Ein Porträt des irakischen Schriftstellers Fadhil al-Azzawi

Ein Ort, überall

»Der Letzte der Engel« ist der erste Roman Fadhil al-Azzawis, der in deutscher Übersetzung erscheint. Der in der arabischen Welt hoch angesehene Schriftsteller lebt in Berlin.

Mir sitzt ein schmaler, kleiner Mann mit einer schwarzen Lederkappe im Thälmann-Stil gegenüber. Fadhil al-Azzawi berichtet aus seinem bewegten Leben: 1940 in der berühmten Erdölstadt Kirkuk im nördlichen Irak geboren, wurde er in den siebziger Jahren durch die Ba’ath-Partei politisch unter Druck gesetzt, für zwei Jahre inhaftiert und gefoltert, so dass ihm nur die Flucht aus dem Irak blieb. 1977 – mitten im Kalten Krieg – konnte er mit Unterstützung des Journalistenverbands nach Leipzig ausreisen. Einfach war sein Leben dort nicht: Man entzog ihm den Pass, er konnte lediglich mit einem Diplomatenpass als Auslandskorrespondent für arabische Medien arbeiten. Aber er blieb, nutzte seine Reisefreiheit, die er als Auslandskorrespondent hatte. Wie oft er inzwischen wieder in Kirkuk war, möchte ich wissen. Gar nicht, lautet die Antwort. Al-Azzawi, einer der bedeutendsten auf Arabisch schreibenden Gegenwartsautoren, zuckt die Schultern: »Ich telefoniere ab und zu mit meinen Schwestern«, sagt er. Sie lebten immer noch dort. Solange Saddam Hussein regierte, sei es lebensgefährlich für ihn gewesen, in den Irak zurückzukehren. Einmal war er in Erbil und Suleymaniah, in den von Kurden kontrollierten Städten im Norden.
Auch jetzt ist es zu riskant, nach Kirkuk zu reisen. Auch wenn der »Islamische Staat« (IS) mit seinem Angriff auf Kirkuk gescheitert ist, bleibt die Region ein Schlachtfeld. Al-Azzawi meint: »Der größte Fehler der Amerikaner nach der Besetzung des Irak war, dass sie mit der Religion pokerten. Anstatt die modernen und demokratischen Kräfte im Irak zu unterstützen, brachten sie fanatische schiitische Milizen an die Macht und spalteten damit die Gesellschaft. Hunderttausende wurden ermordet oder mussten das Land verlassen. IS selbst verkörpert in seinem Wesen die blutige sunnitische Antwort auf die schiitische Unterdrückung der Sunniten: Zwei Monster, die im Namen der Religion gegeneinander kämpfen. Um den Krieg gegen den Terror zu gewinnen, müssen wir die Politik von der Religion trennen und Allah aus den Ketten der Religionshändler befreien.«
Al-Azzawi deprimiert die Vorstellung zutiefst, dass die Stadt, die so lange als Modell der Modernität für einen demokratischen und multikulturellen Irak galt, durch die Herrschaft von religiösen Fanatikern ins Mittelalter zurückgeworfen wird und ihren säkularen Geist verliert. Für den IS, so al-Azzawi, befände sich der »goldene Gipfel der Zivilisation irgendwo in der Vergangenheit«. Jetzt fällt ihm noch etwas ein, was man ihm kürzlich aus seiner Heimat erzählt hat: »Der Lieblingsslogan der IS-Terro­risten, den sie wiederholt laut rufen, geht so: Einer schreit ›Der islamische Staat!‹. Die anderen antworten im Chor mit einer Stimme ›wird fortdauern‹.« Al-Azzawi schüttelt den Kopf und meint: »Es scheint, dass sie nicht mal fühlen oder begreifen, wie viel Zweifel und Unsicherheit in ihrem eigenen Slogan liegt. Die islamische Geschichte selbst zeigt, dass die Terrorregime normalerweise eine kurze Weile dauern, aber niemals fortdauern können. Und der IS wird keine Ausnahme sein.«
Al-Azzawi lebt gemeinsam mit seiner Frau, die ebenfalls Schriftstellerin ist, in Berlin-Lichtenberg und fühlt sich wohl dort. »Ich habe irgendwann angefangen, die ganze Welt – nein, die Orte, an denen ich mich frei bewegen und schreiben kann, was ich möchte – als meine Heimat zu betrachten. Es gibt viele wunderbare Menschen an verschiedenen Orten.« Und über den Irak sagt er: »Es gibt 22 arabische Länder, ich werde zu Lesungen nach Ägypten und Jordanien und anderswohin eingeladen – dann fahre ich eben nicht in den Irak.« Nicht, dass die neuen Machthaber nicht versucht hätten, ihn einzuladen. Aber al-Azzawi möchte nicht für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert und Seite an Seite mit Politikern fotografiert werden. Also hat er es abgelehnt. In der arabischsprachigen Welt ist er ein Star. Seine Bücher verkaufen sich gut – und auch in den USA wird er viel gelesen. Sein Roman »Der Letzte der Engel« hatte dort eine Startauflage von 200 000.
Der Roman ist nun bei Dörlemann auf Deutsch erschienen. Dass es 22 Jahre gedauert hat, bis ein Roman von al-Azzawi hierzulande erscheinen konnte, ist schon verwunderlich. Es ist eines der wichtigsten Bücher über die arabischsprachige Welt und in seiner Skurrilität, dem untergründigen Humor und der Lust am Fabulieren eine literarische Rarität. Anhand verschiedener Protagonisten erzählt al-Azzawi die Geschichte des Chukor-Viertels in Kirkuk. Nach wenigen Sätzen sieht man das Viertel in leuchtenden Farben vor sich. Vordergründig spielt die Handlung in den späten fünfziger Jahren, doch die Parallelen zur Gegenwart machen den Roman interessant. Die verschiedenen Erzähl­ebenen, auch Träume und Halluzinationen, werden so eng miteinander verwoben, dass der Leser zum Teil nicht mehr weiß, ob er nun eine Utopie, eine Rückblende oder einen Albtraum liest. Am Ende siegt die Freiheit, auch wenn Burhan Abdallah, anfangs ein prophetisch begabtes Kind, nun ein alter Heimkehrer, dafür sein Leben lassen muss. In dem Moment, in dem er fürchtet, von »Soldaten mit gezückten Bajonetten« erdolcht zu werden, »spürte er, wie sich seine Hände in Schwingen verwandelten. Er schlug damit in die Luft, so dass er stieg und stieg, hoch und höher, bis er in den Tiefen des Alls verschwand.«
Als Fatima, die Frau von Hamid Nylon, einem der Helden des Romans, lange Zeit nicht schwanger wird, wird sie zu Juden, Christen und turkmenischen Muslimen im Viertel geschickt, um sich jeweils mit einem Wundermittel der Nachbarn helfen zu lassen. Das multiethnische Miteinander im Kontrast zur Gegenwart kann man als das heimliche Hauptthema des burlesken, vielstimmigen Sittengemäldes verstehen.
Nebenbei erwähnt al-Azzawi, dass er als Kind Turkmenisch gelernt habe. »Als ich letztens in Istanbul auf einem Poesiefestival war, konnte ich mich mit den Türken unterhalten und sogar ein Gedicht von mir auf Türkisch vortragen«, freut er sich. Noch im Irak, hat er in Bagdad englische Literatur studiert und darin promoviert.
Als ich ihn nach der Rolle der Briten frage – Mesopotamien war nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs am des Ersten Weltkriegs britisches Mandatsgebiet, erst 1959 verließen die letzten britischen Truppen das Land –, lächelt er vorsichtig über meinen Eifer. Ich äußere die Ansicht, es sei möglicherweise ein Fehler der Briten gewesen, die unterschiedlichen osmanischen Provinzen – Mossul (kurdisch), Bagdad (sunnitisch), Basra im Süden (schiitisch) – in einen neuen Einheitsstaat zu zwängen, der so nie existiert hat. Al-Azzawi weist darauf hin, dass in Städten wie Kirkuk die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen seit 1 400 Jahren relativ friedlich zusammengelebt hätten. Überhaupt scheinen die Zeiträume, in denen al-Azzawi denkt, andere Größenordnungen zu haben: Erbil, 200 Kilometer nordwestlich von Kirkuk, ist mit 7 000 Jahren menschlicher Besiedlung eine der ältesten durchgehend besiedelten Städte überhaupt.
Wenn man mit Fadhil al-Azzawi spricht, kommt man nicht umhin, traurig zu werden. Der Irak, den wir aus den Nachrichten kennen, ist eine Wüste voll Gewalt und Terror. Und hier tut sich eine Kultur auf, die in der Tagespolitik nie Erwähnung findet. Nur einmal glänzte etwas davon auf: In dem Bericht über die Plünderung des Bagdader Nationalmuseums, die von Anthropologen, Historikern und Kunstkennern aus aller Welt beklagt wurde.
Vielleicht hat das negative Bild des Irak auch dazu beigetragen, dass sich hierzulande so lange niemand für al-Azzawis 500seitiges Meisterwerk interessiert hat? Aber der Autor will sich gar nicht lange mit dieser Frage aufhalten. Ihn beschäftigt etwas anderes: »Ich könnte ja mal über meine Zeit in der DDR schreiben!« Ich erinnere ihn an das traurig-kuriose Buch »An Iraqi in Paris« des in Frankreich lebenden Exil­irakers Samuel Shimon – ein Freund von al-Azzawi, der die Zeitschrift Banapal herausgibt. Al-Azzawi ist Mitherausgeber. »Ja, ein Iraki in Berlin«, räsoniert al-Azzawi. »Ich habe so viel hier erlebt!«
In einem anderen Interview hat er mal von »den alten Männern in der DDR, die von der Macht nicht lassen konnten und ihr Land terrorisierten«, gesprochen, »auch mit ihrem intellektuell – wie ich finde – niedrigen Niveau«. Liebäugelte er denn damals mit dem Sozialismus? In »Der Letzte der Engel« gründet Hamid Nylon (diesen Spitznamen bekam er verpasst, weil ihm unterstellt wurde, der leichtfertigen Gattin eines britischen Öl-Magnaten nachzustellen) eine Gewerkschaft, versucht sich als Kommunist. »Da ist auch wieder einiges selbst Erlebtes dran«, verrät al-Azzawi. Und, ja, er habe auch ein Parteibuch besessen. Er war damals 18 Jahre alt und lebte im Königreich Irak unter dem von den Briten eingesetzten König Faisal II. Doch schon mit 22 Jahren – einem Alter, in dem andere erst anfangen, sich politisch zu engagieren – brach al-Azzawi wieder mit dem Kommunismus, ihm missfielen die Entwicklungen in der Sowjetunion. »Ich war dafür nicht gemacht.«
In »Der Letzte der Engel« beschreibt er augenzwinkernd, wie viele Kommunisten nur an der Revolution teilnahmen, wenn sie von Hamid bestochen wurden. Ob er sich denn seitdem eine Ersatzreligion gesucht hätte? Ist er überhaupt religiös? Fadhil al-Azzawi lächelt wieder milde, als hätte ich ihn etwas ganz Abwe­giges gefragt. Dann schüttelt er entschieden den Kopf: »Nein, nicht doch, ich betrachte Religion als etwas Historisches.« Dann beginnt er zu lachen. »Mein Sohn, er ist jetzt 35 Jahre alt, hat mich letztens am Telefon gefragt: ›Papa, sag mal, was sind wir denn eigentlich? Sunniten oder Schiiten?‹« Fadhil al-Azzawi grinst. »Wir wussten es beide nicht.« Dann fügt er noch an: »Ich habe dann mal nachgeschaut, auf dem Papier sind wir eben Sunniten.«

Fadhil Al-Azzawi: Der Letzte der Engel. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Doerlemann, Zürich 2014, 24,90 Euro