Internationale Solidarität sollte es auch ohne Bedrohung durch den Islamischen Staat geben

Internationale Solidarität 2.0

Die Kurdistan-Solidarität ist zurück. Dass es dafür erst die Bedrohung durch den Islamischen Staat (IS) brauchte, zeigt eine Schwachstelle der radikalen Linken in Deutschland auf.

Derzeit könnte man manchmal meinen, man befinde sich in den achtziger Jahren. Plakate der Antifa fordern »Waffen für die YPG«, daneben ist eine GuerillaKämpferin mit Maschinengewehr und »Palituch« in der Wüste abgebildet. Es ist faszinierend, mit welcher Geschwindigkeit die verloren geglaubte internationale Solidarität in der deutschen radikalen Linken wieder Einzug gefunden hat. Als ob es nie anders gewesen wäre, demonstriert die kurdische Linke zusammen mit der deutschen und fordert das Ende des PKK-Verbots. Auf der antinationalen Demonstration gegen die Einheitsfeierlichkeiten am 3. Oktober in Hannover gab es einen großen kurdischen Block; die Kritik am deutschen Nationalismus wurde mit dem Kampf gegen den Terror des IS und für die kurdische Selbstverwaltung in Rojava verbunden.
Ohne Frage: Vielen geht es derzeit in erster Linie gegen den IS als gemeinsamen Feind und erst an zweiter Stelle darum, für die PKK, YPG oder ähnliche Bewegungen vor Ort einzustehen. Schließlich hatte der nie beendete Krieg niederer Intensität des türkischen Militärs gegen die kurdische Selbstverwaltung seit Jahren zu keiner ernstzunehmenden Mobilisierung hierzulande geführt, ebensowenig wie die Festnahmen Tausender kurdischer Linker seit 2009. Aber die kaum zu beschreibende Brutalität des IS hat die Solidaritätsbewegung wieder zum Leben erweckt. Nicht zuletzt, weil es dort Kräfte gibt, mit denen man sich politisch solidarisieren kann.
Die Neuentdeckung der internationalen Solidarität hat eine nähere Betrachtung verdient. Noch bis Anfang der neunziger Jahre war der klassische Antiimperialismus hierzulande die vorherrschende linke Doktrin. Befreiungsbewegungen, die angeblich im Namen ganzer unterdrückter Völker sprachen, konnten auf die bedingungslose Unterstützung derjenigen bauen, die im »Herzen der Bestie« festsaßen – unabhängig davon, wie reaktionär sie waren. Von Palästina in die kurdischen Berge, über Nordirland an die baskische Küste. Die linke Sicht auf die Welt war einfach: Es gab nur Gut gegen Böse. Zu Beginn der neunziger Jahre aber wurde die Welt komplizierter. Die Kolonialzeit war vorbei, die Block-Konfrontation ging zu Ende und der real existierende Sozialismus hatte sich bereits durch seine eigene Gestalt diskreditiert. Kritik wurde laut, linke Gruppen in Deutschland spalteten sich, nicht zuletzt aufgrund unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten bezüglich internationaler Solidarität und der lange vorherrschenden Ignoranz gegenüber Nationalismus und Antisemitismus in den eigenen Reihen. Die einen ignorierten größtenteils diese Kritik und hielten am bewährten Weltbild fest, die anderen wollten fortan von militanten Bewegungen in anderen Teilen der Welt gar nichts mehr wissen.

Währenddessen hat innerhalb der kurdischen Befreiungsbewegung ein erstaunlicher Prozess stattgefunden. Noch Ende der neunziger Jahre wurde die PKK in dem Buch »Postfordistische Guerilla« von der Herausgeberinnengruppe »Demontage« der Kategorie »völkischer Nationalismus« zugeordnet. Zu Recht, liest man sich damalige Texte der Organisation und ihres Anführers, Abdullah Öcalan, durch. Von der »patriotischen Pflicht«, das »tausendjährige Heimatland« zu verteidigen, ist dort die Rede. Kosmopolitismus wird als »niederträchtiges Verbrechen« bezeichnet. In einem Interview in der Zeit rechtfertigte Öcalan 1997 gar den deutschen Rassismus gegenüber Kurden, schließlich würde das »entwickelte Deutschland aufgrund der Rückständigkeit unseres Volkes verschmutzt«. Die Argumentation des kurdischen Befreiungskampfes war von Ethnonationalismus geprägt, der mit Antiamerikanismus und Antisemitismus durchsetzt war. Die hiesige Solidaritätsszene knüpfte daran an.
1999 wurde Öcalan in Kenia entführt und in der Türkei inhaftiert, wo er bis heute im Gefängnis sitzt. Dort begann er, sich unter anderem mit den Schriften des nordamerikanischen Anarchisten Murray Bookchin zu beschäftigen. Hieraus entstand 2004 sein Buch »Jenseits von Staat, Macht und Gewalt«, eine Absage an die marxistisch-leninistische Kampfrhetorik und den klassischen Antiimperialismus und zugleich ein Plädoyer gegen die Schaffung eines kurdischen Nationalstaates und für den »Demokratischen Konföderalismus«. In späteren Schriften arbeitete er dieses Konzept weiter aus. Die Idee ist die Schaffung einer Basisdemokratie als fortlaufender Prozess, der auf Rätestrukturen der Selbstorganisation und Selbstverwaltung aufbaut und in dem »alle Arten gesellschaftlicher und politischer Gruppen, Religionsgemeinschaften oder geistiger Strömungen sich direkt in allen regionalen Entscheidungsprozessen ausdrücken können«.
Als Grundpfeiler der neuen Gesellschaft werden Ökologie und Feminismus angegeben, sowie eine alternative Ökonomie, die sich nach den Bedürfnissen der Gesellschaft richten soll. Die Kritik an Sexismus und Patriarchat nehmen großen Platz in der Theorie ein, sie werden als fundamentale Eigenschaften der kapitalistischen Ordnung sowie des Nationalstaates begriffen. Der Demokratische Konföderalismus wird als »antinationalistische Bewegung« bezeichnet, zugleich aber an einem Konzept der demokratischen, also politischen Nation festgehalten. Neben der Abwendung vom Nationalstaat wird auch die revolutionäre Perspektive neu formuliert: »Freiheit und Gerechtigkeit können nur innerhalb eines dynamischen demokratischkonföderalen Prozesses erreicht werden«, schreibt Öcalan. Die militärischen Strukturen dienen der Selbstverteidigung, nicht mehr einem revolutionären Umsturz zur Machtübernahme.
Noch immer ist eine starke ethno-folkloristische Komponente zu erkennen. In »Krieg und Frieden in Kurdistan« (2008) legt Öcalan den Beginn der kurdischen Kultur auf 20 000 v. Chr. und beschreibt das »kurdische Volk« als »eine der ältesten autochthonen Ethnien der Region«, was sich bis zum heutigen Tag seine »Existenz als ethnische Gemeinschaft« bewahrt habe. Auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker wird weiterhin akzeptiert. Aber, und das ist der entscheidende Unterschied, es wird nicht eine vermeintliche ethnische Differenz oder die Existenz als »Volk« zur Legitimation des Kampfes herangezogen, sondern es geht um eine basisdemokratische Umgestaltung der Gesellschaft, von der alle profitieren sollen und die auch als Beispiel für andere Länder gelten soll. Nationalismus und Nationalstaaten werden explizit als Feinde jeglicher freiheitlicher Bestrebungen aufgefasst. Und auch wenn weiterhin von »Völkern« die Rede ist, wird zugleich betont, dass Gesellschaften in sich widersprüchlich und heterogen seien und dass die »demokratische Nation« auf dieser Heterogenität aufbauen müsse. Die Aussagen Öcalans zu Israel sind nicht weniger interessant. Israels Stärke im Mittleren Osten resultiere aus seinen »starken demokratischen und kommunalen Strukturen«, also ähnlich dem, was der Demokratische Konföderalismus schaffen will. Öcalan weiter: »Die Juden gehören zu den Kulturträgern des Mittleren Ostens. Die Verweigerung ihres Existenzrechts ist ein Angriff auf den Mittleren Osten als solchen.« Statt in alter antiimperialistischer Manier im Nahostkonflikt ein unterdrücktes Volk gegen ihre Besatzer kämpfen zu sehen, wird er als Beweis für »das völlige Versagen der kapitalistischen Moderne und des Nationalstaates« angeführt.

Mit ihrer Neuausrichtung verhält sich die PKK gegenläufig zu den meisten nationalen Befreiungsbewegungen, die sich seit dem Ende der Sowjetunion immer stärker ethnisch artikulieren. Statt für die sozialistische Weltrevolution kämpfen diese mittlerweile für das völkisch verstandene »Selbstbestimmungsrecht«. Die PKK, oder zumindest Öcalan, hingegen hat den Zusammenbruch des Realsozialismus und das Scheitern »nationaler Befreiung« zum Anlass genommen, das eigene Politik- und Revolutionsverständnis zu hinterfragen. All dies bedeutet nicht, dass Antisemitismus, Militarismus, autoritäre und patriarchale Strukturen in der kurdischen Bewegung nicht mehr vorhanden sind. Diese müssen ebenso wie der fortbestehende autoritäre Führerkult um Öcalan Gegenstand der Kritik bleiben. Genauso wichtig ist es, anzuerkennen, dass es Kräfte vor Ort gibt, die diese Kritik teilen.

So bietet der Kampf um Rojava auch für die deutsche radikale Linke eine Chance. Nämlich auf der einen Seite zu sehen, dass nicht jede mit »Palituch« eine Antisemitin und nicht jeder Befreiungskampf völkisch ist, sondern dass Verhältnisse und Bewegungen in sich widersprüchlich sind und sich in einem stetigen Prozess befinden. Die andere Seite könnte lernen, dass es keinen Grund gibt, sich auf die Seite aller vermeintlich unterdrückten Völker zu schlagen, ohne sich zu fragen, wer da eigentlich für wen spricht und was deren Befreiung bedeuten würde, hätte sie Erfolg – zu oft nämlich das Gegenteil. Das kurdische Beispiel zeigt, dass Befreiungsbewegungen durchaus die Wahl haben, ob sie für eine freie Gesellschaft kämpfen oder ob sie sich auf ein völkisches Selbstbestimmungsrecht beziehen – und das letzteres nicht durch Unterdrückung entschuldigt werden kann. Diese Diskussion kann aber warten. Und zwar solange, bis Rojava nicht mehr von der religiös-fundamentalistischen Barbarei der IS-Truppen bedroht ist. Bis dahin gibt es Wichtigeres zu tun.