Tote am Jahrestag der Revolution in Ägypten

Tod und Terror in Ägypten

Am diesjährigen Jahrestag der sogenannten Revolution in Ägypten kamen nach offiziellen Angaben mindestens 23 Demonstrierende ums Leben.

»Revolution auf allen ägyptischen Straßen – Die Revolution kehrt auf den Platz zurück.« So lautete die Schlagzeile der ägyptischen Zeitung al-Shuruk zum Jahrestag der Revolution – im Jahre 2012. Das traditionell staatsnahe ägyptische Leitmedium al-Ahram titelte damals: »Millionen sind auf den Platz geströmt, um für Freiheit und Würde zu demonstrieren.« Am 25. Januar dieses Jahres aber blieb der Platz menschenleer. Das Militär hatte, wie bereits mehrmals in den vergangenen Monaten, die Zugangsstraßen zum Tahrir-Platz abgesperrt. Die Regierung unter Feldmarschall Abd al-Fattah al-Sisi scheint im zweiten Jahr nach ihrer Machtergreifung kaum mehr Wert auf eine ihr genehme Instrumentalisierung der Ereignisse von 2011 zu legen – im Gegensatz zur Übergangsregierung des Militärrats (SCAF) und der Regierung der Muslimbrüder zuvor. 2012 ließ der Militärrat ein nationales Volksfest inszenieren. 2013 kam es neben Demonstrationen der Muslimbrüder zwar auch zu Gegendemonstrationen von Opponenten der Regierung Mohammed Mursis, doch es blieb weitgehend friedlich.
In diesem Jahr kam es bei verschiedenen Kleindemonstrationen, die von der Polizei angegriffen wurden, dem ägyptischen Gesundheitsministerium zufolge zu mindestens 23 Toten, andere Quellen nennen eine höhere Opferzahl. Zudem sollen landesweit über 500 Demonstranten verhaftet worden sein. Hend Nafea, eine Menschenrechtlerin vom Hisham Mubarak Law Center, konstatiert eine Verschärfung der Polizeigewalt. »Die Anzahl der Verhafteten war höher und die Methoden der Polizei waren brutaler als im vergangenen Jahr – obwohl wir glaubten, dass es nicht schlimmer als letztes Jahr kommen könnte.«
Der Großteil der Getöteten kommt aus den Kreisen der islamistischen Gegner der Regierung, wie die 17jährige Sondos Ridha, die am Vorabend des Jahrestags bei einer Demonstration im Norden Kairos getötet wurde. Die größte Aufmerksamkeit der internationalen wie ägyptischen Medien erregte hingegen der auf zahlreichen Fotos und Videoausschnitten dokumentierte Tod der 31jährigen Sheima al-Shabbagh. Sie war Teil einer Kleindemonstration aus ungefähr 20 linken Regierungsgegnern, die mit Blumen in den Händen in Richtung Tahrir-Platz zogen, als die Ordnungskräfte angriffen. Zu diesem Zeitpunkt skandierten die Demonstranten gerade den bekanntesten Slogan der Revolutionstage: »Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit!«

Der detailliert dokumentierte tödliche Übergriff auf eine unbewaffnete Demonstrantin brachte der ägyptischen Regierung nicht nur die Kritik westlicher Medien und Regierungsvertreter ein – auch einige ägyptische Zeitungen verurteilten die Gewalt der Ordnungskräfte. Unter Beobachtern der ägyptischen Presse löste dies teilweise Überraschung aus. Im Oktober hatten 17 auflagenstarke Zeitungen angekündigt, ihre Kritik an den staatlichen Institutionen einzuschränken, nachdem militante Jihadisten 29 Angehörige des Militärs bei einem Anschlag auf dem Sinai getötet hatten. Trotz dieses Aktes vorauseilenden Gehorsams seitens ägyptischer Massenmedien verurteilte gerade die als regierungsnah angesehene Zeitung al-Ahram den Mord an Sheima al-Shabbagh sehr deutlich. Einige Beobachter wollen in der deutlichen Kritik an der Polizeigewalt durch al-Ahram ein Anzeichen für Konflikte innerhalb der Regierung und der ihr nahestehenden Presse erkennen – während andere die kritischen Töne der auflagenstärksten ägyptischen Zeitung als mit der Regierungslinie kompatibel ansehen.
Dieser Deutung zufolge versucht die Regierung die Gewaltexzesse gegenüber linken und liberalen Demonstranten in Grenzen zu halten, um möglichst viele Ägypterinnen und Ägypter gegen das mehrheitsfähige Feindbild der Muslimbrüder zu vereinen. Dafür spricht, dass Innenminister Mohammed Ibrahim nach dem Tod von Sheima al-Shabbagh ein Kondolenzschreiben an die Familie der Getöteten sandte und versprach, den Mörder vor Gericht zu stellen, sollte dieser aus den Reihen der Polizei stammen – was die vorhandenen Videoaufnahmen allerdings hinreichend belegen. Ein solcher Akt wäre gegenüber den Angehörigen von getöteten Anhängern der Muslimbrüder undenkbar, die von der Regierung regelmäßig mit den militanten und schwer bewaffneten Jihadisten auf dem Sinai gleichgesetzt werden.
Diese haben erst Ende voriger Woche mit Attacken in al-Arish erneut die internationale Aufmerksamkeit auf den Nordsinai gelenkt, als sie bei einer koordinierten Anschlagsserie mindestens 26 Menschen töteten, die Hälfte davon Zivilisten. Der Staatsapparat weiß die Gewalt der Jihadisten auch für die Deutungshoheit über die Toten des 25. Januar für sich zu nutzen. Ägyptens Ministerpräsident Ibrahim Mahleb forderte in Folge des Anschlags Menschenrechtsorganisationen auf, anzuerkennen, welche Opfer Ägypten im Kampf gegen den internationalen Terrorismus bringe. Ägyptens Opfer trügen dazu bei, die ganze Welt vor der Terrorismusindustrie zu schützen, so Mahleb. Human Rights Watch hatte zuvor konstatiert, dass die menschenrechtliche Situation des Landes sich in einem »steilen Niedergang« befinde und »kein Licht am Ende des Tunnels« zu erkennen sei.
Bereits vor dem jüngsten Anschlag auf dem Sinai wehrte sich die ägyptische Regierung gegen »einseitige Kritik« aus dem Ausland an der Gewalt der Ordnungskräfte am 25. Januar – und bemühte dabei bewusst die Parallele zu den Sicherheitsmaßnahmen europäischer Regierungen nach dem Pariser Anschlag auf Charlie Hebdo. »Jede Regierung hat die Verpflichtung, ihre Bürger vor Terrorismus zu schützen – genauso wie dies europäische Staaten nach dem Anschlag von Paris auch gemacht haben«, ließ die ägyptische Regierung nach dem 25. Januar in einer Presseerklärung verlautbaren. »Es ist nicht nachvollziehbar, wie es die westliche Berichterstattung versäumt, über das Morden, die Brandanschläge und den Horror der terroristischen Muslimbrüder zu berichten.«
Manche Kommentatoren der regierungstreuen Presse bemüßigten sich noch weniger Differenzierung. Für den Fernsehmoderator Ahmed Moussa bestanden die Teilnehmer der Proteste gegen die Regierung al-Sisis am 25. Januar aus den »Terroristen der Muslimbruderschaft«, der »terroristischen Vereinigung des 6. April« und den »Saboteuren der Bewegung der revolutionären Sozialisten«. Er habe kein Problem damit, wenn 200, 300 oder 400 Terroristen getötet werden, stellte Moussa noch klar.

In einem Klima, in dem solche Aussagen niemanden mehr überraschen, wird öffentlicher Dissens immer schwieriger, auch wenn in Ägypten das Land mit der größten Anzahl von Zeitungen auf dem afrikanischen Kontinent ist. Die ägyp­tische Bürgerrechtsorganisation Association for Freedom of Thought and Expression (AFTE) recherchierte 44 Fälle von inhaftierten Journalisten allein für die erste Hälfte des Jahres 2014. Mittlerweile haben auch die meisten liberalen Fernsehkommentatoren und Komiker nach und nach ihre Sendungen eingestellt, nachdem sie von ihren Sendern keine Lizenzen mehr bekamen. Der bekannte Satiriker Bassam Youssef gab schließlich auf, ebenso wie die Talkshow-Moderatoren Dina Abd al-Rahman, Reem Magued und Yosri Fouda.
Auch gegen den während der Revolutionstage 2011 mit seinen eingängigen Liedern bekannt gewordenen Sänger Ramy Essam wurde Ende vergangenen Jahres Haftbefehl erstellt. Er sang auch an diesem Jahrestag der Revolution seine Lieder mit klarer politischer Botschaft – jedoch nicht in Ägypten, sondern im Haus der Demokratie und der Menschenrechte im Berliner Prenzlauer Berg.