Die Ausstellung »Germany – Memories of a Nation« im British Museum

Die sympathische Führungsmacht

Eine Ausstellung des British Museum in London widmet sich der Geschichte der deutschen Nation und wagt dabei einige fragwürdige Interpretationen.

Den Anfang macht das Ende der deutschen Teilung und der DDR. Videoaufnahmen von glücklichen Menschen und fallenden Mauerstücken empfangen den Besucher beim Betreten der Ausstellung »Memories of a Nation«, die seit Oktober im British Museum in London zu sehen ist. Was dieser eher kurzen Begegnung mit dem »neuen Deutschland«, wie der Direktor des British Museum, Neil MacGregor, das vereinte Deutschland kürzlich nannte, folgt, ist ein mehr oder weniger chronologischer Schnelldurchlauf durch die deutsche Geschichte der letzten 600 Jahre anhand verschiedener Objekte, Kunstwerke und Dokumente: vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bis zur Gegenwart.
Die Intention einer solchen Schau besteht laut MacGregor darin, die britische Bevölkerung über den Reichtum der deutschen Geschichte und die deutsche Kultur aufzuklären und gleichzeitig ihr Deutschlandbild zu erneuern: »Von den großen europäischen Staaten ist Deutschland das Land, das wir am wenigsten kennen und verstehen, nicht zuletzt, weil unser Kenntnisstand vor 70 Jahren stehengeblieben ist.« Der Schwerpunkt des allgemeinen Interesses soll verschoben werden, weg von den zwei von Deutschland verschuldeten Weltkriegen, hin zu Kunst, Kultur und technischem Erfindergeist. Objektauswahl und Themensetzung sollen einen authentischen Einblick in das kollektive Gedächtnis der Deutschen gewähren.
Anlass für die Ausstellung war nicht zuletzt das durch die Eurokrise endgültig veränderte europäische Machtgefüge, in dem Deutschland eine exponierte Stellung einnimmt. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagt MacGregor dazu: »Im Moment erscheint es mir besonders wichtig, dass die Briten das einflussreichste europäische Land verstehen.« Der Direktor des British Museum studierte Deutsch in Oxford und ist für seiner Begeisterung für alles Deutsche bekannt. Die Ausstellung »Memories of Nation« ist auch durch seine Radioserie »Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten« inspiriert, die 2010 auf BBC 4 und dem World Service ausgestrahlt wurde.
Anhand romantischer Gemälde von Carl Gustav Carus und Caspar David Friedrich wird dem Besucher vermittelt, die Deutschen hätten sich wegen der fehlenden territorialen Einheit der frühen Nation auf der Suche nach identitätsstiftenden Momenten und einer Art inneren Landschaft der Natur zugewandt. Die typische Landschaft mit der deutschen Eiche als dem zentralen Symbol für die deutsche Volksseele wird als maßgeblicher Garant nationaler Identität dieser Zeit eingeführt.
Ein inhaltlicher Schwerpunkt liegt auf technischer Entwicklung und Produkten »Made in Germany«, wie zum Beispiel dem weißen Rhinozeros aus Porzellan von Johann Gottlieb Kirchner und dem VW-Käfer. Mit unverhohlener Bewunderung wird Deutschland als eine Nation des technischen Erfindergeistes, der Handwerkskunst und der wirtschaftlichen Betriebsamkeit inszeniert. Besonders anschaulich wird dies durch den Slogan der Automarke Audi, »Vorsprung durch Technik«, der von den Machern der Ausstellung als ein Charakteristikum der deutschen Nation schlechthin dargestellt wird.
Ein besonderes Augenmerk liegt daneben auf Künstlern und Kunstschulen, die Deutschland hervorgebracht hat. Neben Albrecht Dürer wird Johann Wolfgang von Goethe ausführlich geehrt. Die Bedeutung Weimars als einem kulturellen Zentrum für die Geschichte Deutschlands wird nicht nur durch Goethes Leben und Schaffen, sondern auch durch die 1919 von Walter Gropius in Weimar gegründete Bauhaus-Kunstschule illustriert.
Chronologisch nähert sich die Ausstellung damit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, doch sie verzichtet dabei weitgehend auf eine politische Einordnung. Eine Tafel gibt Auskunft darüber, dass das »ökonomische und politische Chaos nach dem Ersten Weltkrieg« durch Hitler ausgenutzt worden sei, was zum Aufstieg des Nationalsozialismus und letztlich zum Holocaust geführt habe. Damit wird der nur sehr kleine Teil der Ausstellung eingeleitet, der sich mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust beschäftigt. Der Holocaust und die von Deutschen begangenen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs werden als »unlösbare Frage für Deutschland und die Welt« bezeichnet; es wird festgestellt, dass »keine Erzählung sie ganz zu fassen vermag«. Diesen Satz nannte der Autor Mark Hudson in seiner Rezension der Ausstellung im Telegraph treffend »erschreckend ehrfürchtig und beinah beleidigend«. Der Eindruck, dass das Thema am liebsten ganz ausgespart worden wäre, trügt nicht, schließlich geht es den Ausstellungsmachern darum, das angeblich von Krieg und Holocaust dominierte Deutschlandbild der Briten zu verändern.
Unheimlicherweise wird der Antisemitismus in Deutschland weder im Zusammenhang mit dem Holocaust noch an anderer Stelle der Ausstellung thematisiert. Lediglich ein schlecht einsehbares Plakat zur 1937 eröffneten Ausstellung »Der ewige Jude« macht auf die »antisemitische Propaganda der Nazis« aufmerksam. Dabei wird stets zwischen den Nazis und den Deutschen unterschieden.
Das Verschweigen des deutschen Antisemitismus verweist auf ein weiteres Problem der Ausstellung: die Vernachlässigung der Gesellschaft zugunsten der Nation. Es wird zu keinem Zeitpunkt klar, wessen Erinnerungen die Ausstellung überhaupt präsentiert. Durch den affirmativen Bezug auf das Konstrukt der Nation kann jede Beschreibung ihrer Geschichte und Regungen lediglich auf der Ebene des Stereotyps verharren. Die deutsche Gesellschaft tritt nie wirklich in Erscheinung, wirkt vollkommen konfliktfrei und homogen. Sie wird entsprechend auch nicht mit den zwei von Deutschland verursachten Weltkriegen in Verbindung gebracht.
Bis auf die vereinzelte Erwähnung von Persönlichkeiten, die wie Chiffren erscheinen, treten lediglich an einer Stelle Menschen aus dem Schatten der vorgestellten Gemeinschaft hervor – und das ausgerechnet dann, wenn es um die deutschen Vertriebenen geht. Das Schicksal der »aus den Ostgebieten« geflohenen deutschen »Heimatvertriebenen« wird ausführlicher behandelt als der Erste und der Zweite Weltkrieg oder der Holocaust. Fotos erinnern an die Zerstörung der Städte »Warschau, Dresden, Hamburg und Coventry«. Museumsdirektor MacGregor schreibt dazu in einem Artikel des Guardian: »Menschen sprechen sehr offen und ehrlich über den Holocaust und was damals passierte, aber das Thema der großen Zahl ziviler Opfer in Deutschland, verursacht durch die Bomben der Alliierten, findet nur sehr wenig Aufmerksamkeit.«
Die britische Presse reagierte insgesamt positiv auf die Ausstellung. »Memories of a Nation ist einfühlsam und sorgfältig konzipiert und eine wichtige Ergänzung nicht nur zu der Vorstellung eines modernen Deutschland, sondern auch eines modernen Europa«, schwärmt der Economist, und ein begeisterter Jonathan Jones schreibt im Guardian: »Ich wette mit Ihnen, dass sie nach dem Besuch dieser Ausstellung das nächste Flugzeug nach Berlin oder München werden nehmen wollen!« Doch es gibt auch kritische Stimmen wie etwa die von Ben Luke im Evening Standard: »In MacGregors Radiosendung auf BBC 4 taucht der Holocaust wie ein Phantom auf und kann adäquat thematisiert werden, an dieser Stelle wirkt der gewählte Raum jedoch unangemessen«. Mark Hudson schreibt genervt im Telegraph: »Die dargestellten Dinge erscheinen wie die Bebilderung von Aussagen, die entweder überkomplex oder schmerzhaft vereinfacht wirken.«
In der deutschen Öffentlichkeit wurde die Ausstellung begeistert aufgenommen. Besonders die Bewunderung für die wirtschaftliche Stärke und die politische Führung Deutschlands wurden dankbar angenommen. Der Wunsch nach Lob hat eine Kritik zu der Ausstellung weitgehend verhindert. Von ihrem geschichtsrevisionistischen Ansatz und dem Fehlen ganzer Jahrzehnte der jüngsten Geschichte einmal ganz abgesehen, sollte auch die Qualität des Gezeigten nachdenklich stimmen. So reicht ein blauer Taucheranzug, der angeblich bei der Flucht aus der DDR getragen wurde, um die gesamte Geschichte der DDR darzustellen.
Die Botschaft der Ausstellung wird dennoch klar. Der suggerierte neue britische Blick auf Deutschland ermöglicht den Deutschen nicht nur, die unbequeme nationale Vergangenheit zu begraben, sondern unterstützt auch ihre Selbstwahrnehmung als sympathische Führungsmacht in Europa.

Germany – Memories of a Nation. Bis 25. Januar 2015 im British Museum in London