Wie peinlich

Ob und wie wir Gefühle empfinden, ist immer auch abhängig von der Kultur und der Zeit, in der wir leben. Auf derlei Basiswissen der Soziologie und Ethnologie bezieht sich auch der ehemalige Feuilletonchef der Zeit, Ulrich Greiner, in seinem lesenswerten Sachbuch »Schamverlust«. Der Autor verfolgt keine wissenschaftliche Absicht, es geht ihm darum, »das Geheimnis der Scham«, wie er schreibt, »erzählerisch zu erhellen«. Daher ist es nicht weiter erstaunlich, dass ihm insbesondere »die Literatur als Archiv der Schamgeschichte« dient. Ob biblischer Sündenfall oder Fjodor Dostojewskis traumatische Schamerlebnisse: Scham ist zweifellos eine der stärksten Antriebskräfte der Literatur. Im Moment der Scham begegnet der Mensch sich in höchst unangenehmer Weise selbst. Moralphilosophisch zugespitzt heißt es: »Wer sich überhaupt nicht zu schämen vermag, ist kein Mensch in vollem Sinn – erst die Fähigkeit zur Scham macht ihn zum moralischen Subjekt.« Peinlichkeit wiederum sei das weit schwächere, der existentiellen Tragik enthobene Gefühl und im Gegensatz zu der ans Gewissen gebundenen Scham lediglich eine Umgangsweise mit öffentlichen Verstößen. »Wir leben in einer Zeit des Schamverlustes und der Peinlichkeitsfurcht«, meint Greiner.
Die Anlässe für Schamesröte schwinden zusehends. Aber ist das so schlimm? Dass wir in einer schamlosen Zeit leben, behauptet Greiner aber nicht. Erstens stimmt es sowieso nicht, zweitens ist der Autor tatsächlich kein Zeigefinger schwingender Kulturpessimist.

Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Rowohlt, 2014, 349 Seiten, 22,95 Euro