Eine Kampagne für die Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt

Morde zweiter Klasse

Fast die Hälfte der Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 in Sachsen-Anhalt wird von offizieller Seite nicht als solche anerkannt. Eine Kampagne versucht, dem entgegenzuwirken.

Es ist in der Öffentlichkeit nicht viel bekannt über Eberhart Tennstedt. Kaum jemand kann sich noch an ihn erinnern. Tennstedt hatte keine Wohnung und galt im sozialdarwinistischen Weltbild seiner Mörder als »Penner«. Am 5. Mai 1994 griffen drei junge Männer ihn und seinen Bekannten B. in Quedlinburg an und zerrten die beiden in die Bode, einen an dieser Stelle knietiefen Fluss. B. konnte entkommen. Daraufhin schoss einer der Täter mit einer Schreckschusspistole über Tenn­stedts Kopf hinweg. Offenbar fiel der 43jährige Wohnungslose in eine Art Schockstarre und war nicht mehr in der Lage, sich aus dem kalten Wasser zu befreien. Die Täter ließen ihn sterben. Am nächsten Morgen wurde Tennstedts Leiche geborgen und sein Tod durch Ertrinken festgestellt.

Tennstedt und sein Bekannter B. hatten sich in den Tagen zuvor am »Kiosk am Schiffsbleek« aufgehalten, sehr zum Missfallen des Besitzers Steffen R., der der Ansicht war, dass ihre Anwesenheit sein Geschäft schädige. R. beauftragte einige junge Männer, die Wohnungslosen zu vertreiben. Mit einigen Flaschen Bier wollte er sich erkenntlich zeigen. Die Täter seien in der Manier von Herrenmenschen aufgetreten, hätten Tennstedt und B. befohlen, sich »zu verpissen«, da es sich ihrer Ansicht nach bei den beiden um »Menschen zweiter Klasse« gehandelt habe, wie das Landgericht Magdeburg später feststellte. Bereits bei ihrer Vernehmung durch die Polizei hatten sie als Tatmotiv zu Protokoll gegeben, dass die beiden Wohnungslosen »nicht ins Stadtbild passten«.
Nicht nur die Tatsache, dass die Quedlinburger Antifa die Täter damals dem Umfeld der extrem rechten Szene zuordnete, lässt vermuten, dass es sich beim Mord an Eberhart Tennstedt um eine rechte Gewalttat handelt. Ein noch viel deutlicheres Indiz ist die sozialdarwinistische Gesinnung der Täter, die sich im Hass auf sogenannte Asoziale zeigte.
Trotz dieser Umstände stuft die Landesregierung von Sachsen-Anhalt die Tat nicht als rechtsextremes Tötungsdelikt ein. Noch 2012 hatte Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) – unabhängig von der Überprüfung von Altfällen durch eine Bund-Länder Kommission beim BKA (Jungle World 31/2014) – eine nachträgliche Prüfung der Tötungsdelikte angeordnet. Während die Broschüre »Zertreten, Erschlagen, Erstochen« der Landtagsfraktion der Grünen und die Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt beim Verein Miteinander e. V. zurzeit 13 Todesopfer rechter Gewalt in dem Bundesland seit 1990 anführen, kam das Innenministerium nach der Revision nur auf sieben. Sebastian Striegel, innenpolitischer Sprecher der Grünen, kritisiert diese Diskrepanz. Es sei unerträglich, dass »Staat und Gesellschaft den Toten bis heute Gerechtigkeit verweigern«. Außerdem werde »damit auch ein ehrlicher Blick auf die tödliche Dimension rechter Gewalt verstellt«.

Um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, begann die Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt im Frühjahr 2013 die Kampagne »Wir erinnern an Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt«. Sie verfolgt das Ziel, ein würdiges Gedenken in der Öffentlichkeit zu etablieren, und will insbesondere darauf aufmerksam machen, dass bestimmte Motive wie etwa Hass auf Behinderte oder Wohnungslose kaum als Teil eines rechtsextremen Weltbilds wahrgenommen werden. Möglichst in Absprache mit Hinterbliebenen und in Kooperation mit engagierten Menschen vor Ort, etwa antifaschistischen Gruppen oder Bürgerbündnissen gegen rechts, hält die Mobile Opferberatung Veranstaltungen ab. Eine Homepage führt die verschiedenen Aspekte zusammen und informiert über Hintergründe. Auch pädagogisches Begleitmaterial soll entstehen.
Das öffentliche Gedenken an Eberhart Tennstedt in Quedlinburg ist ebenfalls Ziel der Kampagne. Etwa 20 Menschen folgten Ende September der gemeinsamen Einladung der Opferberatung und des Dachvereins Reichenstraße e. V. zu einer Podiumsdiskussion mit dem Titel »Leben in der Wohnungslosigkeit«. In der Stadt am Rande des Harzes war die rechte Gewalt insbesondere gegen linke Jugendliche zu Beginn der neunziger Jahre allgegenwärtig. Trotzdem, so erzählte eine Besucherin, habe sie den Mord an Tennstedt damals zunächst gar nicht als rechtsextreme Tat einordnen können. Zwar gab es eine öffentliche Gedenkminute, in Zeitungen war jedoch lediglich von einem »Gewaltopfer« die Rede.
Eine Gedenktafel, die Antifaschisten einige Monate später in der Innenstadt aufgestellt hatten, entfernten Unbekannte nach nur wenigen Tagen. Während über die tagelangen Angriffe auf das örtliche Flüchtlingsheim, die sich kurz nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen ereignet hatten, jahrelang in der Stadt gestritten wurde, verblasste die Erinnerung an Tennstedt. Im Anschluss an die Podiumsdiskussion gab es im Publikum einen ersten Austausch zur Frage, wie mit der Erinnerung umgegangen werden könne. Erstmals nach 20 Jahren wird nun wieder öffentlich über den Mord an Eberhart Tennstedt gesprochen.
Auch Helmut Sackers erkennt die Landesregierung nicht als Opfer einer rechtsmotivierten Gewalttat an. Sackers wurde am 29. April 2000 im nur wenige Kilometer entfernten Halberstadt von seinem Nachbarn, dem Naziskinhead Andreas S., erstochen. Zuvor hatte sich der 60jährige Sozialdemokrat über die Nazimusik beschwert, die der 29jährige S. so laut abspielte, dass sie im ganzen Haus zu hören war. Trotz etlicher eklatanter Widersprüche in den Zeugenaussagen von S. und seiner Lebensgefährtin entschied das Gericht auf Freispruch aufgrund eines sogenannten Notwehr- exzesses. Dass der Vorsitzende Richter das Opfer noch für sein Eingreifen lobte, machte das Urteil nicht weniger skandalös.
Die behördliche Logik verhindert zudem, dass die Tat offiziell als rechtsextremes Tötungsdelikt anerkannt wird, schließlich gab es keine Verurteilung. Nicht nur hier zeigen sich Widersprüche im staatlichen Umgang mit Todesopfern rechts­ex­tremer Gewalt. So wies die damalige Lebensgefährtin von Helmut Sackers darauf hin, dass von Politikern zwar gern zu »Zivilcourage« aufgerufen werde, dass die Anerkennung im konkreten Fall jedoch ausbleibe.
Umso wichtiger ist es, dass es zum 14. Todestag des Halberstädters erstmalig ein öffentliches Gedenken gab. Die antifaschistische Initiative »Würdiges Gedenken an Helmut Sackers« und das soziokulturelle Zentrum Zora e. V. luden zu einer Veranstaltung. Hanno M., Mitglied der Initiative, hält die Zahl von 60 Anwesenden zwar für einen Erfolg. »Um für Helmut Sackers ein würdiges Gedenken zu schaffen und eine gesellschaftliche Debatte über die Ursachen und Konsequenzen rechter Gewalt anzustoßen«, sei jedoch noch viel zu tun.

www.rechte-gewalt-sachsen-anhalt.de