Die Moral des Schwimmens

Ein bisschen Spaß muss sein

Gesellschaftspolitisch wird dem Menschen eine Art Recht aufs Schwimmen zugesprochen. Doch was unterscheidet das Schwimmen von anderen Sportarten?
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In Deutschland sind im vergangenen Jahr 446 Menschen ertrunken. Das sind 0,0055 Prozent der Bevölkerung. Vor zehn Jahren waren es 470, davor auch mal 600 oder 700 pro Jahr. Das Wasser ist dabei oft nur der Ereignisort, nicht aber die Ursache für den Tod. »Ursächlich sind zumeist chronische Organschädigungen, die auch außerhalb des Wassers akut dekompensieren (zum Kreislaufkollaps führen) und zum plötzlichen Tod führen können«, erläutert das Institut für Rechtsmedizin an der Universität Düsseldorf in einem Aufsatz mit dem Titel »Der Tod im Wasser«. Man kann also nicht behaupten, dass Ertrinken zu den größten Risiken in Deutschland zählt.
Auch wenn die Statistik das Gegenteil zu belegen scheint, sagte Ute Vogt, die Vizepräsidentin der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG), der Osnabrücker Zeitung, schwimmen zu können, gehöre zu den »Grundkompetenzen, wenn man sicher durchs Leben kommen will«. Daher ist die DLRG beunruhigt und klagt, nur noch 50 Prozent aller Kinder erreichten bis zum Abschluss der Grundschule das Deutsche Jugendschwimmabzeichen in Bronze. Vor 25 Jahren seien es noch mehr als 90 Prozent gewesen. Die mehr oder weniger stagnierende oder sogar abnehmende Zahl der Badetoten kann nicht der Grund der Beunruhigung sein, zumal 50 Prozent der Ertrunkenen Senioren sind. Warum also wird so viel Wert darauf gelegt, dass Menschen schwimmen lernen? Hat man ähnliches schon mal von anderen Sportarten gehört? Hat man schon mal Klagen vom Tennisverband vernommen, dass immer weniger Kinder den Schläger richtig halten können? Oder vom DFB, dass kaum noch ein Zehnjähriger das Tor aus 15 Metern Entfernung trifft? Vermutlich ist das ja auch gar nicht so, aber allein die Tatsache, dass das Schwimmenkönnen praktisch als Menschenrecht und Menschenpflicht gleichermaßen angesehen wird, die Beherrschung anderer Sportarten jedoch nicht, ist bemerkenswert.
Warum gibt es Proteste gegen die hohen Schwimmbadpreise, aber nicht gegen die viel höheren Mitgliedsbeiträge für die gesundheitlich ebenfalls durchaus sinnvollen Fitnessstudios? Warum ist die Schwimmförderung Staatsaufgabe, nicht aber die Förderung von Geräteturnen, Karate, Skifahren oder Unterwasserrugby? Als ob die Beherrschung anderer Sportarten, zum Beispiel Selbstverteidigungssportarten, nicht ebenso sinnvoll sein könnte. 26 Prozent aller Unfälle bei Sport und Spiel ereignen sich beim Fußball, 20 Prozent bei Ski und Snowboard, nur fünf Prozent beim Wassersport. Die meisten Unfälle mit Todesfolge passieren im Haushalt und im Straßenverkehr (wobei dort zur Selbst- auch noch die Fremdgefährdung hinzukommt), aber das Fahrrad- und Autofahren muss man sich privat beibringen, der Führerschein kostet viel Geld – das »Seepferdchen« hingegen gibt es umsonst.
Das alles ist wohl nur damit erklärbar, dass Schwimmen aus kultureller Gewohnheit als maßgebliche staatsoffizielle Volksgesundheitsmaßnahme angesehen wird. Oder, das wäre die positive Deutung, damit, dass der Freizeitwert des Badengehens – nicht des Schwimmens wohlgemerkt – tatsächlich anerkannt wird. Denn dass der Aufenthalt am Strand oder im Bad eine auch für nicht weit reisende, ärmere oder aus anderen Gründen unflexible Menschen eine hervorragende Erholungsmöglichkeit und ein großer Spaß ist, kann man kaum leugnen. Tatsächlich argumentiert auch die DLRG so ähnlich und interpretiert das Nichtschwimmenkönnen vor allem als Indiz für soziale Missstände: Je ärmer die Eltern seien, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder nicht schwimmen könnten, kritisiert der Verband. Ein Badeausflug sei für Familien mit geringen Einkommen kaum noch bezahlbar. Für eine Familie könne der Eintritt in ein Spaßbad bis zu 80 Euro kosten. Das Baden sei zu einem »Freizeitvergnügen geworden, das nur noch bestimmte Wohlstandsschichten erreiche«, sagte Vogt. Als Freizeitvergnügen ist Schwimmen tatsächlich einzigartig und besonders förderungswürdig, als Sport ist es jedoch nur eine von vielen Sportarten.