Alexander Bikbov im Gespräch über Meinungsfreiheit in Russland

»Angeblich von Feinden umzingelt«

Der Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo vor zwei Monaten löste auch in Russland Reaktionen aus. Die Jungle World sprach mit Alexander Bikbov über rechte Interpretationen, konservative Überreak­tionen und die Zustände in den russischen Medien. Bikbov ist Soziologe und beschäftigt sich als Forscher eingehend mit Fragen der Struktur öffentlicher Ordnung und mit gesellschaftlichen Bewegungen.

Die Reaktionen in Russland auf die Terroranschläge von Paris unterschieden sich in vieler Hinsicht von der Wahrnehmung dieser Ereignisse in Europa. Die russische Linke distanzierte sich größtenteils von Charlie Hebdo, weil die Zeitschrift nicht »links« sei. Der gesamtgesellschaftliche Diskurs und Medienberichte, egal welcher politischer Ausrichtung, bewegten sich auf der Ebene eines vermeintlichen Konflikts der Kulturen, Religionen und Zivilisationen. Es schien sich zu bestätigen, wovon die Mehrheit der russischen Bevölkerung ohnehin überzeugt war, nämlich dass eine liberale Herrschaftsform nichts Gutes verheißt. Wie erklären Sie sich das?
In der Linken gab es einzelne Solidaritätsaufrufe. Aber die Interpretation der Ereignisse als »Zivilisationskonflikt« und Aufrufe, Anhänger eines radikalen Islamismus nicht zu provozieren, bestimmten tatsächlich einen der Diskussionsstränge. In der Ausführung Linker scheint mir das besonders gefährlich zu sein, zeigt das doch, wie dominant rechtes Gedankengut heute in der russischen Gesellschaft ist. Wenn linke oder liberale Polemiker die ganzheitliche These vom Zivi­lisationskonflikt spontan aufgreifen, bedienen sie sich, ohne sich dessen bewusst zu sein, zentraler Begrifflichkeiten der extremen Rechten. Das lässt sich unschwer feststellen, aber nicht leicht erklären. Dafür bedarf es zunächst der Bestimmung, um welche Art von öffentlicher Diskussion es sich handelt; in dem Fall haben wir es mit einer hysterische und propagandistische Züge tragenden zu tun.
Am Tag der Pariser Tragödie nutzten Dutzende Publizisten und Kommentatoren diesen Anlass zur Begleichung ihrer Rechnung mit dem »wohlhabenden« und »lasterhaften« Europa, das russische Politiker regelmäßig für institutionalisierte Gewalt verurteilt, das die sogenannte Homoehe legalisiert und mit Wirtschaftssanktionen droht. In manchen Fällen gingen einst renommierte Medien sogar so weit, sowohl den Terroristen als auch den Karikaturisten die Bezeichnung als Mensch abzusprechen. »Europas Niedergang« wurde in den dunkelsten Farben geschildert. Vor diesem Hintergrund nahmen sich Aufrufe aus Teilen der Linken, sich der »andersartigen« islamischen Kultur mit Vorsicht zu nähern, geradezu pazifistisch aus.
Solidaritätsbekundungen mit Charlie Hebdo beschränkten sich in Russland auf wenige bescheidene Aktionen. Nach einer davon wurden erstmals Strafermittlungen wegen Verstoß gegen das Versammlungsrecht eingeleitet. Gleichzeitig ließen einige der regierungstreuen Medien verlauten, dass die Einwohner von Paris praktisch gezwungen gewesen seien, an der Großdemonstration im Januar teilzunehmen und die erste Ausgabe von Charlie Hebdo nach dem Anschlag zu kaufen. In St. Petersburg wurde eine Bloggerin kurzzeitig festgenommen, weil sie Informationen über eine Protestaktion im Nordkaukasus gepostet hatte. Ist der russische Staat ernsthaft beunruhigt?
Hier ist es angebracht, von zwei in Zusammenhang stehenden Prozessen zu sprechen, die jedoch unterschiedliche Ursachen haben: die von oben gesteuerte Propagandakampagne und der persönliche Kreativbeitrag einzelner Politiker und Journalisten. Bei aller Massivität und Effektivität sind die russische Propaganda und selbst Polizeiakti­vitäten seit 2012 nicht komplett offiziell abgesegnet. Im Unterschied zur Situation vor fünf Jahren, als üblicherweise zuerst führende Staatsvertreter die Linie vorgaben, die von den ausführenden Organen und Kommentatoren aufgegriffen wurde, ist heute eine andere Vorgehensweise üblich. Einem bestimmten Ereignis folgt zuerst eine ganze Salve aktionistischer Maßnahmen durch die lokalen Behörden, in denen sich völlig unterschiedliche Handlungsmotive widerspiegeln, etwa von konservativen Haltungen geprägte Überreaktion bis hin zu offen hysterischen jenseits jeglicher moralischer Vorstellungen. Erst danach treten führende Staatsvertreter oder ihre Bevollmächtigten mit abschwächenden Urteilen in Erscheinung, mit dem Hinweis, extreme Maßnahmen und Aussagen seien unerwünscht.
Die Distanzierung von radikalen rechten Positionen erlaubt ihnen, beim Abdriften nach rechts den Anschein zu wahren, sie positionierten sich in der Mitte. Das Signal von »oben« beinhaltete dieses Mal zudem den traditionellen Auftrag, jegliche Form gesellschaftlicher Mobilisierung von unten zu diskreditieren. Daher stammt auch die Behauptung, solidarische Aktionen in Russland und Europa seien manipuliert worden oder unfreiwillig erfolgt. Vermutlich haben die russischen Geheimdienste die Ereignisse von Paris von der technischen Seite einer eingehenden Analyse unterzogen und waren gezwungen, gewisse soziale Ri­siken unter neuen Gesichtspunkten abzuwägen. Ihre Schlussfolgerungen bleiben jedoch hinter verschlossenen Türen. Im Unterschied dazu lief die öffentlich gemachte Tagesordnung auf die Wiederherstellung und Festigung der moralischen Ordnung hinaus.
Die zuständige Aufsichtsbehörde warnte alle russischen Medien vorsorglich vor etwaiger Publikation von Mohammed-Karikaturen, dabei halten sich russische Zeitungen und Internetportale diesbezüglich ohnehin extrem zurück. Fällt das unter Selbstzensur oder lassen sich auch andere Gründe dafür feststellen?
Schon seit einigen Jahren schrumpft die Bewegungsfreiheit für russische Medien. Sie sind nicht nur dem vom Kreml direkt ausgeübten politischen Druck ausgesetzt, sondern auch dem für ganz Europa gültigen Diktat gesetzmäßiger Regulierungen und der Wirtschaftlichkeit. Das ist ein doppelter Druck, der sich durch die formale Verantwortlichkeit der Redaktion für Leserkommentare auf der Website von Zeitungen, durch die Forderung nach Rentabilität und systematische Einmischung der Kontrollbehörden in die Geschäftsroutine bemerkbar macht.
Dazu kommt, dass sich die Führungsriege einer Reihe bedeutender russischer Medien und ganzer Holdings seit 2012 erneuert hat und im Dezember 2014 bis zu 20 Prozent der festangestellten Journalisten entlassen wurden. Unter diesen Bedingungen, so traurig das auch ist, kommen klare politische Aussagen im Mediensektor einem Wirtschaftsrisiko gleich. Die beste Absicherung besteht in einer pragmatischen staatlich-privaten Partnerschaft: Staatliche Unternehmen decken das Finanzrisiko im Gegenzug für politische »Einsicht«, das heißt den Opportunismus der Redak­tion. Journalisten, die in der Mehrheit eine Familie zu versorgen und Kredite abzuzahlen haben, sind der doppelten Gefahr einer Entlassung oder Schließung ihrer Zeitung ausgesetzt. Das führt instinktiv zu Vorsicht und ausgeklügelter Selbstzensur.
Es ist kein Geheimnis, dass es mit der Meinungsfreiheit in Russland nicht zum Besten steht. Dabei entstehen immer neue Formen der Zurückhaltung. Ein Jahr nach der Performance von Pussy Riot verabschiedete die Duma ein Gesetz gegen die Beleidigung religiöser Gefühle. Was genau beleidigt russische Bürgerinnen und Bürger und wer fühlt sich beleidigt?
Die russische Gesetzgebung kennt keine Definition »religiöser Gefühle«. Bei einer Reihe aufsehenerregender Fälle stützte sich der Tatvorwurf auf die Aussagen einer oder zweier beleidigter Personen, beispielsweise eines Kirchenwächters oder Aktivisten einer fundamentalistischen orthodoxen Gruppe. Das ist insofern von Bedeutung, als vormals marginalisierte Fundamentalisten den Status von Experten ihrer eigenen Befindlichkeit zuerkannt bekamen. Zwar kann es durchaus Dissonanzen zu den kulturellen Vorlieben der Mehrheitsgesellschaft geben, dennoch tragen die »beleidigten« Akteure zur Legalisierung politischer Willkür bei. Heute kann zu jedem Prozess ein Fundamentalist herangezogen werden, dessen Befindlichkeit durch eine politische Aktion, ein Kunstprojekt oder eine Frau in Jeans beeinträchtigt ist.
Neben dem Gesetzgeber, der nebenbei öffentliche Diffamierungskampagnen gegen Atheisten, Feministinnen und Homosexuelle in Gang bringt, legen die neuen Helden zahlreicher Gerichtsreportagen eine viel allgemeiner gehaltene Frustration an den Tag. Sie übersetzen die durch die Wirtschaftskrise, berufliche Instabilität und allgemeine Herabsetzung der Lebensqualität entstandenen Verluste von der Sprache sozialer Unzufriedenheit in die Sprache moralischer Brückenpfeiler. Das unterdrückte innenpolitische Leben kanalisiert sich immer deutlicher hin zum Widerstand gegen existentielle Bedrohungen von außen und innere Feinde, die immer von den äußeren gekauft sind. Dieses Modell hat sich zu Sowjetzeiten bewiesen während diverser Kampagnen gegen »heimatlose Kosmopoliten«, Abweichler von den »Normen des Sozialismus« und dergleichen mehr.
Heute ist es auf die Bedürfnisse der orthodoxen Kirche zugeschnitten, die einen wichtigen Beitrag zur Vorstellung beigetragen hat, Russland sei von Feinden umzingelt. Öffentliche Debatten sind von einem beleidigten Tonfall und vorwurfsvoller Aggression geprägt. Es wäre übertrieben zu sagen, dass die russischen Bürger im Jahr 2015 mehr Anlässe fänden, beleidigt zu reagieren, als 1995. Allerdings sind wir viel häufiger gezwungen, auf diese von einer »beleidigten« Grundhaltung geprägte Tagesordnung zu reagieren, die nichts anderes darstellt als eine Abwehr gegen eine eindringliche und kritische Betrachtung jener Mechanismen sozialer Ungleichheit, mit der wir es in der russischen Gesellschaft heute zu tun haben.