Berlin Beatet Bestes

Sechs Euro, ich Idiot!

Berlin Beatet Bestes. Folge 264. Helmut Qualtinger: Der dialektische Materialismus-Rock (1957).

Bei Ebay gucke ich nur und kaufe nie. Im Internet kaufen ist böse, schrieb ich vollmundig in der letzten Folge. Bis ich vergangene Woche Helmut Qualtingers Rock’n’ Roll-Parodie bei Ebay entdeckte. Der Schauspieler Qualtinger war bis in die achtziger Jahre Österreichs wichtigster Kabarettist. International bekannt wurde er in seiner letzten Rolle als Mönch in der Verfilmung von Umberto Ecos Roman »Der Name der Rose«. Kurz nach den Dreharbeiten starb er im September 1986 an den Folgen seines Alkoholismus. Bei meinem Aufenthalt in Wien hatte ich nach dieser Single gefahndet, aber meine Suche auf Flohmärkten und Second-Hand-Plattenläden hatte nichts ergeben. Beim »Teuchtler«, Wiens größtem und ältestem Plattenladen, fand ich den Titel dann endlich auf der LP »Kabarett aus Wien«. Weil ich beim »Teuchtler« so viele Jazz-Platten kaufte, gab es die LP sogar umsonst dazu. Trotzdem wollte ich noch immer die Single haben. Es ist eben der eine Titel auf der LP, der mich interessiert.
Marx’ und Engels’ dialektischer Materialismus, ein philosophischer Gegenentwurf zu Theologie und Idealismus, diente den Stalinisten in den fünfziger Jahren als bloße Worthülse; der Rock’n’ Roll war in der Sowjetunion natürlich verboten. Gerhard Bronner komponierte und schrieb den Text zu dem Lied »Der dialektische Materialismus-Rock« – eine herrliche Phantasie, wie kommunistischer Rock wohl geklungen hätte. »Weil der Komsomol immer nur dem Fortschritt dienen soll/tanzen alle stolzen jungen Komsomolzen Rock’n’ Roll!/Von Sebastopol bis nach Wladiwostok ist man toll./Jeder alte Sowjet tanzt wie Tschastachowiak, nur mehr Rock’n’ Roll!/Hej Genossen, da muss ich protestieren/Ihr vergesst die Linie der Partei!/Rock’n’ Roll muss man revidieren/Wir bleiben immer linientreu!/Wir tanzen nur den Antiformalismus-Rock/den dialektischen Materialismus-Rock/den Parteitag-Rock/den Karfreitag-Rock/und den Anti-Antistalinismus-Rock/und den Überrock und den Unterrock/und den Paradeuniform-Rock!/Wir tanzen nicht den Imperialismus-Rock/den Gomulka-Revionismus-Rock/den Piroggen-Rock,/ ­Demagogen-Rock,/und den Mao-Tse-Liberalismus-Rock/den Kulaken-Rock/den Kosaken-Rock/und den Jazz-Enthusiasten-Schmock-Rock!/Ulbricht, Pieck und Grotewohl/die tanzen alle Rock’n’ Roll/Der Tschu En Lai/ist auch dabei./Und Molotow/tanzt Rock und Rollotow!«
Diese Single wurde bei Ebay angeboten. Für einen Euro. Zufällig kam am Sonntag mein Freund Franky zu Kaffee und Kuchen vorbei. Weil er gelegentlich bei Ebay mitbietet, fragte ich ihn, ob er nicht für mich bieten könne. Er guckte sich das Angebot an und befand kurzerhand, dass die Portokosten zu hoch seien: fünf Euro. Die Zeit verstrich und niemand bot. Wir auch nicht. Im Internet kaufen ist schließlich böse, ich habe den Song auch schon auf LP, und natürlich brauche ich keine einzige Platte der Welt mehr. Später, als er gegangen war, dachte ich dann: Ich Idiot! Sechs Euro! Sechs Euro würde ich jederzeit für diese Scheibe bezahlen!