Ein Fanprojekt aus Leipzig engagiert sich gegen Antiziganismus

Fußball für die Roma

Roma in Ungarn werden systematisch ausgegrenzt und sind stark von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. Mancherorts gibt es kleine Selbsthilfeprojekte. In Kálló etwa unterstützen die Fans eines Leipziger Vereins die lokale Fußballmannschaft.

Die Hände von István Diviák sind weiß gesprenkelt, als er seine Gäste begrüßt, die sich gerade aus einem roten Kleinbus zwängen. Diviák, ein kräftiger Mann Anfang 40, ist Vorsitzender des FC Kálló, dem Fußballverein des gleichnamigen Dorfes, das rund 60 Kilometer nordöstlich von Budapest liegt. Eben stand er noch auf dem Platz und hat die Linien für das Pokalspiel am nächsten Tag nachgezogen – von Hand, denn die Markiermaschine ist schon seit geraumer Zeit kaputt. Geld für eine Reparatur oder gar einen Ersatz hat der Verein nicht.
Die Gäste, die Diviák hier so freudig begrüßt, sind die Mitglieder der Initiative Leipzig Korrektiv. Die haben es sich zur Aufgabe gemacht, Antiziganismus zu bekämpfen. Heute sind sie allerdings vor allem als Postboten hier. Der Kleinbus, mit dem die Aktivisten vorgefahren sind, ist randvoll mit Fußballausrüstung: Gebrauchte Fußballschuhe, Schienbeinschoner und Trainingsanzüge, neue Bälle und Trikots, auch ein Satz Eckfahnen lugt aus der Heckklappe des Busses hervor. Die Sachen entstammen einer Spendenaktion der Fans des Leipziger Fußballvereins BSG Chemie. Die Partnerschaft vermittelt hat Leipzig Korrektiv. Normalerweise werden Dorfvereine wie dieser von ihrer Gemeindeverwaltung unterstützt. Doch beim FC Kálló sind zwei Drittel der Spieler Roma. Das war für den bisherigen Bürgermeister der Grund, dem Verein jegliche Unterstützung zu versagen.
»Wir sind finanziell in einer sehr schlechten Lage«, erzählt Trainer Zoltán Tompos. »Die Mannschaft schmeißt das Geld zusammen, damit wir zu Auswärtsspielen fahren oder, wie eben zu sehen, den Platz für das Pokalspiel morgen herrichten können.« Er erzählt außerdem von diversen Schikanen, von beschlagnahmten Trikots und dem Dorfrasenmäher, den der Verein nicht benutzen durfte: »Der frühere Bürgermeister hat gesagt: ›Die Zigeuner brauchen das hier nicht.‹«
Diese Art der Diskriminierung ist nicht untypisch. Ungarns Roma haben oft unter dem Rassismus der Mehrheitsgesellschaft und unter den Schikanen der lokalen Behörden zu leiden. »Das war auch der Grund, sich hier zu engagieren«, sagt Richard Gauch, einer der Leipziger Aktivisten. »Es geht hier nicht einfach nur darum, Spenden für arme Menschen zu sammeln«, ergänzt er, »sondern darum, denen zu helfen, die systematisch ausgeschlossen und unterdrückt werden«.
Derweil entladen die Aktivisten den Bus und tragen die neue Ausrüstung in das Gemeindezentrum, einen in Altrosa gestrichenen Flachbau, der, wie viele Gebäude in Kállo, schon bessere Zeiten gesehen hat. Drinnen gibt es Limo für alle und man versucht, sich zu unterhalten – mit Händen und Füßen, denn die Sprachbarriere ist hoch. Davon lässt sich allerdings niemand die Stimmung verderben.
In einer Ecke fängt eine Konstruktion aus Holz und Eisen Staub. Das Gerät ist eine Presse, mit der Biobriketts hergestellt werden können, und entstammt dem ersten Projekt, das Leipzig Korrektiv in Kálló unterstützt hat. Damals ging es darum, die Roma in Kálló in die Lage zu versetzen, sich mit dem Allernötigsten selbst zu versorgen. Den Teilnehmern wurde beigebracht, wie man Gemüse selbst zieht und Kleintiere züchtet und versorgt, sie bekamen gratis Pflanzensamen sowie ein paar Küken. Leipzig Korrektiv sammelte damals Spenden, um den Eigenanteil von zehn Prozent zusammenzubekommen, der nötig war, um die Förderung einer Schweizer NGO zu erhalten.
Nicht alle Teile des Projektes waren erfolgreich: Viele der Küken starben und der Rest wurde geklaut, noch bevor sie eine Karriere als Legehenne beginnen konnten. Auch die Brikettpresse war Teil des Projektes und eigentlich dazu gedacht, aus Altpapier und Zweigen Heizmaterial herzustellen. Doch es mangelte an Grundmaterial. Trotz vereinzelter Rückschläge kann das Projekt jedoch durchaus als Erfolg gewertet werden. Vor allem das Gartenbauprogramm ist sehr gut angelaufen und soll nun ausgeweitet werden, zudem konnten 15 Roma ihren Schulabschluss nachholen.

Verantwortet wird das Projekt von der Bürgerrechtsorganisation »Polgárjogi Mozgalom a Köztársaságert«. Deren Vorsitzenden, Aladár Horváth, treffen wir am Abend in Budapest. Er ist einer der prominenteren Roma-Aktivisten Ungarns und hat das Projekt in Kálló begleitet. Dessen Erfolg sieht er vor allem darin, dass es die Roma dazu gebracht hat, sich selbst zu organisieren. »Es hat eine interne Entwicklung stattgefunden, es hat sich eine Gemeinschaft gebildet. Jetzt sind sie in der Lage, an Ausschreibungen teilzunehmen und ihre Interessen zu formu­lieren.«
Bei unserem Rundgang durch das Dorf zeigen uns die Männer vom FC Kálló alles, was es hier zu sehen gibt: Die Grund- und die Oberschule, die Kirche, die gerade saniert wird, den Kindergarten, der gerade neu eingerichtet wurde und einen schönen Spielplatz hat. Man merkt, sie sind stolz auf ihr Dorf.
Wir sehen aber auch den ehemaligen Bäckereibetrieb, der vor seiner Pleite rund ein Duzend Beschäftigte hatte, und das von Unkraut überwucherte Grundstück einer ehemaligen Baufirma, die einging, nachdem ihr Besitzer gestorben war. Kálló liegt im armen Norden des Landes, die Arbeitslosigkeit ist hier sehr hoch. Die Quote liege bei den Roma, die rund 45 Prozent der Dorfbevölkerung ausmachen, nach Diviáks Einschätzung aber deutlich höher. Daher ist seine Antwort auf die Frage, was die Roma in Kálló am dringendsten bräuchten, nur wenig überraschend: »Arbeit, Arbeit, Arbeit.«
Doch hier einen Job zu finden, ist gerade für Roma nicht einfach. Zum einen haben viele keinen Schulabschluss oder nicht die Möglichkeit, zu einer Arbeitsstelle zu pendeln. Doch davon abgesehen werden die wenigen Stellen, die es gibt, meist nicht an Roma vergeben. Die Folge: Viele leben in tiefer Armut, es fehlt oft am Allernötigsten. Die Plätze im staatlichen Arbeitsprogramm, bei denen sogenannte gemeinnützige Arbeit verrichtet wird, werden stark nachgefragt, denn die Menschen können die rund 70 Euro, die das mehr bringt als die Sozialhilfe, gut gebrauchen. Nach den Kommunalwahlen berichtete Átlátszó, eine ungarische Website für investigativen Journalismus, dass, dass bei der Wahl zu den Minderheitenvertretungen in einem Dorf in Borsod die Plätze nur denjenigen gegeben worden seien, die den »richtigen« Kandidaten angekreuzt hätten. Das heißt, die Plätze werden offenbar schon verkauft. Das Programm, das die Regierung Orbán 2011 einführte, ist von Bürgerrechtsgruppen und der linken Opposition scharf kritisiert worden; von »Zwangsarbeit« war die Rede. Die Arbeitslosen können nämlich zur Arbeit verpflichtet werden, wer sich wehrt, dem kann die staatliche Unterstützung ganz gestrichen werden. Die Entscheidung, welche Arbeiten gemeinnützig sind, liegt bei den Vertretern der Kommune, die diese Macht sehr leicht missbrauchen können.
Doch das Thema Arbeit hat dank der Regierung Orbán noch eine zweite, gravierende Dimension, erklärt Horvárth: »Die Regierung hat die Verfassung durch ein neues Grundgesetz ersetzt. Dieses erkennt das Recht der Menschen auf Gleichbehandlung nicht mehr an, sondern macht einen Unterschied auf der Grundlage dessen, ob jemand arbeitet oder nicht. Wer arbeitet, hat mehr Rechte als der, der keine Beschäftigung hat. Derjenige, der keine entsprechenden gesellschaftlichen Beziehungen und keine Arbeit hat, keine Steuern zahlen und nicht am wirtschaftlichen Leben teilnehmen kann, der wird komplett ausgegrenzt und bleibt auf der Straße.« Da passt es ins Bild, dass die ungarische Regierung im vergangenen Jahr mit ihrem rigorosen Vorgehen gegen Obdachlose von sich reden machte.
Doch Horváth sieht noch eine weitere Gefahr für Dörfer wie Kálló, in denen es wenig Arbeit und einen hohen Roma-Anteil gibt: die schleichende Segregation. »Das ist nicht unbedingt eine bewusste Politik«, sagt er, doch ein Problem sei es allemal. »Diejenigen, die finanziell besser gestellt sind, ziehen weg, oder sie bringen ihre Kinder woanders zur Schule, bis irgendwann eine homogene Struktur entsteht, und nur noch die Roma übrig sind.« Diviák schätzt, dass drei von vier Kindern, die in Kállós Kindergarten gehen, Roma sind.

Die Roma von Kálló wohnen überall im Dorf verteilt, doch auch hier gibt es eine Gegend, in der ausschließlich Roma leben. Hier ist die Straße keine Straße mehr, sondern eine Piste aus getrocknetem Schlamm. Ein paar Jungs spielen Fußball, einer fährt mit seinem Fahrrad herum. Die Räder haben weder Schläuche noch Mäntel, er fährt auf nackten Felgen.
Viele der Häuser sind schon seit einer Weile sanierungsbedürftig, manche sind notdürftig mit Sperrholzplatten geflickt. Aus einigen führen selbstgebastelte Kabelkonstruktionen direkt zu der Stromoberleitung. Viele hier können die Stromrechnungen nicht zahlen, wird uns erklärt, deshalb wird ihnen der Strom abgestellt. So behelfen sie sich. Ein Mädchen von etwa zwölf Jahren holt mit einem Eimer Wasser an einer öffentlichen Pumpe. Fließend Wasser gibt es hier nicht. Dafür sind viele der Gärten ordentlich gepflügt – eine Folge des Gartenbauprojektes.
Als wir mit Kamera und Aufnahmegerät in der Hand gemeinsam mit István Diviák durch die Siedlung laufen, spricht uns eine ältere Frau an. Wo denn der Bürgermeister sei, fragt sie mit einigem Gespür für politische Zusammenhänge. »Wenn es regnet, wird hier alles zu Schlamm«, schimpft sie und macht eine ausladende Geste, »selbst mit Gummistiefeln können wir dann nicht mehr Wasser holen gehen. Ich sage schon seit einer Million Jahren, dass da etwas gemacht werden muss.«
Dann zeigt sie auf ein Haus am Ende der Straße. Das Dach ist eingesunken und nur notdürftig mit Planen geflickt. Dort habe bis vor kurzem ihr Sohn mit seinen vier kleinen Kindern gelebt. Jetzt habe sie die Kinder zu sich genommen, denn ihr Sohn sei unheilbar krank. Er habe immer gearbeitet, ruft sie, doch jetzt könne er nicht mehr. Und von der staatlichen Unterstützung, die er bekommt – der Sozialhilfesatz liegt bei 22 800 Forint, rund 75 Euro –, könne er entweder die Kinder ernähren oder das Dach reparieren lassen. Beides gehe nicht. Auch hier, so hofft sie, werde der neue Bürgermeister helfen. Da müsse man aber auch ihm helfen, entgegnet Diviák.
»Hier gäbe es so viel zu tun«, sagt Diviák, als er sich umschaut. »Es stimmt, dass die Roma aus Kálló keine Schulbildung haben. Aber mit der Arbeit ihrer beiden Hände können sie einen Wert schaffen. Damit können sie sich selbst und auch anderen ein Beispiel geben.« Und hier könnte ein Ort entstehen, wo Menschen gerne gemeinsam leben. Nun hofft auch er, dass er damit beim neuen Bürgermeister Unterstützung findet.
Als wir die Siedlung verlassen, kommen wir an einem gepflegten, ebenfalls in Rosa gestrichenen Haus vorbei, dass sich nicht wesentlich von den anderen in der Straße unterscheidet, wäre da nicht ein Detail: Der Gehsteig vor dem Haus ist nicht wie sonst überall ein rissiger Asphaltweg, sondern besteht aus strahlend weißen, neuen Steinplatten. Doch genau da, wo das Grundstück endet, endet auch der schöne Gehweg. »Hier wohnt die Mutter des ehemaligen Bürgermeisters«, sagt Trainer Tompos und grinst.

Im Gasthaus treffen wir dann Buda Baboss, den neuen Bürgermeister, auf dessen schmalen Schultern so viele Hoffnungen ruhen. Das überrascht zunächst, denn Baboss ist Mitglied der nationalkonservativen Partei Fidesz. Die stellt in Ungarn nicht nur den Ministerpräsidenten und hat eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, sondern hat mit dieser Mehrheit auch eben jene Verfassung verabschiedet, die Bürgerrechtler wie Aladár Horváth kritisieren.
Doch die Roma in Kálló vertrauen dem smarten 29jährigen. Er sei in der Gegend gut vernetzt, sagen sie, und er habe versprochen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Mit seinen Kontakten und der Unterstützung der Regierungspartei, die in Ungarn die politischen Institutionen dominiert, so hoffen sie, kann Baboss viel für das Dorf und seine Bewohner erreichen.
Der junge Mann selbst will vor allem nach vorne schauen, und vermeidet es tunlichst, Fehler der Vergangenheit oder gar die Verantwortlichen dafür zu benennen. Stattdessen spricht er vom Mangel an einer »kollektiven Moral«, der die Probleme verursacht habe, was im übrigen ein landesweites Problem sei. Er betont, dass es hier in Kálló keine »ernsthaften Zwischenfälle« gegeben habe, wie es oft andernorts der Fall war. Viele dieser »Zwischenfälle«, wie er sie nennt, haben es auch in die internationale Presse geschafft: Angefangen von bewaffneten Rechtsextremen, die die Roma terrorisieren, über die Stadtverwaltung von Ózd, die im Hochsommer die Wasserversorgung des Roma-Viertels kappte, über die Zwangsumsiedlungen von Roma zugunsten eines neuen Fußballstadions in Miskolc bis hin zur Mordserie and den Roma vor fünf Jahren.
Hier in Kálló redet man immerhin miteinander, und Baboss sieht nicht nur die Roma in der Pflicht, sich zu bewegen, sondern alle. Er setzt auf lokale Lösungen und auf Kommunikation: »Wir dürfen nicht darauf warten, dass man uns von oben hilft und unsere Probleme löst«, sagt er. »Wir müssen hier vor Ort die Köpfe, die Führung in Ordnung bringen und uns bemühen, in jeder Hinsicht Partner zu sein.« Er ist zuversichtlich, dass man zusammenarbeiten könne, schließlich gebe es auf allen Seiten vernünftige Ansprechpartner. Auch die »Spannungen« zwischen der Gemeinde und dem FC Kálló hält er für lösbar.
Und so überwiegt bei allen Beteiligten die Hoffnung, dass man hier in Kálló in dieser personellen Konstellation die Dinge zum Guten wenden kann. Diviák fasst die Chancen und Risiken so zusammen: »Wenn die Roma in Kálló nur ein bisschen Zuneigung bekommen, dann verschenken sie ihr Herz. Aber wenn sie hintergangen werden, können auch sie abscheulich werden.«
Ob es gelingt, das Dorf und seinen Verein gemeinsam nach vorne zu bringen, davon können sich die Fans der BSG Chemie Leipzig vielleicht bald selbst überzeugen. Sie sind im kommenden Jahr zu einem Freundschaftsspiel eingeladen.