Berlin Beatet Bestes. Folge 268.

Gekommen, um zu tanzen

Berlin Beatet Bestes. Folge 268. Urban Pioneers: Addicted to the Road (2014).

Gestern Abend ging ich zum Swingtanzen in den Bassy-Club. »Wild music before 1969« ist das Credo des Bassy. Von Rockabilly, Beat und Soul bis Punk reicht das Repertoire, fast täglich spielen Live-Bands. Dienstags ist immer Blues- und Balboa-Tanz, es gibt langsame und schnelle, vom Jazz beeinflusste Tanzmusik auf zwei verschiedenen Dancefloors. Als ich ankam, begrüßte mich Anna, die Veranstalterin des Clubs: »Schön, dass du da bist. Heute wird’s wild! Da spielt eine Hillbilly-Band, die stand schon im Programm, bevor ich mit dem Club angefangen habe.«
Tatsächlich, nach einer Stunde Musik vom DJ standen plötzlich drei Punks auf der Bühne, ein Dreadlocktyp am Bass, ein halstätowierter Banjospieler und eine Fiddle-Spielerin. Sie legten sofort los mit ihrer Bluegrass-Musik. Im Allgemeinen swingt die Musik, zu der wir tanzen, in irgendeiner Form. Muss sie auch, sonst funktioniert der Tanz nicht. Bluegrass ist überwiegend schnelle bis sehr schnelle Musik, und es gibt natürlich auch einen Tanz dazu: Flatfooting oder Buckdancing. Das ist ein Solotanz, so eine Art ländlicher Stepptanz. Auch einen Paartanz gibt es, aber den kannten im Bassy die Konzertgäste so wenig wie die meisten der anwesenden Swingtänzer. Zunächst standen da nun Leute ratlos im Raum, die nur gekommen waren, um zu tanzen. Bis Anna und eine andere Frau mutig den Anfang machten. Radikal schmissen sie alle erlernten Schritte über Bord, nur der Rhythmus zählte. Nach und nach trauten sich auch andere, sogar ich. Es fühlte sich komisch an, weil es ungewohnt war, aber dann machte es richtig Spaß. Die Band kam auch in Schwung und freute sich offensichtlich über die Bewegung vor der Bühne.
Nach dem Konzert bauten die Urban Pioneers am Ausgang einen vollen Merch-Stand, auf dem sie verschiedene T-Shirts, Patches und Mützen, natürlich alle in Schwarz, und ihre LP »Addicted to the Road« präsentierten. Die Urban Pioneers sind Teil einer kleinen Underground-Country-Szene, die versucht, die Anfänge der Country-Musik, die vom Nashville-Mainstream seit Jahrzehnten verdrängt wird, wiederzubeleben. Seltsamerweise sehen diese neuen Country-Typen, diese Musikbewahrer, alle so aus wie anarchistische DIY-Punks. Der besondere Stil, den die Urban Pioneers aus Tennessee spielen, ist Bluegrass-Musik, wie er in den Apalachen, einem Gebirgszug im Nordosten Nordamerikas, entstanden ist.
Das Stereotyp des Appalachen-Bewohners, des Hinterwäldlers, findet sich beispielsweise bei den »Simpsons« in der Figur des Cletus und seiner Familie. Die Hillbillies hausen außerhalb von Springfield in einer primitiven Holzhütte und haben eine unüberschaubare Anzahl von Kindern. Die Urban Pioneers hingegen sind kosmopolitische Entertainer, die ihr Leben auf Tour verbringen. Es kann keine so schlimme Zeit sein, in der ich lebe, wenn mir immer noch Schallplatten in die Hände fallen, wo ich es nicht erwarte. Die Scheibe ist im Übrigen hervorragend.
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.