Traumleben

Die staatliche Lotterie ist ein kleines Wunder der bürgerlichen Gesellschaft. Den Rausch der Spielhöllen verwandelt sie in eine Institution – eine verschnarchte TV-Sendung, an der man sich mit behördlichen Antragsformularen beteiligen kann. Ginge der Staat mit dem Alkohol um wie mit dem Glücksspiel, er servierte jedem Bürger wöchentlich ein Glas Wein, nachdem er ihm im Fernsehen eins vorgetrunken hätte. Doch mit der bürgerlichen Gesellschaft schwankt auch diese Institution. Nichts weniger als »die Chance auf dein Traumleben« verspricht derzeit der »Eurojackpot«, und hier verlassen die Lotteriegesellschaften den Boden bürgerlicher Rationalität. Denn was in Dreiteufelsnamen ist das, ein Traumleben? Hoffentlich kein Leben wie im Traum, denn wenigstens die Träume, die mich heimsuchen, sind entweder schrecklich oder schrecklich langweilig, und die fliegenden Stachelrochen von letzter Nacht möchte ich selbst dann nicht wiedersehen, wenn sie von der Lottofirma bezahlt würden.
Wahrscheinlicher ist damit das dröge Einerlei von Strandvilla, Bacardi und Raffaelo gemeint, welches 30 Jahre Privatfernsehen als ultimative Glücksvorstellung in den Hirnen verdrahtet haben. Aus dem Schicksal vieler Lottokönige weiß man, wohin sie führt: in Leberzirrhose, Schulden, Einsamkeit. Und das alles für einen Traum, der nie der eigene war! Die richtig guten Träume sind ohnehin nicht erfüllbar, ja ihre Unerfüllbarkeit macht sie gerade aus. Mein Traumleben wäre es zum Beispiel, als General der Goldenen Horde an der Seite von Dschingis Khan über Europa herzufallen, nur diesmal nicht so halbherzig wie seinerzeit. Doch kein Geld auf der Welt kann mir diesen Traum erfüllen, das geben die internationalen Strukturen einfach nicht her. Und ist das nicht selbst wiederum ganz traumhaft schön?