Die anstehenden Parlamentswahlen in der Republik Moldau

Bangen und Hoffen

Bei den Parlamentswahlen am 30. November in der Republik Moldau geht es vor ­allem um die Frage, ob sich das Land der EU oder Russland annähern soll. Beides wäre mit einem hohen Preis verbunden.

Auf dem Zentralmarkt der moldauischen Hauptstadt Chisinau herrscht hektischer Betrieb. Die Milchprodukte verkaufen sich gut, versichern die gutmütigen Verkäuferinnen mal auf Russisch, mal auf Rumänisch. Es gibt Gouda-Käse aus Holland, Schokobutter aus Russland, ukrainischen Schmelzkäse und natürlich Milch und Schmand von den Bauern aus den Nachbardörfern. Auch Fleisch geht häufig über die einfache Theke. Roh, massiv, ohne jegliche Verpackung und ganz frisch. »Draußen ist es ja kälter als im Kühlschrank«, sagen die Metzgerinnen. Und die Kundschaft ist vor allem zufrieden, weil sie nicht in den wenigen und viel teureren Supermärkten einkaufen muss.
Doch das Gefühl, dass alles plötzlich kippen könnte, hängt in der Luft. »In der Ukraine ist Krieg. Wer hätte das vor einem Jahr gedacht?« fragt Feodor Mogaldea. Auf seinem kleinen Grundstück in Straseni, 30 Kilometer von Chisinau entfernt, baut der 66jährige Rentner Wein an, um ihn zu umgerechnet 50 Cent pro Liter auf dem Markt zu verkaufen. Über 40 Jahre hat er als LKW-Fahrer gearbeitet, jetzt bekommt er eine Rente von knapp 40 Euro im Monat. »Ohne Wein würde ich verhungern«, gesteht der Mann mit einem bitteren Lächeln. Er ist noch nie außerhalb der Republik Moldau gereist, nicht einmal ins Nachbarland Rumänien, wo ein Teil seiner Familie lebt. Bis vor kurzem hätte er dafür, wie alle Moldauerinnen und Moldauer, ein Visum gebraucht. Seit April reicht ein biometrischer Pass. Kostenpunkt: 40 Euro. »Wer weiß, vielleicht schaffe ich es, eine Rente komplett zu sparen«, sagt Mogaldea. »Meine Cousine würde sich über den Besuch freuen. Dafür muss aber der Weinverkauf richtig gut laufen.«
Derzeit läuft es noch nicht so gut. Und jeder auf dem Markt weiß vor allem auch, dass die Tage des guten alten Lebensmittelhandels gezählt sind. Das EU-Parlament hat vorige Woche das Asso­ziierungsabkommen mit der Republik Moldau ratifiziert und damit den Weg für eine Aufnahme der Beitrittsverhandlungen geöffnet. Viele Menschen sind froh über die Annäherung an den Westen, doch andere befürchten, dass die Öffnung des Marktes für europäische Produkte ihre ohnehin prekären Arbeitsplätze gefährden und zu einer erheblichen Verteuerung führen könnte. Der Angst vor einer russischen Einmischung wie in der Ukraine steht im ärmsten Land Europas die Angst vor dem hohen sozialen Preis der von der EU verlangten Reformen entgegen.

Die proeuropäische, wirtschaftsliberale Regierung von Ministerpräsident Iurie Leanca freut sich vor allem über den Zeitpunkt der Ratifizierung, denn dadurch steigt die Chance für einen erneuten Sieg der »demokratischen« Kräfte bei den Parlamentswahlen am 30. November. Umfragen zufolge wird zwar die Partei der Kommunisten (PCRM) die meisten Stimmen bekommen, doch für die Bildung einer prorussischen Regierung um den ehemaligen Staatspräsidenten Vladimir Voronin dürfte es auch diesmal nicht reichen. Vielmehr zeichnet sich eine knappe Mehrheit für die breite Koalition ab, die seit 2009 an der Macht ist und die trotz zahlreicher Korruptionsskandale vom Großteil der Bevölkerung als Garantie für den prowestlichen Kurs angesehen wird.
Der Bund, der sich »Allianz für die Europäische Integration« nennt, besteht aus vier Parteien und deckt ein politisches Spektrum ab, das von Christdemokraten über Wirtschaftsliberale bis hin zu Sozialdemokraten reicht. »Jeden Tag versuchen wir, den Wählern zu erklären, dass die EU der einzig gangbare Weg für uns ist und ganz konkrete Entwicklungsmöglichkeiten bedeutet«, sagt Parlamentspräsident Igor Corman von der Demokratischen Partei (PDM). »Der Konflikt in der Ukraine bleibt natürlich im höchsten Maße besorgniserregend, aber er stellt gleichzeitig eine unerwartete Chance dar. Plötzlich bekommen wir in den europäischen Hauptstädten viel mehr Aufmerksamkeit, plötzlich kommen aus Brüssel nicht nur gute Wünsche, sondern auch Gelder«, resümiert der Sozialdemokrat, der jahrelang Botschafter in Berlin war.
In der Tat fühlten sich viele Moldauerinnen und Moldauer bis vor kurzem mit ihrer Armut im Stich gelassen. Sie halfen sich, wie sie nur konnten. Weil der Durchschnittslohn bei lediglich 150 Euro im Monat liegt, arbeitet bereits rund ein Drittel der knapp vier Millionen Bürgerinnen und Bürger – legal oder illegal – im Ausland. Die Überweisungen der Ausgewanderten machen die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts aus. Als beliebteste Ziele gelten Italien, Rumänien und Russland, wobei letzteres langsam an Attraktivität verliert, seitdem bekannt wurde, dass die russischen Behörden immer mehr Moldauerinnen und Moldauern die Einreise verweigern und die Kontrollen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit intensivieren. Die russische Regierung kritisiert öffentlich Moldaus Assoziierungsabkommen mit der EU und setzt bei den Wahlen am 30. November auf die prorussischen Oppositionsparteien, die einen Beitritt in Russlands Zollunion befürworten.

Als weiteres Druckmittel belegte die russische Regierung vor einigen Monaten Obst und Wein aus der Republik Moldau mit einem Embargo, das das landwirtschaftlich geprägte Land hart trifft. Proeuropäische Unternehmer versuchen sich der neuen Lage anzupassen und betrachten sie oft als Chance, die Qualität ihrer Produkte zu steigern, damit diese zumindest mittelfristig die EU-Standards erfüllen. Doch viele Menschen befürchten, dass sich die schlechten Lebensbedingungen zunächst noch weiter verschlechtern werden. Vor allem die russischsprachigenMoldauer und Moldauerinnen, rund 40 Prozent der ­Bevölkerung, haben Angst – nicht nur um die Wirtschaft, sondern auch davor, ins Hintertreffen zu geraten.
Viele jüngere Menschen, die sich als Rumänen definieren, finden das übertrieben. So betont der Aktivist und Rundfunkmoderator Oleg Brega, dass eine Annäherung an die EU eben auch eine Garantie für die Rechte der Minderheiten bedeute. Doch auch er ist mit der jetzigen Regierungskoalition unzufrieden. Vor kurzem beschloss der 41jährige Einzelkämpfer, selbst für einen Sitz im Parlament zu kandidieren, um sich für die vielen Anliegen der Zivilgesellschaft einzusetzen. »Menschenrechte sind zwar auf dem Papier garantiert, aber die Praxis sieht oft anders aus«, stellt er fest. Ähnlich sieht der russischsprachige, schwule Aktivist Artiom Zavadovsky die Lage: »Eine Annäherung an die EU nutzt uns nur, wenn Reformen tatsächlich umgesetzt werden. Oberflächliche Pfuscharbeit hilft nicht. Brüssel sollte mehr verlangen, aber auch mehr helfen.«

Kurz vor der wichtigen Parlamentswahl bleibt die Republik Moldau ein gespaltenes Land, doch die Trennlinien laufen nicht immer entlang der traditionellen Sprachgrenzen, die seit der Unabhängigkeit 1991 immer wieder zu einem Politikum gemacht wurden. »Wenn es um die Rechte von Frauen oder queeren Menschen geht, entdecken rumänische und russische Nationalisten plötzlich viele Gemeinsamkeiten«, sagt der 27jährige Zavadovsky. Er selbst definiert sich zwar als Russen, zählt aber zu den ausgesprochenen Gegnern der konservativen Kreml-Propaganda, die sich auch in Chisinau bemerkbar macht. Umgekehrt wählen auch viele rumänischsprachige Bürgerinnen und Bürger Voronins PCRM, die sich »kommunistisch« nennt, aber Ängste vor einer »Verbreitung der Homosexualität« infolge eines EU-Beitritts schürt.
Viele in der kleinen Republik machen sich trotz der Schwierigkeiten große Hoffnungen auf eine Zukunft, in der das Land endlich die Grauzone zwischen Europa und Russland verlassen wird. Brega bringt es auf den Punkt: »Spielball der Großmächte zu sein, macht wenig Spaß. Wir müssen uns entscheiden, aber dann auch gleich an die Arbeit machen.«