Rechtsbeugung durch Rechte im Fall Daniel S.?

Rache bei Milde

Der Tod von Daniel S. hat bundesweit für Aufsehen gesorgt. Wegen des Migrationshintergrunds des Verdächtigen missbrauchten Neonazis den Fall für ihre Propaganda. Monate nach der Verurteilung des Täters haben dessen Verteidiger erfahren, dass der Richter von Neonazis bedroht wurde.

Jürgen Meyer und Martin Stucke sind aufgebracht. Im hellen Anwaltsbüro in einem Bremer Hinterhaus beugen sie sich über ihre Akten. Die beiden Strafverteidiger haben auf 361 Seiten eine Revision verfasst. Was vor ihnen liegt, ist für sie kein üblicher Fall und kein übliches Strafverfahren: Ihr Mandant, der mittlerweile 21jährige Cihan A., wurde im Februar 2014 zu fast sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt. In Kirchweyhe nahe Bremen soll er den 25jährigen Daniel S. im März 2013 nach einem Diskobesuch zu Tode getreten haben. Das sah das Landgericht Verden als erwiesen an. Neonazis und andere Rassisten hatten den tödlichen Angriff auf Daniel S. in Kirchweyhe von Anfang an zu einem Fall von »Deutschenfeindlichkeit« verklärt und waren mehrfach in dem kleinen Ort aufmarschiert. Bislang, so schien es, war das alles nicht mehr als Getöse. Nun äußern Meyer und Stucke einen schwerwiegenden Verdacht: Das Urteil könnte durch Neonazis manipuliert worden sein. Der Richter, Joachim Grebe, war persönlich bedroht worden, ohne dass die Verteidiger darüber informiert wurden. »Das ganze Verfahren ist dadurch in Verruf geraten«, so Stucke.

Bereits wenige Tage nach dem Tod von Daniel S. waren die ersten Aufrufe zu Lynchjustiz und Forderungen nach Todesstrafe aufgetaucht. Von »Ausländergewalt« gegen Daniel S. – »nur weil er Deutscher war« – schrieben Neonazis bundesweit, von der »Identitären Bewegung« bis zur NPD. Akif Pirincci fabulierte auf dem Internetblog »Achse des Guten« von einem »schleichenden Genozid an einer bestimmten Gruppe von jungen Männern« und nannte den SPD-Bürgermeister des Ortes, Frank Lemmermann, ein »moralisch verkommenes Subjekt« – weil er nach der rechten Vereinnahmung der Trauer eine Sondersitzung des »Runden Tisches gegen rechts und für Integration« einberufen hatte. Christian Worch kam mit seiner Partei »Die Rechte« zwei Mal nach Kirchweyhe. Zuletzt war ein neonazistisches Grüppchen im März 2014, am Jahrestag des Todes von Daniel S., in dem Ort aufgetaucht. Jedes Mal protestierten Antifaschisten, Anwohner und auch der Bürgermeister. Dass Lemmermann deswegen bedroht und beschimpft wurde, war bekannt. Er hatte sich dagegen konsequent gewehrt. Jeder einzelnen Zuschrift ist er nachgegangen, gab über 100 Anzeigen auf. »Richter Grebe ist genauso beschimpft worden wie ich«, sagt Lemmermann nun. Es habe sich um »Beschimpfungen und Bedrohungen« gehandelt, »dass der Vorsitzende Richter den Tag der Urteilsverkündung nicht erleben werde«, bestätigt eine Sprecherin des Land­gerichts Verden. Der Landgerichtspräsident sah sich veranlasst, die Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken. Das Namensschild am Richterzimmer wurde entfernt, die Türklinke von außen durch einen Knauf ersetzt und durchgehende Einlasskontrollen angeordnet, »die auch dem Schutz des Angeklagten dienen sollten«, so die Gerichtssprecherin. Warum das geschah, und dass es dafür einen konkreten Anlass gab, erfuhren die Verteidiger erst nach dem Urteil und nur durch einen Hinweis. Sie baten daraufhin den Landgerichtspräsidenten Rüdiger Lengtat um eine Stellungnahme. Der schrieb ihnen: »Von mir angeordnete Maßnahmen haben nichts mit ihrer Verteidigung zu tun.« Dass die Verteidiger das anders sehen, sei »nicht nachvollziehbar«, lässt Lengtat nun erklären.

»Wenn wir das frühzeitig gewusst hätten, hätten wir unser Prozessverhalten darauf eingestellt«, sagt Meyer. Er und Stucke begannen, selbst zu recherchieren: Im Internet seien ein Foto und die private Anschrift des Richters aufgetaucht, samt einer Wegbeschreibung, »mit der Aufforderung: Bei einem Freispruch oder Bewährung sollte man sich am Richter rächen«, sagt Stucke. Für diese gezielte Aussage haben sie keinen Beleg, der Hinweis aber stamme »aus sicherer Quelle«, sagt Meyer. Vieles sei mittlerweile gelöscht worden, manches aber ließ sich sichern. Unter anderem war auf dem rechtspopulistischen Blog »Politically Incorrect« gemutmaßt worden, Cihan A. könnte freigesprochen werden. Dort, in sozialen Netzwerken und den Kommentarspalten weiterer rechter Blogs tobte anschließend der Mob. »Dem Richter sollte so was auch mal passieren«, schrieb einer. »Es gilt, dieses Urteil nicht stumm zur Kenntnis zu nehmen, sondern Druck auf den Richter auszuüben«, ein anderer. Die Telefonnummern und Adressen des Landgerichts und der Staatsanwaltschaft in Verden wurden veröffentlicht. Manche Kommentatoren wurden noch deutlicher: »Diesen Richter sollte man eiskalt richten«, oder: »Das Urteil ist sowieso nicht rechtsgültig, da der Richter es nicht unterschreiben wird.« Meyer und Stucke sind erfahrene Strafverteidiger. Die Aufregung, das sieht man ihnen an, übersteigt die sonst übliche Vehemenz in der Verteidigung der Mandanten. Er habe manchen Fall erlebt, sei sogar mal dabei gewesen, als ein Neonazi vor Gericht mit einer Waffe auftauchte. »Aber das hier ist ein dickes Ding«, sagt Stucke. Grebe hätte damit offen umgehen sollen, hätte die Prozessbeteiligten irgendwie informieren müssen. »Transparenz hätte Vertrauen geschaffen«, meint Meyer. »Das Urteil ist kontaminiert durch den Verdacht, dass es durch diese Bedrohungen manipuliert ist«, sagt Stucke. Für ihn ist das auch ein politischer Skandal. »In Zeiten des NSU-Prozesses darf nicht der Verdacht im Raum stehen, dass Rechtsradikale sich ein solches Urteil erzwingen.«

Zugenommen hatten die Sicherheitsmaßnahmen nach einem Zwischenfazit des Gerichts Ende Februar. Darin hatte Richter Grebe festgestellt, dass ein Verfahren wegen Mordes oder Totschlags nicht zu halten sei – der Vorsatz ließ sich nicht feststellen. Die Staatsanwaltschaft hatte daraufhin ihren Mordvorwurf zurückgezogen. Der Prozess ging weiter, immer wieder tauchten Ungereimtheiten auf: Zeugen widersprachen sich, hatten große Erinnerungslücken. Die Staatsanwältin Annette Marquardt hatte schon während des Prozesses den Verdacht ausgesprochen, auf die Zeugen sei Einfluss genommen worden – vermutet hatte sie eine Beeinflussung zugunsten des Angeklagten. Mehrfach hatte sie mit Konsequenzen gedroht. Nach Angaben eines Sprechers der Staatsanwaltschaft sind mittlerweile tatsächlich acht Verfahren wegen Falschaussagen eingeleitet worden, eines wurde eingestellt, in einem weiteren ist das Urteil bereits rechtskräftig. Ein Hinweis auf eine Bedrohung allerdings habe bislang nicht nachgewiesen werden können. Wegen der Drohungen gegen den Richter sah die Staatsanwaltschaft keinen Anfangsverdacht und leitete daher kein Verfahren ein. In seinem Urteil war das Gericht im Februar, nach einem Indizienprozess, eher der Staatsanwältin gefolgt. Die hatte sechs Jahre gefordert, heraus kamen fünf Jahre und neun Monate Jugendstrafe wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Prozessbeobachter hatte das hohe Strafmaß überrascht. Meyer und Stucke hatten Freispruch gefordert. Die Revision hatten sie früh angekündigt. Dass nun auch die Drohungen neben weiteren angeführten Verfahrensfehlern einen großen Teil der Begründung ausmachen, ist juristisch außergewöhnlich. Das Revisionsverfahren ist begrenzt, geprüft wird nur, ob das, was es aus der Hauptverhandlung ins Protokoll und die Urteilsbegründung geschafft hat, juristisch stichhaltig ist – und nicht das, was in der Verhandlung unerwähnt blieb. Nachträgliche Befangenheitsanträge gibt es nicht. Nun muss der Bundesgerichtshof entscheiden – auch, ob die Drohungen gegen den Richter für das Verfahren relevant waren.