DDR-Flüchtlinge auf Hiddensee: Der Roman »Kruso« von Lutz Seiler

Endstation Ferienheim

Lutz Seiler erzählt in seinem Roman »Kruso« von einer verschworenen Gemeinschaft auf Hiddensee, die sich um DDR-Flüchtlinge kümmert.

Nicht alle Wasserleichen sind so schön anzuschauen wie bei dem Präraffaeliten John Everett Millais, der Ophelia als bleiche Schönheit im düsterem Schilf malte. Anders als Hamlets unglückliche Geliebte sind die meisten Toten, die an fremden Küsten angespült werden, Vergessene ohne Namen. Ed Bendler, der junge Held in Lutz Seilers dunkel funkelndem Roman »Kruso«, hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Spuren der anonymen Toten nachzugehen, die in der Zeit zwischen dem Mauerbau und der Wende auf der Flucht gen Westen in der Ostsee ertrunken sind. Doch viel kann er nicht in den Katakomben dänischer Archive und auf Friedhöfen in Erfahrung bringen. Das Schicksal der Wasserleichen ist kaum zu rekonstruieren, zumal die Flüchtlinge aus Sorge um ihre Angehörigen selten Abschiedsbriefe hinterlassen haben. Auch sind die Ertrunkenen keineswegs schöne Leichen mit üppigem Präraffaelitenhaar. Es sind von Aalen Zerfressene, von Kugeln Durchlöcherte, Aufgeschwemmte ohne Zähne. Manchmal ist von ihren Körpern nicht mehr übrig als ein Stumpen in einem fauligen Schuh.
Hiddensee, das wie ein Seepferdchen geformte Eiland am nördlichen Rande Ostdeutschlands, ist das magische Zentrum dieses ersten Romans des Lyrikers Lutz Seiler. Zunächst führt der ehemalige Maurer Ed ein unscheinbares Leben als Germanistikstudent in Halle. Doch als seine Freundin so plötzlich von einer Straßenbahn erfasst wird, als hätten Michail Bulgakow und Uwe Johnson gemeinsam einen Albtraum inszeniert, beschließt er, sich aus seinem bisherigen Alltag zu verabschieden. Kurz spielt er mit dem Gedanken, sich in den Hof zu stürzen, dann aber bricht er mit 150 Mark in der Tasche nach Hiddensee auf, zur »Insel der Seligen, der Träumer und Traumtänzer, der Gescheiterten und Ausgestoßenen«. Zwar setzen die Kartographen der DDR alles daran, die Geographie verzerrt darzustellen. Dennoch weiß jeder, dass es von Hiddensee zur dänischen Insel Møn nur 50 Kilometer sind. Dass dieser verträumte Ort voller Kreidefelsen und Sanddornbüsche aufgrund seiner geographischen Lage ein Magnet für Republikflüchtlinge ist, liegt auf der Hand.
Doch gerade wegen der Nähe zum Westen ist die Zahl der Grenzsoldaten auf der Insel beträchtlich. Ständig lungern vor der Küste Patrouillenboote, ständig wandert nachts der suchende Scheinwerfer des Leuchtturms über die Landschaft. Ed muss so rasch wie möglich eine Unterkunft auftreiben und eine unauffällige Arbeit als Saisonkraft annehmen. Er findet das Gesuchte in der kleinen Gaststätte »Zum Klausner«, die zu einem Betriebsferienheim gehört. Hier gelten ganz eigene Gesetze. Allmählich zeigt sich, dass im Klausner, wo einst Berühmtheiten wie Billy Wilder, Thomas Mann und Lotte Lenya abgestiegen sind, ein doppeltes Spiel gespielt wird. Tagsüber werden die Gäste der Insel von flinken Kellnern mit Schnitzeln verköstigt. Nachts aber schlägt die Stunde der Menschen, die aus der DDR fliehen wollen. Das zwölfköpfige Team des Gasthofs hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Verzweifelten Unterschlupf zu gewähren und sie von ihrem lebensgefährlichen Vorhaben abzubringen. In diesem Sinn versteht sich der Bund der Eingeweihten als eine »Art Untergrund zur Anhäufung innerer Freiheit (…) ohne Flucht, ohne Ertrinken«. Ziel ist es, jeden Schiffbrüchigen des Landes in drei Nächten zu den »Wurzeln der Freiheit« zu führen.
Alle Fäden dieser subversiven Gegengesellschaft laufen bei Kruso zusammen. Er, der Tellerwäscher, ist ein vor Kraft strotzender Mann mit indianischen Gesichtszügen, Sohn eines russischen Generals und einer wolgadeutschen Zirkusartistin und Namensvetter des Helden in Daniel Defoes berühmter Robinsonade. Seiler hat erklärt, dass diese Figur auch Züge des früh verstorbenen Sängers der Band Feeling B trägt. Der Musiker Aljoscha Rompe hatte es gewagt, als privilegierter Spross einer Funktionärsfamilie Punkkonzerte am Strand von Hiddensee zu geben.
In Ed erkennt Kruso einen Gleichgesinnten. So wie er, der heimliche König der Insel, nach seiner vor Jahren am Ostseestrand verschollenen Schwester Sonja sucht, hat der junge Mann aus Halle den Verlust seiner Freundin noch nicht überwunden. Eine rätselhafte Freundschaft beginnt, umrauscht von inzestuösen Trakl-Gedichten, homoerotischen Annäherungen und dem Klappern der Teller in der Küche. Dieser enge Männerbund soll dafür bürgen, dass Krusos hochherziges Rettungsprojekt unzerstörbar ist.
Doch unzerstörbar ist diese Arche nicht. Es ist der Sommer 1989 und das auf den Feindsender eingestellte Radio berichtet pausenlos von DDR-Bürgern, die in Ungarn ihre Ausreise in den Westen erzwingen. Als die DDR zusammenbricht, beginnt auch das Klausner zu erodieren. Mehr und mehr Mitarbeiter lassen das Gasthaus samt seiner Rettungsmission im Stich. Was geschieht mit den Rändern des Landes, wenn das Zentrum implodiert? Mit dem Untergang der DDR wird auch der Zusammenhalt der klandestinen Gemeinschaft porös, die Hiddensee jenseits des ideologisch verbiesterten Festlandes zu einer Enklave freier Menschen machen wollte. Seiler, der versierte Lyriker, findet grandiose Bilder für das Wegbrechen der alten Ordnung, die auch die verpönten Subkulturen mit in den Abgrund reißt. Brillant ist etwa das an Joseph Beuys gemahnende Bild der Honigbibliothek, die in ihrer klebrigen Melancholie davon kündet, dass auch der intellektuelle Kellner namens Rimbaud seinen Platz im Klausner verlassen hat. Über die Bücher, die er zurückgelassen hat, läuft Honig: Nie mehr wird der Abtrünnige dem Klausner-Team daraus vorlesen können. Am Ende verkleben Schrift und Honig zu einer ­sämigen Masse, aus der wie auf einem schwermütigen barocken Stillleben Ameisen, Asseln und Kakerlaken strömen.
Kruso wird klar, dass er auf seiner Arche bleiben muss, obwohl das Schiff zu sinken droht. Längst kommen die Unglücklichen der DDR nicht mehr zu ihm, sondern »machen rüber«. Doch der kapitalismuskritische Abwäscher meint, die eigentliche Mission des Ostens – von den kasachischen Jurten bis ins Eichsfeld – ­bestehe darin, dem Westen einen Weg in die Freiheit zu weisen. Manches an seinem Entwurf könnte heute Putin gefallen, auch trägt Krusos Handeln bisweilen diktatorische Züge. Gleichzeitig aber hat das Rettungsschiff Klausner etwas Anrührendes und Heroisches. Nicht umsonst sieht sich Ed als Don Quijote der DDR: »Eine einsame, komische Figur, aber auch treu und tapfer vielleicht.« In gewisser Weise hat Seiler mit seiner Hiddensee-Robinsonade das östliche Gegenstück zu Jonathan Franzens US-amerikanischem Roman »Freiheit« geschrieben. Seine Freiheit nutzt Ed, um an der Ostsee nach den Wasserleichen eines unter­gegangenen Landes zu suchen. Mögen die anderen doch indes ihre Waschmaschinen west­licher Fabrikation kaufen.

Lutz Seiler: Kruso. Suhrkamp, Berlin 2014, 481 Seiten, 22,95 Euro