Das Grauen

Es ist schon ein Grauen. Da lernt man im Wiener Untergrund unglaublich aufregende, vollkommen urwüchsige junge Künstler kennen, den Kopf voll krauser Ideen und origineller Neurosen – und was ist ihr größter Wunsch? Nach Berlin wollen sie, der Tapeten und ihres Wechsels wegen. Dann ziehen sie hin und plötzlich ist es ein bisschen wurscht, was sie machen: Sie sind halt Berliner Künstler unter vielen.
Natürlich soll niemand gezwungen werden, in Verhältnissen zu leben, die ihn nerven, und natürlich ist die Vorstellung, Wien sei ein der Kunst zuträgliches Milieu, Projektion, aber ist nicht alle Kunst Projektion? In Wien ist halt alles ein bisschen echter. Der Dreck ist dreckiger, der Kaffee kaffeeiger, das Falschgold falscher und der Faschismus faschistischer. Alles hat ein bisschen mehr Bedeutung, wenn es in Wien geschieht; alles ist ein bisschen gröber und schärfer zugleich. Dagegen Berlin-Neukölln, wo man jetzt schon in speziellen Gammel-Fabriken künstlichen Gammel verkauft, damit man ihn dekorativ in die topsanierte Altbauwohnung setzen und sich so richtig kiezig fühlen kann. In Berlin ist immer schon alles abgefuckt, noch während es entsteht. Die Leute verwalten ihr Burn-out, lassen sich von nichts überraschen, haben alles schon gesehen. Ein zombiehaftes Dämmern bestimmt das Lebensgefühl, an nichts wird viel Mühe verwendet, weil sich nichts richtig lohnt. Nicht einmal eine schöne Dekadenz bekommt man hin, insgesamt geht es allen stets okeh.
In Wien scheint dagegen in den Leuten immer ein seltsames Fieber zu brennen oder wenigstens Amphetamine. Und die Dekadenz hat lange Tradition: Hier verglühte man schon im Absinth, während in Berlin noch die Pickelhauben einherstapften. Liebe Wiener, bleibt da, macht weiter! Berlin macht euch blass.