Die Reaktion der israelischen Politik auf die jüngsten Anschläge

Wie stoppt man eine Welle?

Die neue Terrorwelle hat zu ersten politischen Reaktionen in Israel geführt. Viele Vorschläge, die diskutiert werden, erscheinen als wenig effektiver Aktionismus.

Der Mordanschlag in der Synagoge im Jerusalemer Viertel Har Nof am 18. November hat das politische Establishment Israels in den Grundfesten erschüttert. In der Knesset fand gerade die jährliche Zeremonie um den Haushalt statt. Der muss bis zum 31. Dezember verabschiedet sein, sonst gibt es automatisch Neuwahlen. Der Haushalt ist das wichtigste Instrument einer Regierung, ihre Politik festzulegen. Und so wollen sich alle, Regierung wie Opposition, bei diesen Debatten profilieren. Aber auch innerhalb der Regierungskoalition gibt es Streit: Den einen ist der Militärhaushalt zu groß, die anderen beschäftigen sich nur mit den sozialen Ausgaben.
Auf einmal waren solche Details nebensächlich. Am Morgen jenes Dienstags platzte die Nachricht von dem »schlimmsten Terroranschlag seit dem Holocaust« herein, wie Augenzeugen es ausdrückten. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu gab eine Grundsatzerklärung ab. Er sprach von einem »auf Jerusalem fokussierten Terrorangriff« und warf der Welt vor, den Palästinensern »kein Ende der wilden Hetze gegen Israel« abzufordern, obgleich das »die Wurzel des Konflikts« sei. Die Täter, die er »menschliche Tiere« nannte, seien »voll des Hasses und der Hetze« gegen das jüdische Volk und seinen Staat gewesen.

Netanyahu warf der Hamas, der »Islamischen Bewegung« in Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde vor, »unendlich viele Lügen und Falschheiten gegen den Staat Israel« verbreitet zu haben. »Sie sagen, dass Juden den Tempelberg verunreinigen. Sie sagen, dass wir die heiligen Stätten zerstören wollen und dass wir dort die Gebetsabläufe ändern wollen. Das sind alles Lügen.« Er begrüßte, dass der Präsident der Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, den Anschlag verurteilt habe, kritisierte aber zugleich, dass er das mit Behauptungen zu Israels vermeintlichen Plänen zum Tempelberg verknüpft habe, die »nichts mit der Wirklichkeit« zu tun hätten. Empörend sei nicht nur die Brutalität des Mordes, sondern auch, dass es Freudenbekundungen in Gaza und in Bethlehem gegeben habe. »Sie verteilen Süßigkeiten, schwenken Äxte und loben die Shahid (Märtyrer, die Red.). Diese Realität werden wir nicht tolerieren. Wir werden den Terror bekämpfen und besiegen. Wir werden in die Straßen Jerusalems Recht, Ordnung und Sicherheit zurückbringen.«
Nach mehreren Sicherheitsberatungen verkündete Netanyahu erste Maßnahmen, deren Wirkung jedoch fraglich erscheint. Die Zerstörung der Häuser von Terroristen soll abschrecken. Dahinter steckt die Vorstellung, dass die Familienangehörigen von Anschlagsplänen ihrer Söhne wissen, aber nichts dagegen unternehmen. Die Mutter eines der Synagogenattentäter habe gewusst, dass ihr Sohn wegen der vermeintlichen Ermordung des arabischen Busfahrers Yusuf Hassan al-Ramouni zwei Tage zuvor den Anschlag verübt habe. Schon beim Begräbnis des Busfahrers war es zu gewalttätigen Zusammenstößen mit Sicherheitskräften gekommen. Der palästinensische Pathologe Saber al-Aloul, der verbreitet hatte, dass Ramouni einem »Lynchmord jüdischer Extremisten« zum Opfer gefallen sei, wurde inzwischen von der Polizei vorgeladen und soll verhört werden.
Die Hauszerstörungen waren 2005 eingestellt worden, nachdem Zweifel an deren abschreckender Wirkung aufgekommen waren. Erstmals wurden in diesem Juni wieder die Wohnungen der Entführer der drei jugendlichen Israelis in Hebron zerstört. Nun wurde damit begonnen, die Zimmer unbewohnbar zu machen, in denen die Attentäter der jüngsten Anschläge gewohnt haben. Die Israelis berufen sich auf britisches Mandatsrecht. Doch in der Welt werden die Häuserzerstörungen als »Rache«, »Sippenhaftung« und »Verstoß gegen das Völkerrecht« gesehen. Human Rights Watch bezeichnete sie sogar als »mögliche Kriegsverbrechen«. In manchen Medien überschattet dieser vermeintliche israelische Verstoß gegen das internationale Recht längst den willkürlichen Mord an vier Zivilisten und einem Polizisten in der Synagoge. Der scheint aus europäischer Sicht schlicht ein krimineller Akt zu sein. Trotz Vorplanung und politischen Motiven der Attentäter gilt er mit ihrem Tod als erledigt. Israel steht jedoch vor dem Problem, nicht nur Verbrechen von Einzeltätern ahnden, sondern auch eine Terrorwelle stoppen zu müssen.
Zudem verfügte der Ministerpräsident härteren Vollzug und Strafen für antiisraelische Hetze sowie ein Verbot von hetzenden Organisationen. Doch hier sind ihm die Hände gebunden. Gerichte haben absolute Hoheit in Israel. Sie urteilen gemäß der bestehenden Gesetze. Direktiven der Regierung sind bei der bestehenden Gewaltentrennung undenkbar. Jerusalemer Araber besitzen einen jordanischen Pass und zusätzlich einen israelischen Ausweis. Der räumt ihnen Rechte und Privilegien ein, wie sie nur Israelis besitzen, nicht aber Palästinenser aus den Autonomiegebieten, darunter Freizügigkeit und Anspruch auf Sozial- und Krankenversicherung. Am Wochenende ersuchte Innenminister Gilad Erdan um »erweiterte Befugnisse«, Jerusalemer Arabern die Identitätskarte wegnehmen zu dürfen, wenn sie an Terroranschlägen beteiligt sind.

Außerdem erwägt Polizeiminister Ytzhak Aahronowitch Erleichterungen beim Erwerb einer Schusswaffe. Bisher muss ein Israeli 21 Jahre alt sein und verschiedene Tests bestehen, um eine Pistole sowie 50 Patronen legal erwerben zu können. Viele Israelis sind bewaffnet: Soldaten, Sicherheitsleute und Polizisten. Künftig sollen ehemalige Offiziere aus Eliteeinheiten Waffen tragen dürfen. Ebenso soll Sicherheitsleuten und Wachmännern erlaubt werden, ihre Waffen außerhalb ihrer Dienstzeit zu tragen. In der Vergangenheit haben mehrfach bewaffnete Israelis Terroranschläge gestoppt oder verhindert. Das gilt auch für den Anschlag in der Synagoge. Ohne das zufällige Erscheinen von drei bewaffneten Polizisten wären die beiden Attentäter nicht schon nach sieben Minuten aufgehalten worden. In dem Gebäude befanden sich noch 60 weitere Menschen, denen die Polizisten womöglich das Leben gerettet haben. Einer der Polizisten war ein Kriminalbeamter auf dem Weg zur Arbeit, ein anderer Verkehrspolizist. Ein drusischer Polizist bezahlte seinen Einsatz mit dem Leben.
Zwar nicht als Reaktion auf die Terrorwelle, aber unter deren Eindruck stehend, hat das israelische Kabinett schließlich einen in der Koalition höchst umstrittenen Gesetzentwurf beschlossen, mit dem der Charakter Israels als »Jüdischer Nationalstaat« in der Verfassung festgeschrieben werden soll. Das geplante Gesetz sieht auch vor, dass Arabisch künftig keine offizielle Amtssprache, sondern nur noch eine Sprache mit »besonderem Status« sein soll. Allerdings muss der Entwurf noch die parlamentarische Beratung durchlaufen, und im Parlament gibt es starke Vorbehalte.
Während die Hamas und der Islamische Jihad offen dazu aufrufen, Juden zu töten, und versuchen, mit religiöser Symbolik einen Religionskrieg zu provozieren, wird auch Präsident Abbas – im zehnten Jahr seiner vierjährigen Amtszeit – von der israelischen Regierung immer mehr als Problem und weniger als Teil der Lösung gesehen. Das Misstrauen zwischen Abbas und Netanyahu ist tief. Ein Zugehen auf die Palästinenser oder gar Konzessionen an sie gelten derzeit als undenkbar. Selbst gemäßigte israelische Politiker wie Tzipi Livni und Yair Lapid schweigen sich aus. Sie fürchten, sich lächerlich zu machen, wenn sie auf eine Freilassung weiterer palästinensischer Häftlinge oder auf territoriale Konzessionen pochen würden, während die Hamas darauf wartet, auch im Westjordanland die Macht zu übernehmen. Die Sicherheitskooperation zwischen Abbas und Israel funktioniert indes weiter, Abbas ließ ganz im Sinne der Israelis Hunderte Hamas-Aktivisten verhaften. Das tut er freilich nur, um selbst politisch zu überleben. Viele Palästinenser denken anders. Jeder Vierte im Westjordanland ist vom IS begeistert und hält Abbas für einen Verräter, die Hamas ist populär wie nie.