gelehrten Theorien und Begriffe zumindest par­tiellen Wahrheitsgehalt beanspruchen können.
Der Rest der Liste zeigt, dass es den Aufrufenden darum nicht geht. Die Institutionenökonomik ist ein zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung notwendiger Zweig der VWL, die die Kolleginnen und Kollegen immer mal wieder daran erinnert, dass die Zahlen, mit denen sie in ihren Modellen hantieren, nicht quantifizierbare, aber Kosten verursachende Voraussetzungen haben. Diese Voraussetzungen liegen in den Institutionen und gemeint sein können damit das Eigentum, das Recht, die Zentralbanken und ihre Währungspolitik, aber auch die repressive Organisation der Arbeit. Untersucht wird etwa, ob Regelungen der Gewinnmaximierung oder der »Wachstumsförderung« dienen. Hier soll schlicht Fachkräftemangel beseitigt werden, denn ein paar Spezialisten für »Wachstumsförderung« dürften in den neuen Anti-Krisen-Institutionen wie der Bankenunion schon gesucht werden. Hierfür nicht mit staatlichem Segen ausgebildet worden zu sein, ist selbstverständlich ein trauriges Schicksal. Da wird auch gleich verständlicher, was es bedeutet, wenn »Pluralismus« dem Aufruf zufolge »den Anspruch (hat), die Ökonomie wieder in den Dienst der Gesellschaft zu stellen«.
Verräterisch ist auch die Berufung auf die »österreichische Tradition«. Die österreichische Schule ist ein zentraler Strang in der Vorgeschichte des Neoliberalismus, mit der seit den zwanziger Jahren die »klassische Tradition« des 19. mit dem autoritären Staat des 20. Jahrhunderts in Übereinstimmung gebracht wurde. Ludwig von Mises, einer der Gründerväter dieser Tradition, wusste 1927 in seinem Buch »Liberalismus« zum italienischen Faschismus zum Besten zu geben, es könne »nicht geleugnet werden«, dass dieser »und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und dass ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet« habe.
Für länger als den Augenblick wollte Mises dieses Urteil nicht gelten lassen. Aber spätestens hier wird deutlich, dass das allgemeine Bedürfnis nach radikal neuer ökonomischer Theorie nicht so harmlos ist, wie es scheint. Im besten Fall üben sich Leute, die es so nicht meinen, in Ignoranz gegenüber der Dynamik, die der Kapitalismus in der Krise entfesselt.