Das bevorstehende Unabhängigkeitsreferendum in Schottland

Highlander mögen keine Schuljungen

Die Debatte um die Unabhängigkeit Schottlands wird zum Klassenkampf zwischen dem arbeitenden Norden und dem elitären Süden Großbritanniens stilisiert.

Es ist bald so weit. Am 18. September entscheiden die Schottinnen und Schotten in einem Referendum über die Unabhängigkeit ihrer Nation vom Vereinigten Königreich. Sollte die Mehrheit für die Unabhängikeit stimmen, würde der seit mehr als 300 Jahren währende Verbund zwischen dem schottischen und dem englischen Königreich aufgelöst. Im Jahr 1707 hatten sich beide zum Vereinigten Königreich Großbritanniens zusammengeschlossen. Zum heutigen Vereinigten Königreich gehören auch Wales und Nordirland.
Der britische Premierminister David Cameron hatte dem schottischen Parlament 2012 die Befugnis erteilt, ein Referendumsgesetz zu verabschieden. Dies sollte auch dazu dienen, der seit langem und in jüngster Zeit wieder intensiver geführten Diskussion innerhalb Schottlands über eine Unabhängigkeit ein Ende zu bereiten. Die Entscheidung für ein Referendum basierte auf der Annahme, dass sich die Schotten »richtig« entscheiden würden, also für den Verbleib in der Union mit England.
Bereits seit 1853 plädieren Konservative in Schott­land für eine home rule, für eine weitreichende politische Autonomie innerhalb des Vereinigten Königreichs. Stimmen für eine Abspaltung wurden in den sechziger Jahren laut, was sowohl auf das Ende des britischen Empire als auch auf Ölfunde in Schottland zurückzuführen ist. Nach einem fehlgeschlagenen Referendum zur Einrichtung eines schottischen Parlaments im Jahr 1979 wurde ein solches schließlich nach einem Referendum im Jahr 1998 eingerichtet, es verfügt für bestimmte innerschottische Angelegenheiten über gesetzgebende Gewalt. Entscheidungen des schottischen Parlaments haben zum Beispiel dafür gesorgt, dass sich die Gebühren für das Studium und die Altenpflege und andere Regelungen für öffentliche Dienstleistungen zwischen Schottland und England unterscheiden.
Die britische Regierung ging damals davon aus, dass sich mit diesem Zugeständnis die Debatte um schottische Unabhängigkeit erledigt habe und zukünftig nur noch um Details der Befugnisse des schottischen Parlaments gestritten werde, doch der Wahlsieg der separatistischen, linksliberalen Scottish National Party (SNP) bei den schottischen Parlamentswahlen 2011 erwies dies als Irrtum. Die SNP setzte das nun anstehende Referendum durch und ist auch Hauptträger der Kampagne für die Unabhängigkeit.
Die Oppositionsparteien im schottischen Parlament – Labour, die Konservativen und die Liberaldemokraten –, die für einen Ausbau der Befugnisse des schottischen Parlaments, nicht aber für eine Trennung der beiden Königreiche plädieren, gründeten daraufhin die parteiübergreifende Kampagne »Better Together« (Besser zusammen). Angeführt wird diese vom ehemaligen Finanzminister Alistair Darling, einem Mitglied der Labour-Partei. Die sogenannte Nein-Kampagne betont die Nachteile, die Schottland entstehen würden, sollte es sich aus der Union mit England lösen. Unterstützt wird die Kampagne von nahezu allen namhaften aktiven und ehemaligen Politikern in Westminster, dem Sitz des britischen Parlaments. So nannte der ehemalige Premierminister Gordon Brown in einer Rede im April fünf Gründe für Schottland, in der Union zu bleiben: das staatliche Gesundheitssystem, die Rentenzahlungen, die Arbeitsplätze, die durch den Handel in Großbritannien entstehen, niedrige Zinssätze und »kulturelle Verbindungen« mit dem Rest des Landes.

Kritiker monieren allerdings, dass die Argumente der »Nein-Kampagne« eher Drohungen gleichkommen und das Bild eines verarmten, kranken und isolierten Schottland zeichnen. Andere verfolgen daher die Strategie, auf die als positiv angesehenen Verbindungen zwischen dem schottischen und englischen Königreich hinzuweisen. In einem Artikel im Telegraph bezeichnete beispielsweise Iain Duncan Smith, konservativer Minister für Arbeit und Renten, die Union als »Familie und Freundschaft freier Menschen«. Mit diesem Argument begann auch die Ansprache Darlings während einer Fernsehdebatte mit Alex Salmond, dem Anführer der »Ja-Kampagne«. Salmond ist Mitglied der SNP und derzeit First Minister in Schottland, was dem Amt eines Ministerpräsidenten entspricht. Die mit Spannung erwartete Fernsehdebatte machte deutlich, dass das Ergebnis des Referendums knapp werden könnte. Einer Umfrage der Zeitung Scotland on Sunday zufolge würden 52 Prozent der Schottinnen und Schotten gegen die Unabhängigkeit stimmen und 48 Prozent dafür.
Recht spät erkannte auch Cameron, dass der Vorsprung der Nein-Stimmen knapp ausfallen könnte. Als Vorsitzender der konservativen Partei unterschrieb er deshalb zusammen mit den Vorsitzenden der anderen Parteien Großbritanniens kurz vor der Ausstrahlung der Debatte im Fern­sehen ein Dokument, in welchem bei einem Verbleib Schottlands in der Union dem schottischen Parlament mehr Befugnisse zugesagt werden. Den Kern der Sache trifft dies allerdings nicht, denn der »Ja-Kampagne« geht es um mehr als nur einige zusätzliche Kompetenzen in Fragen, die Schottland und seine Bürger betreffen.
Der Zwiespalt zwischen Schottland und England wird auch zur Klassenfrage stilisiert. Es wird ein idealisiertes Bild eines Schottlands der Arbeiterklasse gezeichnet, das von den Aristokraten des Südens beherrscht werde. Die »Ja-Kampagne« behauptet, dass die »Nein-Kampagne« von »Schuljungen« der konservativen Partei geführt werde. Die Bezeichnung »Schuljungen« bezieht sich auf die Ausbildung vieler Politiker in Eliteschulen und Universitäten wie Eton und Oxford und soll zeigen, wie weit entfernt diese Politiker vom Rest der Bevölkerung seien. Salmond und die »Ja-Kampagne« geben sich entsprechend bürgernah und versprechen mehr soziale Gerechtigkeit. Salmond sagte während der Fernsehdebatte, dass die »Ja-Kampagne« für ein faireres und gerechtes Schottland stehe.
Die Vorwürfe Salmonds und seiner Mitstreiter sind nicht unberechtigt, denn die politische Führung rekrutiert sich hauptsächlich aus Absolventen von Eliteschulen und -universitäten, die meist aus Kreisen der englischen Oberschicht stammen. Propagiert wird von der »Ja-Kampagne« aber nicht die Auflösung von Hierarchien, eine grundsätzlich andere Sozial- und Wirtschaftspolitik oder auch nur die Abschaffung der Monarchie. Das Staatsoberhaupt soll lediglich ersetzt werden und nicht aus der englischen Königsfamilie in London, sondern aus der schottischen Königsfamilie in Edinburgh stammen.

Zudem bleibt unklar, was Unabhängigkeit überhaupt bedeuten soll. Ihre Befürworter wollen das britische Pfund behalten und in der Europäischen Union bleiben. Konkrete Fragen der Sozialpolitik wie die Gesundheitsversorgung schottischer Bürger und die Auszahlung von Renten aus englischen Kassen, in die jahrelang eingezahlt wurde, sind aber noch ungeklärt. Gerade diese Fragen sind für viele Schottinnen und Schotten von Interesse, wie an den Zuschauerkommentaren zur Fernsehdebatte deutlich wurde.
Der Ruf nach Unabhängigkeit appelliert daher eher an Emotionen und Nationalismus, hinter ihm steht keine durchdachte Politik zur Verbesserung der Lebensverhältnisse. Doch eben deshalb könnte das Referendum erfolgreich sein. Nicht zuletzt die Europawahl und der Erfolg der rechten United Kingdom Independence Party haben bewiesen, dass Unabhängigkeitsbestrebungen und die Befreiung von vermeintlichen Fremdherrschern in allen Ländern Großbritanniens populär sind.