Von al-Qaida zu IS. Der globale Jihad 13 Jahre nach Nine Eleven

Die Yolo-Jihadisten

Von 9/11 zur Ausrufung des »Kalifats«, von al-Qaida zum »Islamischen Staat«: Aus einer ehemaligen al-Qaida-Filiale ist das erfolgreichste Jihadisten-Projekt im Nahen Osten geworden.

Ayman al-Zawahiri, das Oberhaupt von al-Qaida, der sich vermutlich im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet versteckt hält, hätte gar keine poetischere und treffendere Formulierung finden können als seinen Aufruf, sich der »Karawane des Jihad« anzuschließen. Genau das ist al-Qaida nämlich. Ein auf langsames, aber beharrliches Vorwärtskommen eingestellter Zug durch unwirtliche Gegenden, über denen Drohnen schwirren. Unterwegs müht man sich unentwegt, die diversen jihadistischen Splittergruppen, die am Wegesrand stehen, davon zu überzeugen, mitzukommen auf den langen Marsch ans große Ziel. Auch bei al-Qaida träumt man zwar vom Kalifat, aber das soll erst nach dem Showdown kommen. Vorher gilt es, mit möglichst spektakulären Terroranschlägen – 9/11 war der größte, es folgten die in Madrid, London, Djerba und so weiter – für den Jihad zu werben und die eigene Marktführerschaft beim islamistischen Terror zu verteidigen. Und die ist angezählt.
Wenn al-Qaida nunmehr die Karawane des Jihad auf den indischen Subkontinent lenkt – al-Zawahiri gab in seiner Videobotschaft die Gründung einer indischen al-Qaida-Filiale bekannt –, dann spiegelt sich darin auch der Bedeutungsverlust, den das Netzwerk der islamistischen Terrorzellen im Nahen Osten erleben musste. Die Konkurrenz vom »Islamischen Staat« (IS) rast, um im Bild zu bleiben, weit vor der Jihad-Karawane auf Pick-ups durch die Wüste und schießt dabei aus allen Rohren. So überrennen die Jihadisten des IS nicht nur Dörfer, Großstädte und feindliche Stellungen, ihre Form der dynamischen Kriegsführung ist ebenso sinnbildlich. Während al-Qaida in Zeiträumen denkt, die noch viel länger sind, als der Bart von al-Zawahiri zum Wachsen gebraucht hat, genießt der Jihadist aus dem Kalifat sein Leben hier und jetzt – nach dem Motto »you only live once«, abgekürzt »yolo«.
Das ist für junge Jihad-Aspiranten attraktiver als die im Gegensatz zur Dynamik des »Islamischen Staats« fast schon altväterlich und besonnen wirkende Truppe der Erben von Ussama bin Laden. Ayman al-Zawahiri nörgelte so in seiner Botschaft auch am IS herum; weder der Drang zur Staatsgründung noch der Umgang mit der muslimischen Bevölkerung in den eroberten Gebieten, geschweige denn das Verhalten des IS gegenüber anderen Jihadisten finden seine Billigung. Das ist nicht weiter überraschend, schließlich haben die Jihadisten des »Kalifats« auch schon Führungspersonal des offiziellen syrischen al-Qaida-Ablegers, der al-Nusra-Front, umgebracht, wenn es im Weg stand. Wieder einmal ist eine Avantgarde überholt worden und ihr früherer Zögling ist jünger, skrupelloser und erfolgreicher.
Der IS hat eines schon geschafft: Aus der ehemaligen irakischen al-Qaida-Filiale ist quasi über Nacht das verstörendste und erfolgreichste Projekt im Nahen Osten geworden. Der Weg dahin verlief über mehrere Stationen: Da war zunächst die Etablierung von »al-Qaida im Irak« unter Führung des 2006 im Kampf gegen die US-Amerikaner getöteten al-Zarqawi, gefolgt von der Ausrufung des »Islamischen Staats im Irak« und der Niederlage der Jihadisten im irakischen Bürgerkrieg. Ihre Rettung und Wiederauferstehung brachte der Umweg über den zwischenzeitlich ausgebrochenen Krieg in Syrien. Von ihrer Machtbasis im Osten Syriens und von einem de facto-Stillhalteabkommen mit dem Regime von Bashar al-Assad profitierend, konnten sich die Jihadisten spätestens Anfang dieses Jahres erneut in Teilen der irakischen Anbar-Provinz festsetzen. Gleichzeitig kam der endgültige Bruch mit al-Qaida, als die Organisation, die da noch den Namen des »Islamischen Staats in Irak und Syrien« trug, sich den Anweisungen Ayman al-Zawahiris offen widersetzte, sich aus Syrien zurückzuziehen und den dortigen Kampf der al-Nusra-Front zu überlassen. Was darauf folgte – der überraschende Sturmlauf durch den Norden des Irak ab Juni und die Ausrufung des »Kalifats« –, ist bereits Geschichte.

Und danach klingen auch die vielen nachholenden Versuche, zu erklären, was das Besondere am »IS« ausmacht. Da wird auf Carl Schmitt rekurriert oder gleich Hegel rausgeholt. Die nächstliegende Antwort wird bisher ignoriert: Was angeblich alles so neu sein soll am »Islamischen Staat«, ist im Grunde die Fortsetzung der Methoden der Ba’ath-Diktatur unter Saddam Hussein und ihre Amalgamierung mit der Jihad-Bewegung. Hier hat ein Stück alter Naher Osten sich unheilvoll und umso dynamischer mit der Sehnsucht nach der Apokalypse islamistischer Spielart verbunden. Auch al-Qaida und verwandte Gruppen haben allerdings vor laufenden Kameras bereits Köpfe abgeschnitten – erinnert sei hier nur an den Journalisten Daniel Pearl, der 2002 in Pakistan ermordet wurde –, genauso wie andere sunnitische Jihadisten auch immer wieder Schiiten ins Visier genommen haben. Aber für al-Qaida stand ideologisch immer der Kampf gegen den »Westen« im Zentrum, während der Versuch einer islamistischen Staatsgründung durch die Taliban letztlich seinen Kern in der Etablierung einer regionalen paschtunischen Stammesherrschaft besaß.
Das »Kalifat« ist anders. Ba’athistisch und von Saddam Hussein vorexerziert sind der grenzenlose Hass auf die Schiiten und das Vertreiben, Verfolgen und Massakrieren von angeblichen inneren Feinden und Minderheiten. Nicht zuletzt die Methodik, das unverhohlene Ausleben von Gewalt­exzessen mit einer staatlichen Aura zu versehen, ist sehr irakisch, wenn man einen Blick auf die Geschichte dieses Landes seit der Machtergreifung durch die Ba’athisten in den sechziger Jahren wirft. Maßlose Gewalt als Mittel, um Anhängerschaft in Gefolgschaft zu zwingen, Gegner zu terrorisieren und sich selbst in einem Blutrausch als Herrenmenschen über Leben und Tod zu inszenieren, darin waren die irakischen Ba’athisten Meister ihres Fachs, vor allem, wenn es um die Vernichtung möglichst wehrloser Gegner ging. Die Ba’athisten wiederum hatten ihre Vorbilder in den finstersten Abgründen des 20. Jahrhunderts gesucht. Die Tradition ist augenscheinlich, wenn man an die Selektion von Gefangenen nach Glaubenszugehörigkeit denkt, die der IS veranstaltet, und an die frisch ausgehobenen Gräben, vor denen das »Kalifat« seine Opfer exekutiert. In Tikrit, der im Irak verhassten Herkunftsstadt Saddam Husseins, sind so im Juni vermutlich weit über 1 000 irakische Soldaten vom IS auf dem Gelände eines der ehemaligen Paläste des Diktators auch unter Beteiligung von Angehörigen seines Stamms erschossen worden. Das ist eine Botschaft, die jeder Iraker sofort versteht. Und wenn, wie in der ersten Septemberwoche, 50 Männer eines sunnitischen Dorfs bei Hawija von Kalifatskämpfern, die plötzlich aus der Steppe auftauchen, auf nimmer Wiedersehen verschleppt werden, weil dort angeblich eine Kalifatsfahne verbrannt worden sei, erinnert das fatal an ba’ath­istische Vergeltungsaktionen gegen ganze Dörfer, denen das Regime Dissidenz vorwarf.

Nur hier im Zweistromland konnte sich aus der »alten« al-Qaida der »Islamische Staat« entwickeln. Keine Gesellschaft des Nahen Ostens ist so brutalisiert wie die irakische. Was westliche Apologeten immer noch gerne »Stabilität« nennen, die Saddam Hussein damals angeblich garantiert habe – wie Assad heute in Syrien –, fußte auf dieser Gewalt, die jeden, und zwar jederzeit, treffen konnte. Die Brutalität des »Islamischen Staats«, über die nun so viel gerätselt wird und die nicht nur westliche Beobachter schockiert, ist eine konsequente Fortführung ba’athistischer Methoden, nur unter dem Banner des Islam. Die Zurschaustellung Gefolterter war bereits unter Saddam Hussein gang und gäbe, als man Deserteuren die Hand abzuhacken pflegte, oder jenen, die es wagten, den irakischen Präsidenten zu kritisieren, die Zunge herausschnitt. Gewalt und Terror, schrieb Kanan Makiya in seinem Buch »Cruelty and Silence«, seien die konstitutiven Elemente des irakischen Staats gewesen, als fast jede Familie sowohl Opfer zu beklagen hatte wie Mittäter in ihren Reihen wusste. Es war ein offenes Geheimnis, dass Hunderttausende Menschen hingerichtet und in Massengräbern verscharrt wurden. Die offensive internationale Zurschaustellung des Mordens und ihre Ästhetisierung – das ist letztlich die Neuerung des »Kalifats«.
Die Schwierigkeit für Nichtiraker, dieses über Jahrzehnte eingeübte Gewaltpotential zu verstehen, illustriert eine Bemerkung von Amer al-Khuzaie, dem irakischen Regierungsberater für die nationale Versöhnung, im Interview mit der New York Times. Al-Khuzaie erzählt, er habe vergangenes Jahr Südafrika besucht, um von den dortigen Versöhnungskommissionen zu lernen. Als er im Gefängnis auf Robben Island – dem Ort, wo Nelson Mandela jahrzehntelang inhaftiert wurde – gefragt habe, wie viele Gefangene dort in dieser Zeit hingerichtet worden seien, lautete die Antwort zum Erstaunen des Irakers 125 Tote. »Wir hätten 1 000 am Tag gehabt«, so sein trockenes Fazit.
Bereits al-Zarkawi, der Führer der Vorgängerorganisation des IS im Irak, erschreckte mit seiner exzessiven Brutalität die älteren al-Qaida-Anführer in den afghanischen Bergen, die seine Massaker an schiitischen Zivilisten im Irak offen kritisierten. Was damals nur vermutet wurde, ist inzwischen Gewissheit: Unzählige arbeitslos gewordene Geheimdienstmitarbeiter des gestürzten Regimes schlossen sich ebenso wie Offiziere der aufgelösten Armee den Jihadisten an. Der Ba’athismus Saddam Husseins – und das trifft ebenso auf das syrische Ba’ath-Regime zu – wird bis heute gerne als säkular, nationalistisch und überhaupt »modern« verklärt. Dabei stützen sich irakischer Panarabismus und Jihadismus vor allem auf die sunnitisch-arabische Minderheit im Irak, die mit harter Hand den Rest des Landes beherrscht hat und sich nun mit dem Verlust ihrer Macht nicht abzufinden vermag. Der »Islamische Staat« wächst auf diesem Boden, aber er muss auch zusehen, dass er seine Gefolgschaft, ob freiwillig oder unfreiwillig, zusammenhält.
So seltsam es klingt, die Luftangriffe der Amerikaner, die den Vormarsch nun gebremst zu haben scheinen, werden dem IS vermutlich dabei helfen, vielleicht sind sie sogar einkalkuliert gewesen. Vor arabischen Armeen brauchen sich die Jihadisten nicht zu fürchten, das hat der Zusammenbruch des irakischen Militärs gezeigt ebenso wie die Erstürmung des letzten Stützpunktes der syrischen Regimetruppen bei Raqqa und deren anschließende Massakrierung.
Die irakischen Kurden, die unter Saddam Husseins Regime wohl am meisten gelitten haben und nach ihrer schmählichen Niederlage gegen den IS Anfang August zurzeit die Hauptlast im Kampf gegen die Jihadisten tragen, sind ausgerechnet diejenigen, die sich am ehesten vom irakischen Gewalterbe verabschiedet haben. Der »Islamische Staat« dagegen braucht die Eskalation, damit die Bewegung ihre Dynamik nicht verliert. Ayman al-Zawahiri und seine Karawane des Jihad werden da nicht mithalten können.